Bo

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Rafi

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Bo

An dem, was nun passieren wird, trägt Teresa ganz allein die Schuld. Ein Wort von ihr hätte genügt, eine Geste, ein Lächeln – und alles wäre gut gewesen. Aber sie meint ja, sie könne mit mir spielen. Seit Monaten tut sie, als wolle sie mich nicht sehen. Sagt, ich sei ihr lästig, ich ängstige sie. Ich solle sie in Ruhe lassen und aus ihrem Leben verschwinden. Sie macht das gut, das muss ich zugeben. Jemand, der nicht eingeweiht ist, der die Regeln nicht kennt, könnte glauben, sie meine es ernst. Ich aber weiß es besser. Ich kenne sie. Reizen will sie mich bis aufs Äußerste. Will, dass ich verzweifel und vor Sehnsucht vergehe. Tag für Tag verlangt sie neue Beweise für meine Standhaftigkeit. Ich gebe sie ihr. Tag für Tag. Alles, wirklich alles habe ich getan, ihr zu zeigen, dass ich sie liebe. Und dass sie mich liebt. Warum gibt Teresa das nicht endlich zu? Wie weit will sie ihr Spiel denn noch treiben? Zappeln lässt sie mich, hat mich längst am Haken und schenkt mir keine Erlösung. Heute Nacht aber wird sie erkennen, wie groß meine Liebe wirklich ist – und wie groß die ihre zu mir. Heute Nacht werde ich diesen Bo davonjagen, ihm ein für allemal klarmachen, dass er nichts mehr in Teresas Leben zu suchen hat und er unser Zusammensein nur stört. Oder ich werde ihn töten. Wenn er uneinsichtig ist und stur, dann werde ich ihn töten. Für Teresa. Für uns.
Ab und zu sehe ich Teresas Schatten hinter ihrem Fenster. Vielleicht ist es auch Bos Schatten, der das freundliche Rechteck dort immer wieder verdunkelt. Es regnet zu stark, darum kann ich keine Einzelheiten erkennen. Ich wische mir den Regen aus den Augen und denke: Bald wirst du keine Schatten mehr werfen, du, Bo. Nicht aus dem Fenster und nicht auf mein Leben.
Ich drücke mich dichter an die Hauswand; sie sollen mich nicht entdecken, noch nicht. Mein Nacken schmerzt, weil ich die ganze Zeit nach oben starre. Zum Fenster, aus dem das Licht zu mir auf die Straße fällt, golden und warm. Hier unten im nassen Schatten bin ich unsichtbar. Gut so.

Vor acht oder neun Wochen war’s, auch eine Nacht, aber eine hellere, da hatte sie mich entdeckt. Ans Fenster war sie gekommen, hatte den Vorhang zur Seite geschoben und mich angesehen. Gelächelt hatte sie dabei, da bin ich sicher. Und dann war sie runter zu mir gekommen, hatte sich vor mir aufgebaut, ganz ohne Lächeln, und geschrien. Ich solle aus ihrem Leben verschwinden und dass sie nichts von mir wissen wolle. Ihre Augen aber hatten ihre Worte Lügen gestraft. Geblitzt hatten sie und mich schelmisch gemustert. Ein herrliches Theater. Sie konnte spielen, ja das konnte sie von Anfang an.
„Gib doch endlich zu, dass du mich liebst“, hatte ich gesagt. „Du und ich, wir gehören doch zusammen. Wir wissen es doch beide. Du und ich.“
„Ich kenne Sie nicht!“, hatte sie geschrien. „Warum verfolgen Sie mich, was wollen Sie von mir?“
Ich musste lachen. „Was ich von dir will? Ach, Teresa, doch nichts anderes als das, was du von mir willst. Dass du dein Leben mit mir teilst will ich – so, wie ich meines mit dir teilen will. Wir sind doch füreinander geboren, wir gehören doch zusammen!“
„Sie Spinner! Ich will mein Leben, mein eigenes Leben. Ich will, dass Sie verschwinden!“
Sie war aufregend, wenn sie dieses Spiel spielte. Oh ja, sie konnte wirklich zornig gucken. Und ganz wunderbar ihre Fäuste, diese niedlichen kleinen Fäuste, ballen. Manch einer wäre überzeugt gewesen von ihrem Ausbruch. Aber ich fiel nicht darauf herein. Nicht auf ihr „Sie“ und nicht auf ihre gespielte Wut.
„Teresa, ach, Teresa“, sagte ich. „Meinst du nicht, dass es langsam genug ist? Komm schon, lass mich rein. Wir trinken etwas zusammen und reden.“
„Gehen Sie! Lassen Sie mich in Frieden! Wenn sie mich weiter verfolgen, rufe ich die Polizei!“
Sie rannte zurück ins Haus, ließ mich stehen. Wandte sich ab wie von einem Fremden, dem man keine Beachtung schenken muss. Gab mir das Gefühl, als wäre ich ein hässliches Möbelstück, das in keine Wohnung passt.
Nun gut, dachte ich. Dann spielen wir eben noch ein bisschen weiter. Aber ich spürte da schon, dass langsam ein kleiner Ärger in mir keimte. Geduld ist ja wie ein Gummiband: Man kann es beinahe endlos dehnen. Aber irgendwann reißt es doch …

Ich zünde mir eine Zigarette an und decke sie mit der Hand gegen den Regen ab. Der Rauch beruhigt mich ein bisschen. Ich bin aufgeregt. Ich frage mich, wie lange ich warten soll. Ich möchte nicht, dass sie schlafen, wenn ich vor ihnen stehe. Nein, ich möchte ihre Gesichter sehen. Teresas Lächeln und Bos Entsetzen. Heute Nacht wird sie erkennen, was sie an mir hat. In meiner Magengrube kribbelt es bei der Vorstellung, wie es sein wird, wenn sie mich endlich zum ersten Mal umarmt. Fast glaube ich, ihre Lippen auf meinen zu spüren. Bestimmt schmeckt ihr Kuss nach Erdbeeren. Ihr Mund sieht aus, als schmecke er nach Erdbeeren.
Ich ziehe den Rauch noch tiefer ein, der letzte Zug, dann schnippe ich die Kippe in den Regen. Teresa raucht nicht. Das könnte später noch zu einem Problem werden. Sie muss es wohl akzeptieren. Jedenfalls habe ich nicht vor, es mir abzugewöhnen. Überhaupt wird sie hier und da ein bisschen mehr Rücksicht nehmen müssen. Vor allem, was ihre Widerspenstigkeit betrifft. Da muss sie sich zurücknehmen. Aber ich mache mir keine wirklichen Sorgen darum. Wenn wir erst zusammen sind, wird sie schon geschmeidig werden. Ganz sicher. Sie will ja auch keinen Streit.
Ich blicke die Straße entlang. Alles liegt ruhig, kaum ein Auto fährt. Schon wieder kribbelt es in meinem Bauch, diesmal aber unangenehm. Ich erinner mich daran, wie sie es einmal auf die Spitze getrieben hat. Gar nicht so lange her, da rief sie aus einer frechen Laune heraus tatsächlich die Polizei. Wohl um ihrem Spiel eine pikante Note hinzuzufügen.

