Blitzgescheit (V2)

Tunix

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Alles hier war viel zu hell, es hätte dunkel sein müssen als ich die Augen wieder öffnete. Die Hand, die sie mir hinhielt hatte wohl eher symbolischen Charakter. Die Dame schien gerade kräftig genug, sich selbst auf den Beinen zu halten. Ich griff dennoch danach und stand langsam auf. Meine Hose klebte an den Beinen, Mein Mantel war ruiniert und mein Hemd noch feucht. Ich erinnerte mich an den Regen der letzten Nacht, an das Gewitter, an den grellen Blitz und den kurzen Schmerz. Danach erinnerte ich mich an nichts mehr.

„Du bist in Genf, du bist gestern angereist, du wohnst im Hotel, Klimakonferenz, Vortrag um vierzehn Uhr.“ Ich sortierte meine Welt und scheiterte an der Einsortierung des Blitzes, der darin eingeschlagen hatte. Irgendwas hatte der ausgelöst, etwas, das ich nicht fassen konnte, weil es größer war als meine Welt von gestern.

Die Dame fragte auf Französisch, ob es mir gut gehe. Ich bestätigte ihr das in ihrer Sprache und durch Kopfnicken. Ich hatte noch nie wirklich Französisch gesprochen, unter der letzten Französischarbeit meines Schullebens hatte „traumhaft“ als Kommentar gestanden und die Lehrerin hatte mir nahegelegt, meine Unlust in einem anderen Kurs auszuleben. Jetzt sprach ich es fließend. Ich dankte ihr und hätte sie beinahe namentlich verabschiedet aber das hätte sie wohl eher verunsichert als erfreut. Gestern Abend hatte ich die Orientierung verloren, heute wusste ich genau, wo ich war, wo ich lang musste, kannte jedes Haus und jede Geschichte, die sich hinter seinen Mauern abgespielt hatte. Jeden der Umstehenden hätte ich mit Namen begrüßen können, weil ich sie alle kannte, obwohl ich sie gerade zum ersten Mal sah.

Es war nach elf und zu spät für ein Hotelfrühstück als ich wiederhergestellt in der Bäckerei stand und meine abgezählten Münzen auf der Theke platzierte. Den fragenden Blick der Verkäuferin beantwortete ich mit einer Entschuldigung und meiner Bestellung. Als ihre Kasse den überreichten Betrag errechnete, hätte ihr Blick nicht misstrauischer ausfallen können. „Glückstreffer“, log ich und setzte ein Lächeln auf, erhielt aber keins zurück.

Ich wollte Katja anrufen und ihr erzählen, was mir passiert war. Es erschien mir allerdings unmöglich, ihr am Telefon begreiflich zu machen, dass ich heute auf der Straße aufgewacht und über Nacht mit einem allumfassenden Wissen ausgestattet worden war. Und ich hätte es ihr in jeder Sprache erzählen können. Sie würde mich für betrunken halten oder für verrückt erklären. Ich beließ es bei meiner täglichen SMS und würde sie am Abend anrufen.

Mein Vortrag erschien mir stümperhaft und ohne jede Sorgfalt erstellt als ich ihn noch einmal durchging. Ich warf das Manuskript in den Papierkorb und entschied mich für einen freien Vortrag. Dass der Gletscher auf der Zugspitze innerhalb von gut hundert Jahren auf ein Sechstel seiner Größe geschrumpft war, mochte spektakulär klingen, war aber keine Ausnahme. Heute wusste ich, was wir bis gestern nur anhand von Bodenproben, Ausgrabungen und Berechnungen hatten belegen können.

Ich zählte die Gletscher mit den dramatischsten Entwicklungen auf und fügte hinzu, wann welche Arten aussterben würden, wenn diese Entwicklungen anhielten. Gelegentliches Kopfnicken und tippende Finger derer, die scheinbar nachrechneten, was ich gerade behauptet hatte, waren die einzigen Reaktionen auf meine Ausführungen. Ein paar ausgetauschte Blicke ließen mich vermuten, dass ich es mit den auswendig vorgetragenen Zahlenkolonnen übertrieb. Ich musste nichts ausrechnen, weil ich alles wusste, es war einfach da. Alles sprudelte aus mir heraus. Noch während es sprudelte überfiel mich die Erkenntnis, die mir der Blitz vorenthalten hatte, dass all das Wissen nichts nützte, weil es mir nur gewiss machte, was die meisten ohnehin ahnten – und ignorierten.

Etwas zu wissen, ist kein Beweis. Ein Amerikanischer Kollege erinnerte mich daran, indem er nach meinem Vortrag einwarf, die globale Erwärmung könne auch durch die Sonne verursacht werden. Er berief sich auf seine letzte Studie, die Temperaturen an den Polen mit denen am Äquator verglich.

„Ist das die Studie, für die Ihnen die Southern Corporation etwas mehr als sechzigtausend Dollar gezahlt hat? Haben Sie einfach vergessen, dieses Detail zu erwähnen oder ist das jetzt nicht mehr üblich?“ Mein Versuch, freundlich zu bleiben, scheiterte schon im Ansatz. Der Kerl hatte über Jahre Millionen unter anderem von Energiekonzernen kassiert. Unter seinen Förderern waren so unverdächtige Namen wie Exxon Mobil und auch die heimische RWE AG zitierte ihn gerne.

Die verhaltenen Lacher, die ich erntete, kamen von denen, die nicht befürchten mussten, selbst entlarvt zu werden.
„Ich habe nichts dagegen, dass sie so fleißig Drittmittel sammeln aber das Spiel das Sie spielen, ist so alt wie hinterhältig. Sie sähen Zweifel, wo es einem Normalsterblichen gar nicht möglich ist, Beweise zu erbringen. Und wenn es Beweise gibt, zweifeln Sie auch die an. Der einzige Beweis, den Sie und Ihre Geldgeber für die Zerstörung der Welt zulassen würden, ist die zerstörte Welt selbst.“

Ich schloss meinen Vortrag, entschuldigte mich für das unvollständige Manuskript und versprach, ein überarbeitetes zu verteilen. Ich diktierte es auf der Rückfahrt, die ich vorverlegt hatte, weil ich Katja wiedersehen wollte. Mein Sitznachbar sah mich mit offenem Mund an, nachdem ich die Daten von mehr als einem Dutzend Gletschern diktiert hatte. Ich konnte mir das Grinsen nicht verkneifen. Dieses Wissen hatte auch seine amüsanten Seiten.

Mein Manuskript enthielt mehr Fakten als ich in einem ganzen Leben hätte zusammentragen können. Die Reaktionen waren ernüchternd. Meine Zahlen und Behauptungen wurden in Frage gestellt, weil sie zwar schlüssig aber nicht beweisbar waren. Als stünden wir noch immer vor einer weißen Wand aus Unwissen über die Natur und den Einfluss des Menschen auf sie. Konzerne bezahlten weiterhin Studien und Regierungen beriefen sich darauf. Zweifel wurden in die Welt gesetzt und reichten aus, damit die Mehrheit der Menschen glaubte, nichts an ihrem Verhalten ändern zu müssen.

Ich ging zu einem Juwelier und beschrieb ihm solange den Ring, den sich Katja so wünschte und von dem sie mir nie erzählt hatte, bis er eine – nach meinen Maßstäben – perfekte Zeichnung davon angefertigt hatte.
„Machen Sie zwei davon, das werden unsere Eheringe.“
Der Antrag war nicht weniger aufregend, nur weil ich die Antwort kannte.
Den Wunsch nach Kindern musste ich ihr nicht ausreden. Die Welt, in der sie leben müssten, wünscht man niemandem.
 



 
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