Eine schwüle Nacht war’s, als ein Streifenwagen vor mir hielt. „Uns liegt eine Beschwerde über Sie vor“, meinte der Polizist und ließ sich meinen Ausweis zeigen. „Sie belästigen eine junge Dame.“
Ich war verwundert und fragte, wen ich denn bitte belästigen sollte und wer sich beschwert hätte.
Der Polizist ging gar nicht auf mich ein, wollte nur wissen, warum ich stundenlang da auf der Straße stände und ob ich nichts Besseres zu tun hätte.
Zuerst dachte ich wirklich, irgendein dummer Nachbar hätte mich bemerkt und aus Angst oder Sorge oder aus was weiß ich für abstrusen Gründen die Polizei gerufen. Aber dann ahnte ich doch, dass es Teresa gewesen war. So eine kleine Teufelin, hatte ich bei mir gedacht und unwillkürlich gelächelt. Raffiniert, raffiniert. „Es ist nicht verboten, soviel ich weiß“, antwortete ich freundlich. „Dies hier ist ein öffentlicher Bürgersteig. Darf man denn hier nicht stehen?“
„Wir behalten sie im Auge“, meinte der Polizist. „Machen Sie keinen Ärger. Gehen Sie nach Hause. Noch eine Beschwerde, und wir nehmen Sie mit!“
Das war das einzige Mal, dass Teresa die Polizei gerufen hat. Ich nehme an, sie hat selbst bemerkt, dass das des Guten zu viel war …

Seit einer ganzen Weile regt sich nichts mehr hinter dem Fenster. Aber das Licht brennt. Teresa und dieser Bo sind also noch nicht schlafen gegangen. Jetzt kann ich es wagen, die Straße zu überqueren. Das kleine Vordach über der Haustür schützt mich ein wenig vor dem Regen. Teresa weiß nicht, dass ich einen Schlüssel besitze. Ich hatte immer gehofft, dass ich ihn nicht brauchen würde. Dass Teresa mich von sich aus in die Wohnung lässt. Aber sie ist ja so stur! So verspielt! Also muss sie jetzt die Konsequenzen tragen. Ich werde sie überraschen. Sie und Bo, der dann kein großes Theater machen sollte. Nicht, wenn er keinen Ärger will.
Ich kenne Bo nicht persönlich. Weiß nur von ihm, weil Teresas Arbeitskollegin Amelie so mitteilungsfreudig ist. Wenn sie einmal anfängt zu reden, kann man sie kaum stoppen. Lästig. Wirklich aufdringlich. Und dumm. Für mich aber natürlich vorteilhaft, so eine Klatschbase als „Verbündete“ zu haben.

Nachdem ich Teresas Gewohnheiten einige Wochen lang studiert hatte, um sie besser kennenzulernen, beobachtete ich Amelie. Eine unangenehme, dicke Person mit einem opulenten Haarzopf. So derb, so grob – und so dankbar für ein charmantes Lächeln, ein kleines Gespräch.
Mehrmals am Tag stampfte Amelie in ein Schnellrestaurant. Und das, obwohl sie doch im Krankenhaus, wo sie und Teresa arbeiteten, umsonst ihr Essen bekam. Aber das genügte Amelie offensichtlich nicht. Jemand wie sie stopft alles in sich hinein und saugt alles in sich auf, dessen sie habhaft werden kann. Hamburger oder Aufmerksamkeit – für Amelie machte das keinen Unterschied.
Normalerweise folgte ich Teresa in ihrer freien Zeit zu ihrer Wohnung. Dort blieb sie manchmal, wenn sie zwischen zwei Dienstschichten länger Pause hatte, ehe sie wieder das kurze Stück zurück in die Klinik fuhr. Eines Mittags folgte ich nicht ihr, sondern Amelie. Ich setzte mich zu ihr an den Tisch und begann ein freundliches Gespräch. Ihre anfängliche Verwunderung darüber wich rasch einer übergroßen Freude. Es passierte ihr sicher nicht oft, dass sich ein Mann zu ihr setzte und sein Interesse bekundete.
Darum war es auch leicht für mich, ihr Vertrauen zu gewinnen. Drei, vielleicht vier Mal trafen wir uns „ganz zufällig“ zum Essen. Ihre Augen wurden jedes Mal größer, wenn sie mich erblickten. Zunächst sprachen wir nur über Belangloses, dann wurde ich konkreter: „Wo arbeiten Sie eigentlich, Amelie?“
„Ach, drüben im Krankenhaus“, antwortete sie und biss in ihren Fleischklops. Verlegen wirkte sie dabei.
Ich aber setzte eine bewundernde Miene auf, lächelte. „Oh, Sie sind Ärztin?“
„Ach was, nein.“ Sie winkte ab und blickte nicht auf. „Krankenschwester bin ich. Ein kleines Lichtlein.“
Natürlich begann ich sofort zu schwärmen. Wie wertvoll ich den Beruf einer Krankenschwester fände, erzählte ich ihr, geradezu heroisch, wie eine Krankenschwester sich für die Gesundheit, für das Leben anderer einsetzte. In den höchsten Tönen lobte ich ihren Beruf, erhob ihn zur Berufung, fand kaum Worte für meine Bewunderung. „Sie sind ein Engel“, schloss ich meine Eloge. „Sie und Ihre Kolleginnen, Amelie, sind wahre Heldinnen!“
Ihre feisten Wangen röteten sich. „Ach was, wir machen doch nur unseren Job. Stimmt schon, leicht ist das meistens nicht. Vor allem, weil wir ja immer weniger Personal sind. Aber die Arbeit, wissen Sie, die Arbeit wird ja nicht weniger. Nur das Personal.“
„Wieviele Schwestern arbeiten denn auf Ihrer Station?“
„Immer zwei in einer Schicht. Ich hab meistens zusammen mit meiner Kollegin Teresa Dienst.“
„Ah, Ihre Kollegin. Sagen Sie, Amelie, ich habe Sie noch nie mit ihr hier gesehen. Warum verbringen Sie Ihre Pausen nicht zusammen?“
Sie winkte wieder ab. „Ach, Teresa. Wissen Sie, sie ist nett, ja, wirklich. Aber außerhalb unserer Schicht kennen wir uns eigentlich gar nicht. Irgendwie ist sie komisch. So ganz eigen.“
„Das verstehe ich nicht“, tat ich verwundert. „Mit jemandem wie Ihnen möchte doch jeder befreundet sein!“
Amelie machte ein verdrießliches Gesicht, wobei sich ihre feisten Wangen schier über ihre Augen schoben. „Na, Sie tun ja gerade so, als wenn ich was Besonderes wäre“, grunzte sie. „Die Teresa, die ist ein bisschen komisch, wie gesagt. Meint immer, sie müsse sich um ihren Bo kümmern. Bo hier und Bo da. Für etwas anderes hat die doch gar keinen Kopf! Und jetzt frage ich Sie: Was ist das denn überhaupt für ein Name, Bo?“
Ich mutmaßte, dass Bo vielleicht eine Abkürzung für Boris sei oder für Bodo.
„Ja, vielleicht“, meinte Amelie, „aber sie redet immer nur von Bo. Wenn ich sie frage, ob wir die Pause zusammen verbringen sollen, sagt sie, sie müsse das Essen für Bo fertig machen. Und will ich mich mal nach Feierabend mit ihr verabreden, meint sie, sie könne Bo nicht so lange alleine lassen. Wenn Sie mich fragen, dieser Bo ist ein richtiger Tyrann. Einer, der seine Frau an der kurzen Leine hält. Aber an der ganz kurzen! Lebt ja wie in ’nem Zwinger, die Teresa. Kein Wunder eigentlich, dass sie da so komisch ist …“

Ich hasse Bo. Mit der gleichen Leidenschaft, mit der ich Teresa liebe, hasse ich Bo. Er hält sie gefangen, sie ist seine Sklavin. Das hat sie doch gar nicht nötig. Aber ich werde sie aus ihrem Martyrium befreien. Die Leine, die ganz kurze, werde ich durchtrennen. Sie wartet ja darauf, sehnt sich danach. Nach mir. Heute Nacht soll es sein. Zeit wird es ja. Ein paar Augenblicke noch, Teresa, dann jage ich ihn davon, diesen Bo. Mit Schimpf und Schande, und wenn es sein muss, mit Schlägen oder mit mehr. Das Messer in meiner Tasche fühlt sich gut an.
Alles ist still. Nur der Regen rauscht und webt einen Schleier, er ist mein Verbündeter in dieser Nacht. Ich schließe die Haustür auf, das Schloss klemmt ein bisschen. Macht Zicken. Die Tür schleift über die tiefroten Fliesen. Leise öffnet sich der Hausflur vor mir. Ich warte einen Moment, bis ich die Treppe vor mir im Dunkel erkennen kann. Vorsichtig gehe ich die Stufen nach oben. Wie ein Bergsteiger, der ein unsicheres Terrain erkundet. Gleich kommt der Schlüssel wieder zum Einsatz. Es ist so einer, der sowohl in die Haus- als auch in die Wohnungstür passt. Praktisch. Unvorsichtig.

Ich hatte eine List anwenden müssen, um an den Schlüssel zu kommen. Ich wusste ja: In einem großen Krankenaus fällt man nicht auf, wenn man sich ruhig verhält. Wenn man mal hier, mal da über die Flure läuft oder in einem der Aufenthaltsräume sitzt. Die Anonymität zwischen all den Schwestern, Ärzten, Pflegern, Patienten und Besuchern umhüllt einen wie tiefes Wasser einen Taucher. Und dann bedarf es nur noch einer günstigen Gelegenheit.
Die bot sich mir rasch. An einem Morgen, an dem zwei Notfälle gleichzeitig auf Teresas Station eintrafen. Plötzlich rannte alles umher, bereitete vor, weckte Chirurgen. Da bemerkt natürlich keiner den einen, der ins Schwesternzimmer huscht. Einen Spind nach dem anderen öffnet. Teresas Spind war schnell gefunden; ich kannte ja ihre Handtasche. Ein Leichtes war’s, den Schlüssel zu nehmen und Abdrücke davon in feste Knetmasse zu machen. Den Nachschlüssel stellte ich später selbst her. Gelernt ist gelernt …

Millimeter für Millimeter schiebe ich den Schlüssel ins Loch. Zahn um Zahn. Langsam, geduldig. Ein Genuss. Ich halte den Atem an. Höre meinen eigenen Herzschlag. In meiner Magengrube glimmt es. Angestrengt lausche ich; in Teresas Wohnung ist alles still. Sie wird überrascht sein. Aber sicher erfreut. Gleich wird sie wissen, dass ich die Spielregeln, ihre Spielregeln, beherrsche. Ich habe Ausdauer bewiesen. Bis jetzt. Bis zum Schluss. Am guten Ende.
Ob sie Bo selbst sagen wird, dass seine Zeit jetzt gekommen ist und er gehen soll? Vielleicht überlässt sie es auch mir. Egal, mir soll’s recht sein. Hauptsache, er räumt das Feld. Ohne Theater. Natürlich werde ich freundlich sein. Das bin ich immer. Aber auch bestimmt. Ich weiß ja, was ich will. Für Zögern ist da kein Platz. Ich weiß auch, was Teresa will: mich! Wir wissen es beide, nur hat sie’s bisher noch nicht zugegeben. Aber gleich wird sie Farbe bekennen müssen. Aus ist’s mit dem Spiel. Höchste Zeit, alle Masken abzunehmen. Sie hat es ja nicht anders gewollt. Von Anfang an hat sie’s darauf angelegt.

„Danke, sehr freundlich von Ihnen.“ Sie lächelte mich an, als ich den Kugelschreiber aufhob, der ihr zu Boden gefallen war. Ich wusste gleich, dass dies keine Ungeschicklichkeit gewesen war; sie wollte mich prüfen, wollte feststellen, ob sie einen Gentleman vor sich hatte.
„Bitte, sehr gerne“, hatte ich geantwortet und überrascht den Blick aus ihren türkisfarbenen Augen registriert. Ein Blick war’s, der einen fesselt. In den man hineinfällt und der einen umhüllt, sodass alles andere verschwimmt. Forschend und wissend, ergründend, verratend, überzeugend. Ganz ohne Worte kommt so ein Blick aus, wenn er sagt: „Auf dich habe ich gewartet. Du gehörst mir, wir gehören zusammen. Von nun an trennt uns nichts mehr.“
Eine Sekunde lang berührten sich unsere Finger, als ich ihr den Stift gab. Diese Sekunde bestätigte alles, was der Blick hatte ahnen lassen, denn sie dehnte sich zur Ewigkeit. Dieser Moment hatte die Kraft, einem ganzen Universum eine neue Richtung zu geben. Abertausende Dinge nahmen gleichzeitig ihren Lauf. Eine winzige Berührung nur, von Teresa provoziert, die wie ein schwarzes Loch im Weltall war: ein Pünktchen, kaum größer als ein Stecknadelkopf, das alle Materie, selbst alles Licht, unaufhaltsam zu sich zieht und verdichtet und vereint. Es war der Augenblick, in dem wir uns ineinander verliebten. Der Urknall.
„Schwester … Schwester Teresa“, las ich auf dem Namensschild auf ihrer Brust. „Es ist wunderbar. Ganz wunderbar!“
Sie schaute mich an und begann ihr Spiel, tat irritiert. „Wie bitte? Äh … kann ich Ihnen helfen, suchen Sie jemanden?“
Nein, ich suchte niemanden. Hatte nur jemanden besuchen wollen. Dina. Doch hatte die einen Aufruhr veranstaltet, als ich, einen Strauß Blumen in der Hand, ihr Zimmer betrat. Geschrien hatte Dina und um Hilfe gerufen, wäre trotz ihres gebrochenen Armes und der Gipsschale, in die gebettet ihre gebrochene Hüfte lag, beinahe aufgesprungen.
Dass sie sich doch beruhigen solle, hatte ich gebeten und ihr gesagt, die Aufregung täte ihr sicher nicht gut. Sie aber hatte sich gar nicht mehr unter Kontrolle gehabt, hatte mich „Monster“ geschimpft und „Schwein“.
„Jetzt gib bitte nicht mir die Schuld, Dina.“ Ich war trotz allem immer noch freundlich geblieben. „Du weißt, an dem, was passiert ist, trägst ganz allein du die Schuld. Ein Wort von dir hätte genügt, eine Geste, ein Lächeln – und alles wäre gut gewesen. Aber du meintest ja, du könntest mit mir spielen.“
„Raus! Raus hier!“, hatte sie geschrien und dass ich sie endlich in Ruhe lassen solle.
Freundlich legte ich die Blumen auf das Schränkchen neben ihrem Bett, und als ich ihr einen Kuss geben wollte, explodierte sie förmlich. Mit einer Mischung aus schreien und keuchen zappelte sie, drückte sich tiefer in die Kissen, machte ein auf eine Mitleid erregende Art entsetztes Gesicht und hyperventilierte wie ein Fisch, der, seiner natürlichen Umwelt entrissen, sich unversehens auf einer harten Kaimauer wiederfindet.
Ich dachte, dass es das Beste sei, Dina erst einmal in Ruhe zu lassen. „Man sieht sich“, sagte ich lächelnd und ging. Zwar verärgerte mich ihre Hysterie ein bisschen, aber ich schluckte meinen Zorn. Vorerst …

Ohne jedes Geräusch öffne ich die Tür. Lausche. Nichts. Geschmeidig winde ich mich in den kleinen Flur, von dem links und rechts je zwei Türen abgehen. In einem der hinteren Räume, ich bin sicher, es ist das Wohnzimmer, brennt Licht. Jenes Licht, welches ich so oft schon unten auf der Straße gesehen habe. Warm, gütig, einladend.
Ich wage kaum zu atmen. Sitzt Bo mit dem Gesicht zur Tür, sodass er mich sofort bemerkt, wenn ich eintrete? Oder wendet er mir den Rücken zu? Vielleicht ist er ein Hüne, der nach einer Schrecksekunde brüllend auf mich zurast; vielleicht ein Zwerg, der sich hinter Teresas Rockzipfel versteckt. Stark, schwach, mutig oder feige – gleich werde ich es wissen. Vorsichtshalber nehme ich mein Messer aus der Tasche und klappe es auf. Er soll gar nicht erst auf dumme Gedanken kommen …

Vom ersten gemeinsamen Atemzug an hatte ich es gewusst: Teresa war der Grund meines Daseins, war mein Sinn auf dieser Welt. Die Essenz alles Guten, das Licht, die Wärme, war Liebe, wie sie einst vom Schöpfer selbst erdacht worden war.
„Ich habe gefunden, was ich jemals suchte“, hatte ich gesagt und beseelt gelächelt.
„Wie bitte?“ Ach, wie wundervoll unwissend sie tun konnte!
„Schwester Teresa – Teresa … wann ist dein Dienst hier beendet?“
Sie musterte mich, prüfte. „Geht es Ihnen gut?“
„Es ging mir nie besser! Sag, wann können wir uns sehen? Heute Abend, ja? Wann soll ich dich abholen?“
Sie wich einen Schritt zurück. So kokett. „Ich glaube, es ist besser, wenn Sie jetzt gehen.“
„Ja. Ja, natürlich! Du musst noch arbeiten, das verstehe ich. Sag mir nur, wann ich dich abholen soll.“
„Sie sollen mich gar nicht abholen!“ Herrlich, ihr „Ja“, das sie so kunstvoll in ein „Nein“ verpackte wie ein Geschenk. „Gehen Sie jetzt, sonst rufe ich ein paar Pfleger!“
Ich ließ mich auf ihr katzenartiges Spiel ein. Wurde zum Kater, den die willige Gefährtin anfaucht und beißt, ehe sie sich ihm hingibt.
„Ja, Teresa, meine Teresa ich gehe. Ich warte unten vor dem Krankenhaus auf dich. Bis später! Bis später! Ich warte …“

Ich glaube, jetzt habe ich lange genug gewartet. Eine Liebe, die so groß ist wie unsere, sehnt sich irgendwann nach Erfüllung. Heute Nacht wird Teresa einsehen, dass sie es ein bisschen übertrieben hat. Mich so auf die Folter zu spannen, das war wirklich nicht sehr nett von ihr. Reizvoll am Anfang, ja, das schon. Aber irgendwann muss auch mal etwas von ihr kommen. Ein Wort, eine Geste, ein Lächeln – und alles wäre gut gewesen. Teresa weiß einfach nicht, wann sie den Bogen überspannt hat. Zeit, es ihr klarzumachen.
Einen Schritt wage ich mich vor, zwei. Der Läufer auf den weißen Fliesen schluckt das Geräusch meiner Schritte. Ich bemerke eine Art Murmeln. Es kommt aus dem Wohnzimmer. Teresa sagt etwas, ganz leise. Sie redet mit Bo. Aber so, dass keine einzelnen Worte zu verstehen sind. Er antwortet nicht. Stoffel, ungehobelter!
Wenn ich gleich vor ihnen stehe und die erste Überraschung verflogen ist, wird sie ihm sagen, dass er verschwinden soll. Freundlich, wie ich hoffe. Aber bestimmt. Sie wäre ja auch schön dumm, täte sie es nicht. Schließlich wartet sie ja darauf, dass ich sie von der Schlinge befreie, die Bo ihr um den Hals gelegt hat. Natürlich hat sie nicht gesagt „Hol mich raus aus dieser unsäglichen Beziehung, ich ertrage Bo nicht länger“. Nein, das nicht. Aber Andeutungen hat sie gemacht, Zeichen gegeben. Untrügliche Zeichen. Ich habe sie erkannt. Sonst wäre ich ihr ja auch nicht monatelang hinterhergelaufen wie ein beklagenswerter Hund. Sonst hätte ich mich ja nicht so demütigen lassen und veralbern. Ich meine, man ist ja Mensch, das ist man ja. Man hat ja ein Herz. Aber man muss aufpassen, was man damit anstellt. Dass es nicht zu Stein wird.

Ich hatte wirklich ein schlechtes Gewissen, als ich den Reifen ihres Autos mit meinem Messer aufschlitzte. Aber wie hätte ich Teresa sonst dazu bringen sollen, wenigstens einmal stehenzubleiben und mit mir zu reden? Sie ließ mir ja keine andere Wahl, rannte immer gleich davon, wenn ich mal vor dem Krankenhaus auf sie wartete und ansprach. Lief dann, als wäre ich der leibhaftige Teufel. Ihre Seele wollte ich, ja, sicher. Aber doch nicht zu ihrem Schaden! Zu ihrem Guten wollte ich sie doch, um sie mit der meinen zu vereinigen, um ihr Flügel zu schenken. Sie aber tat, als wollte sie keine Flügel. Sprang rein in ihr kleines Auto und verriegelte die Türen. Und wartete ich vor ihrer Wohnung, war’s das Haus, welches sie verriegelte. Meistens amüsierte mich ihre gespielte Panik eher; manchmal aber ärgerte mich ihr Verhalten auch. Nur darum musste ich ja etwas tun. Musste sie zum Stehenbleiben bewegen. Nur darum stach ich in ihren Reifen; auch wenn’s mir wirklich nicht gut dabei ging.
„Ich helfe dir, Teresa“, bot ich freundlich an, als sie den Schaden bemerkte. „Einen Augenblick, so ein Reifen ist schnell gewechselt. Zu dumm, so eine Panne. Aber das kriege ich wieder hin. Für dich, Teresa, nur für dich. Sieh nur, ich knie mich hin. Hier, mitten auf der Straße, genau in den Schmutz knie ich mich für dich!“
Sie starrte fassungslos. Zuerst auf mich, dann auf den Reifen. „Das … das waren Sie“, hauchte sie dann. „Sie waren das.“
„Aber Teresa – Teresa! Wie kannst du denn so etwas sagen?“ Ich ging zu ihr, lächelte.
Ihre Augen, diese wundervollen türkisfarbenen Augen, weiteten sich. Doch wurden sie auch starr auf eine gewisse Weise. So, wie ihr gesamter Leib, klein und zierlich, starr wurde. Zu Eis gefroren. Oder zur Salzsäule, wie mir unangenehm in den Sinn kam. Loths Weib war’s, welche das Grauen sah. Das verwirrte mich, ich wich zurück. Sodom erkannte ich in ihren Augen und Gomorrha. Aber das war ich doch nicht, dieser Sündenpfuhl, ich war das doch nicht! Ich meinte es doch nur gut mit ihr, wollte sie retten, sie befreien. Bo war doch derjenige, der sie an der kurzen Leine hielt, nicht ich!
Ich schüttelte den Kopf und wollte Teresa in den Arm nehmen, sie trösten und wärmen, auch mich trösten, mich wieder stärken. Beruhigen wollte ich uns. Doch kaum berührte ich sie, fiel alle Spannung von ihr ab. Sie begann fürchterlich zu schreien, nach Hilfe, nach der Polizei. Gleichzeitig ging sie rückwärts, schlug nach mir, der ich ihr folgte, trat. Ihre Hand, zur niedlichen Faust geballt, traf mich am Ohr. Wildkatze!
„Ich zeige Sie an! Sie Ungeheuer!“
Das fand ich nicht fair. Was hätte ich denn tun sollen? Wer nicht hören will …
„Teresa, bitte. Jetzt beruhige dich doch. Es ist doch nur ein Autoreifen.“
„Fassen Sie mich nicht an! Sie sind doch verrückt! Sie sind ja wahnsinnig!“

Verrückt. Wahnsinnig. Auch Dina hatte mich irgendwann einmal so genannt. Wie kam sie nur darauf? Ist denn der verrückt, der liebt? Ist denn der wahnsinnig, der sich selbst opfert für die Erwiderung seiner Gefühle? Wenn dem so ist, wenn dem wirklich so ist, dann – ja, dann war ich verrückt, war ich wahnsinnig. Und ich war es gern; diente mein angeblicher Wahnsinn doch einem höheren Zweck!
Dina hatte das nie einsehen wollen. Auch sie hatte plötzlich wild um sich geschlagen wie eine entfesselte Furie. Dabei hatte ich doch nur vor ihrer Wohnung auf sie gewartet. Überraschen wollte ich sie. Ganz freundlich. Mit Champagner und mit Theaterkarten. Sie hatte gerade so getan, als wäre ich ein Fremder für sie, ein Eindringling. Aber ich war doch kein Parasit, war doch nicht ihr Feind, bin es nie gewesen. Dinas Fäuste, ebenfalls so niedlich und so klein, trommelten unkontrolliert auf mich nieder. Beruhigen wollte ich sie, nur besänftigen. Dass sie dabei die Treppe hinab stürzte – war’s denn meine Schuld? Ein Wort von ihr hätte doch genügt, eine Geste …

Ehrlich gesagt war ich nun von Teresas Reaktion ein wenig pikiert. Sie benahm sich ja beinahe so kindisch wie Dina, dieses dumme Ding. „Du darfst nicht so mit mir reden“, sagte ich. „So ein Spaß ist ja gut und schön, und ich finde dein Spiel auch ganz reizvoll. Aber alles hat ja seine Grenzen. Ich liebe dich, das weißt du ja. Nackt ziehe ich mein Innerstes vor dir aus, ich verberge nichts, mache mich verwundbar. Und du? Was machst du, Teresa? Sagst immerzu, du wolltest mich nicht sehen, gibst mir Schimpfnamen, schlägst sogar nach mir. Was soll das denn? Was soll das denn? Ich finde, Liebes, der Spaß hat nun ein Ende, ja? Komm. Komm, jetzt habe ich keine Lust mehr zu spielen. Ich möchte jetzt nach Hause gehen mit dir. Will dich in meine Arme nehmen und dir einen Kuss geben. Komm, Teresa, wir gehen.“ Ich streckte meine Hand nach ihr aus. „Und mach dir keine Sorgen um diesen widerwärtigen Bo. Um den kümmer’ ich mich schon, wenn du es willst.“
Sie starrte mich an, und sie schnappte nach Luft. Es schien, als schnürten Worte ihre Kehle zu, die sich verirrt hatten, den Weg nach draußen nicht fanden. Ihre Lippen klappten auf und zu, schienen stumm zu formen: Bo. Bo. Bo. Dann endlich schlängelten sich doch zwei Worte durch ihre Lippen, sirrten durch die Luft und verpesteten sie durch ihr bloßes Vorhandensein: „Perverses Schwein!“
Mich trafen diese beiden wie ein Faustschlag; ihr gaben sie Kraft. Teresa fuhr herum und rannte davon. Ich konnte ihr nichts hinterherrufen, ihr nicht folgen. Der Schmerz, den ihre Worte in mir hinterlassen hatten, war zu tief, zu mächtig. Gelähmt hatten sie mich. Überrascht. Zornig gemacht. Dies war der Augenblick, in dem ich beschloss, Teresas Spiel zu beenden. Ein für alle Mal. Es war genug. Es begann mich zu langweilen – und aufzuregen zugleich. Ich verlor die Geduld. Nun wurde es Zeit fürs Finale. Teresa sollte mir endlich ihre Liebe gestehen. Und sich nicht länger wie ein störrisches Schulmädchen benehmen. Meine Liebe sollte sie annehmen, sich dankbar zeigen, ganz ohne Vorbehalte. Dazu musste sie diesen starrköpfigen, widerspenstigen, unnötigen Bo endlich aus ihrer Wohnung und aus ihrem Leben entfernen. Fort musste der Kerl endlich, für immer aus dem Weg. Wenn sie es nicht tat, dann würde ich eben zu den entsprechenden Mitteln greifen müssen. Ich war bereit dazu. Ich wollte es …

Vorsichtig luge ich ins Zimmer, halte den Atem an. Ein niedriger Tisch steht da, eingerahmt von zwei Sesseln und einer Couch. Teppichboden. Ein paar Fotos an der Wand. Ein deckenhoher Schrank aus falschem Mahagoni, geschliffene Weingläser, in denen sich das Licht der unscheinbaren Deckenlampe bricht. Ein alter Fernsehapparat; er ist nicht eingeschaltet. Daneben eine Musikanlage; sie ist stumm. Aber ich höre ein Raunen. Jemand wispert irgendetwas. Ich sehe Bo nirgends. Der Griff des Messers drückt in meine Hand.
Wo ist Teresa?
Ihre Stimme. Ich höre sie. Sie flüstert. Ich entdecke sie.
Hockt da auf dem Boden, halb vom Sessel verborgen. Vornübergebeut. Worte, so leise Worte.
Ich muss vorsichtig sein. Weiß ja nicht, warum die beiden am Boden sind, nicht auf dem Sofa. Was tut sie denn da? Ihre Schulterblätter, Engelsflügel, bewegen sich. Ich schleiche mich an. Teresas Rücken ist gekrümmt. Wo ist Bo? Liegt wohl vor ihr. Warum? Was soll denn das? Oder hat er sich irgendwo im Zimmer versteckt? Ich sehe ihn nicht. Nicht, dass er mich gleich von hinten anspringt, vielleicht zu überwältigen versucht. Kann sein, dass Teresa mir dann sogar helfen müsste. Das wäre mir peinlich und würde mich sicher wütend machen.
Die Messerklinge blitzt auf, für einen Moment bin ich abgelenkt.
„Komm, nimm das, Bo“, höre ich sie jetzt murmeln.
Ich erreiche den Tisch. Der Kerl scheint tatsächlich hinter dem Sessel auf dem Boden zu liegen. Vor ihr. Was macht er da?
„Ja, das ist gut. Siehst du, es geht doch. Das tut dir gut.“
Soll ich rufen? Jetzt wäre der Klotz völlig wehrlos. Eine unkomfortable Lage, so weit unten. Überrumplung wäre einfach jetzt, Überraschung ein Kinderspiel.
„Mein lieber, lieber Bo …“
Ein Schritt nach dem anderen. Vorsichtig. Tastend. Schleichend. Ich umrunde den Tisch, jetzt stehe ich direkt hinter Teresa. Ich sehe Bo!
„Mach dir keine Sorgen. Ich bin immer für dich da, Bo, immer …“
Die Hand mit dem Messer sinkt. Unter meiner Haut rieselt Eisregen. Teresa bemerkt mich nicht. So wenig wie Bo. Zu beschäftigt die beiden. Miteinander. Für immer. Sie streichelt über seinen Kopf, den unbehaarten. Blinde Augen, wasserblau getrübt, starren ins Nichts.
„Komm, nimm noch ein Stückchen.“ Sie formt aus rohem Hackfleisch eine kleine Kugel, schiebt sie in seinen Mund, zwingt ihn zum Kauen, Schlucken. „So ist es gut …“
Wo einst Pfoten waren, zucken vier Stümpfe. Wo noch Reste von Fell sind, stechen die Haare dunkelbraun und borstig hervor. Dunkelbraune Stachelinseln auf einer rosigen Haut mit schwarzen Flecken. Die Kreatur winselt leise, Teresas Hand streichelt, liegt auf, beruhigt.
Mir schnürt es die Kehle zu. Mein Kiefer schmerzt, meine Zähne, die ich so fest aufeinander presse. Alles schmerzt. Ich erstarre. Nie habe ich etwas Hässlicheres gesehen als dieses erbarmungswürdige Wesen. Nie etwas Zärtlicheres als Teresa, wie sie streichelt und füttert, flüstert und lächelt. Ein Hund. Der Rest eines Hundes. Keine Pfoten mehr und das Rückgrat gebrochen. Liegt schon lange da, ich seh’s. Die Wunden sind verheilt, nichts ist mehr zusammengewachsen. Zum Heulen. Ich wende mich ab.
Vorsichtig schleiche ich zurück. Sie soll mich nicht sehen; er soll mich nicht bemerken. Es wäre mir peinlich. Peinlich, zugeben zu müssen: So, wie Bo geliebt wird, bedingungslos und voller Hingabe, wird niemals jemand mich lieben.
Nie zuvor fühlte ich mich einsamer.
 

Circulo

Mitglied
Liebes Rafi,

Dir gelingt es, aus kaum etwas eine aufregende Geschichte zu schreiben. Habe mich an den suspense erinnert gefühlt. Überhaupt sind in der Story Kräfte am Wirken, die sie für eine Tatort-Plot auszeichnen würde, gäben sich die Münsteraner dazu her auch ohne Leiche, sondern nur mit potentiellem Vergewaltigungsopfer, lustig zu sein. Der Hund könnte sich auch als Wo geheißen herausstellen, wie Wotan, der Adoptivhund Alberichs und die schöne Therese als Gerichtsmedizinerin.
Die ganze Problematik mit den Hunden ist mir bekannt. Meine Mutter hat zwei Zuchtcollies, und sie besucht mich eigentlich nur, wenn die Hunde Ausstellung haben. Das kann wirklich sehr deprimierend sein. :(.
Auch wenn ich nicht genau verstehe, nach welchem Maßstab ich bewerten soll, gebe ich Dir mal eine Sieben. Mich bewertet man übrigens auch, nach welchem Maßstab auch immer. Ich denke, eine Sieben geht in Ordnung, und ich hoffe, du kannst etwas damit anfangen.

Tschaui

C
 
A

aligaga

Gast
Das hast du inhaltlich und sprachlich prima hinbekommen, Rafi. Wie du den Wahn des Protagonisten und die Reaktion der Betroffenen schilderst, z. T. rückgeblendet und einem Höhepunkt zustrebend, ist gut gemacht. Der Leser wird immer gespannter. So muss es sein!

Trotzdem gibt’s diesmal ein bisschen Kritik.

Die ganze Nummer ist ein wenig zu redundant. Du könntest manches verkürzen oder ganz der Fantasie des Lesers überlassen – so wie Hitchcock es gemacht hat: Viel schlimmer als das Grauen, das man sieht, ist jenes, das man nur ahnt. Ich will jetzt nicht ins Detail gehen; du fändest sicher selber heraus, wo du da ansetzen könntest (z. B. bei der Schlüsselgeschichte?).

Zum Zweiten: Männliche Stalker sind sehr gefühlsbetont; sie denken nicht, sondern spüren. Der deine scheint keine Genitalien zu haben – jedenfalls kommen die nicht einmal im Ansatz vor. Es hängen deshalb die Wahrnehmungsstörungen des Typen ein wenig in der Luft – sie sind doch in aller Regel schwanzgesteuert. Das „Kribbeln im Bauch“ finde ich ein wenig schwach.

Zum Dritten: der Schluss!

Der hat mich enttäuscht. Statt zu einem Showdown kommt es zu einem triefigen Dreizeiler, wo ein Hunderl dem Stalker die Triebe abschaltet. Knips! Sorry - das ist so an den Haaren herbeigezogen, dass man das Gefühl haben muss, dem Autor sei halt nichts Besseres eingefallen. Aber selbst wenn’s ein behindertes Kind im Rollstuhl gewesen wäre – warum sollte sich ein Triebtäter wie der beschriebene dazu herbeifinden, die Dinge plötzlich nicht mehr so zu sehen, wie sie für ihn am günstigsten sind? Das konnte er vorher doch so prächtig!

In einer von Stefan Zweigs Novellen („Brennendes Geheimnis“) könntest du erfahren, mit welcher Perfidie ein „Stalker“ ein unschuldiges Kind zu instrumentalisieren imstande ist, wenn es darum geht, die Mutter ins Bett zu kriegen. Natürlich geht das in letzter Konsequenz auch schief, aber nicht so lapidar und unglaubwürdig wie in deinem Stück, sondern auf beklemmend nachvollziehbare, ganz scheußliche Weise: Das Kind gewinnt die Übermacht und spielt die Erwachsenen gegeneinander aus.

Ich schlag dir vor, das Ding ein bisschen ruhen zu lassen und darüber nachzudenken, wie dein Stalker – wenn es schon sein muss – wirklich glaubwürdig aus der Nummer herauskommt. Da fällt dir bestimmt etwas ein, auch ohne dass ich dir Tipps geben müsste.

Gruß

aligaga
 

Rafi

Mitglied
Liebe(s) Circulo,
meinen Dank zunächst, dass Du dich mit der Geschichte beschäftigst und sie so großzügig bewertet hast. Nach welchen Kriterien Du bewerten solltest, ist eigentlich klar: nach Der Lust vielleicht, die Du beim Lesen empfindest (oder auch nicht), nach einem Nachklang, den eine Geschichte möglicherweise in Dir hinterlässt oder auch nach rein literaturtheoretischen Gesichtspunkten. Ich glaube, auch Deine Geschichten werden von anderen nach solchen oder ähnlichen Kriterien bewertet.
Einige Deiner Erörterungen verstehe ich allerdings nicht, sie haben, wie ich glaube, nicht viel mit der Story zu tun. Auch wenn es natürlich schmeichelt, wenn ein Leser in einer Erzählung das Potential für einen Münsteraner „Tatort“ sieht – mir würden dann in dieser Geschichte doch die Polizisten fehlen …
Ein Letztes: In der Story ging es eigentlich nicht um die Problematik mit Hunden; vielmehr um die eines verwirrten Geistes, der Hund war lediglich ein Sinnbild für bedingungslose Liebe, die der Protagonist niemals erfahren wird.

Gruß
Rafi
 

Rafi

Mitglied
Hi, Aligaga!
Auch Du hast es – wie immer! – prima hinbekommen, mit Deiner Kritik zunächst die Brust des Autoren vor Stolz anschwellen zu lassen. Um dann Deine (äußerst kluge) Kritik abzufeuern wie ein Bogenschütze seine wohlgezielten Pfeile … :)

Doch nun meine Antwort: Vielleicht hast Du recht, hier und da bin ich möglicherweise mal wieder zu elogisch geworden, ins Schwafeln verfallen. Aber ich finde, dass gerade in der „Schlüsselszene“ (es gibt eigentlich zwei, ich hoffe, wir meinen die gleiche) eine minutiöse Beschreibung die Spannung steigert.
Du schreibst:
Männliche Stalker sind sehr gefühlsbetont; sie denken nicht, sondern spüren. Der deine scheint keine Genitalien zu haben – jedenfalls kommen die nicht einmal im Ansatz vor. Es hängen deshalb die Wahrnehmungsstörungen des Typen ein wenig in der Luft – sie sind doch in aller Regel schwanzgesteuert. Das „Kribbeln im Bauch“ finde ich ein wenig schwach.
Okay, ich weiß tatsächlich nicht wirklich, wie gefühlsbetont oder gefühlskalt ein männlicher Stalker ist. Allerdings glaube ich nicht, dass gerade in dieser Geschichte das „Schwanzgesteuerte“ im Vordergrund stehen sollte. Geht es Stalkern nicht eher um Machtausübung, um Präsenz, um ihre gestörte Selbstwahrnehmung und das verzerrte Bild ihrer Umwelt? Das „Kribbeln im Bauch“ soll keinen sexuellen Hintergrund haben, sondern die Aufregung, die Spannung symbolisieren. Das ist es, was „meinen“ Stalker ausmacht, nicht die Geilheit und die Sucht, mit Teresa unbedingt im Bett zu landen. Er will eine Art familiäres Leben mit ihr, will ganz „normal“ sie als Frau an seiner Seite haben. Insofern hat er tatsächlich keine Genitalien, weil diese in der Story überhaupt keine Rolle spielen.
Dass der Schluss Dich enttäuscht hat, finde ich schade; hab ich doch gerade über den wirklich lange und intensiv nachgedacht …
Nein, ich bin nicht Stefan Zweig (den ich im Übrigen sehr bewundere) und auch nicht Hitchcock (den ich für überschätzt halte). Es ging mir auch nicht darum, dass ein Hund, dargestellt als erbarmungswürdige Kreatur, die ja kaum noch als Hund erkennbar ist, die „Triebe“ des Protagonisten einfach – klick – ausschaltet. Erzählen wollte ich, wie jemand, der sich Liebe immer nur einbildet, plötzlich erkennt, wie und was wahre Liebe auch sein kann. Und dadurch erkennt er, wie einsam er ist, dass er ein solch hohes Ziel niemals erreichen kann. So etwas bewirkt (so wollte ich es darstellen) einen inneren Zusammenbruch, der einen dazu zwingt, sein gesamtes Dasein neu zu überdenken. Zum ersten Mal sieht der Protagonist die Wirklichkeit, das macht ihn fertig …

So, jetzt hab ich ja fast so lang geantwortet, wie die Erzählung selbst war. Ich hoffe, ich hab ein bisschen meine Motivation darlegen können und freue mich schon auf einen weiteren Gedankenaustausch mit Dir.

Liebe Grüße
Rafi
 
A

aligaga

Gast
Hallo Rafi,

damit ja keine Missverständnisse aufkommen - ich hab deinen Text nicht mit jenen Zweigs verglichen oder den Drehbüchern Hitchcocks, sondern dir versucht, die Werkzeuge zu zeigen, die sie nutzten. Auf ihre Texte oder Scripts habe ich nicht verwiesen.

Was ein "Stalker" macht, wenn er gerade nicht hinter dem Mädel herläuft, das er begehrt und nach dem er sich verzehrt, weiß man von zahlreichen, recht abschreckenden Beispielen. Das geht bis hin zur lebensgroßen Puppe daheim im Bett. Ein Stalker ist etwas anderes als ein Minnesänger, und nicht zuletzt deshalb graust es ein Mädchen, wenn es einen solchen Verfolger hat.

"Stalker" gibt's wie Sand am Meer; die Frage ist immer nur, wie weit sie ihre Triebe unter Kontrolle zu halten bereit oder imstande sind. Das Wort "Liebe", das du im Zusammenhang mit dem Treiben deines Protagonisten immer wieder gebrauchst, ist m. E. nicht die richtige Zustandsbeschreibung. Auf eine Diskussion, was "Liebe" denn sei und was nicht mehr, hab ich momentan eher keine Lust. Ich bin mir aber sicher, dass der Trieb eines "Stalkers" nicht mal eine einseitige ist. Sondern etwas ganz, ganz anderes.

Zum Hunderl hab ich schon alles gesagt. Er passt wirklich nicht ans Ende der Geschichte - ein waschechter Stalker wie der deine, der Mädchen körperlich bedrängt, ihnen Schaden zufügt und Mordlust in sich trägt, lässt sich von einem Haustier ganz bestimmt nicht aus dem Feld schlagen. Never!

Und deshalb empfehle ich dir, nach einer besseren Auflösung der Story zu suchen.

Gruß

aligaga
 

Rafi

Mitglied
Danke, Aligaga – ich werde mir Deine Worte zu Herzen nehmen. Und natürlich gebe ich Dir recht, dass sich ein mordlüsterner Stalker sicher nicht von einem Haustier, einem „Hunderl“ in die Flucht schlagen lässt; doch war's hier ja auch nicht das Tier als solches, sondern eher eine niederschmetternde Erkenntnis, die ihn von seinem Vorhaben abbrachte …

Ganz lieben Gruß
Rafi
 



 
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