Bodensee 1 (ein "helles" Wawa Kapitel

Kyra

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Wawa hielt Fräulein Bauers Hand ganz fest, als sie die Halle des Münchner Hauptbahnhofs betraten. Fräulein Bauers Verlobter Max ging mit zwei Koffern beladen, einige Schritte hinter ihnen. Wawas leichter Rucksack hüpfte auf ihren Schultern, als sie versuchte, Fräulein Bauer zum Laufen zu bewegen. Aufgeregt zappelte und hüpfte sie an ihrer Hand, besorgt dass sie womöglich den Zug verpassen könnten. Fräulein Bauer ließ sich von Wawas Überschwang mitreißen, so dass Max Mühe hatte, den beiden dünnen Gestalten zu folgen. Seine Verlobte war auf eine wenig anmutige Weise mager, Knie, Ellbogen und Handgelenke waren zu bäuerlich derb für die schmächtigen Arme und Beine. Da Fräulein Bauer sehr groß war, Max hingegen von kleiner, kräftiger Statur, trug sie immer flaches Schuhwerk. Damit überragte sie ihn immer noch um einen halben Kopf und ihre Beine bildeten eine grade Linie von den Knien, die sich wie Schildkrötenpanzer unter den Nylons abzeichneten, zu den wässrigen Fußgelenken. Wawa liebte Fräulein Bauer, diese altjüngferliche, sparsame und gottesfürchtige Schwäbin von Mitte dreißig. Max, ihr Verlobter, fast zehn Jahre jünger als sie, war für Wawas wilde Tobereien ein standfester und fröhlicher Spielkamerad, bei dem sie aber eifersüchtig darauf achtete, dass er nicht zuviel von Fräulein Bauers Aufmerksamkeit für sich beanspruchte. Allerdings hatte sie wenig Grund zur Eifersucht, Fräulein Bauer und Max gingen höchst sittsam miteinender um. Selten hielt er mal einen Augenblick ihre Hand, der Kuss zur Begrüßung und zum Abschied war eine gehauchte Andeutung.
Fräulein Bauer war für Wawa der wichtigste Mensch, wenn es um Gewissensfragen ging. Die Moralvorstellungen ihrer Urgroßmutter waren häufig zu extravagant, ihre Mutter besaß keine, allein die von Fräulein Bauer waren solide, bodenständig und von alltagstauglicher Religiosität.

Als sie die Bahnhofshalle halb durchquert hatten, wollte Max einem Gepäckträger winken. Fräulein Bauer drehte sich sofort um und meinte freundlich,
„Das ist doch nicht nötig, wir sind doch gleich da. Wenn du nicht mehr kannst, nehme ich dir einen Koffer ab“
Während sie das sagte, griff sie schon nach einem der schweren Koffer. Maxs Einwände trafen nur noch ihren schmalen Rücken mit den hervortretenden Schulterblättern, als sie den Koffergriff mit beiden Händen umklammernd, in Richtung der Automaten für die Bahnsteigkarten sputete. Wawa behinderte sie noch zusätzlich in ihrem Versuch, beim Tragen zu helfen. Aber Fräulein Bauer eilte mit der Zähigkeit einer ehemaligen BDM Erntehelferin durch die Sperre zu den Bahnsteigen.
Obwohl Wawa schon einige Mal mit der Bahn verreist war, plapperte und lachte sie ohne unterlass vor glücklicher Erregung. Sie würde jetzt eine ganze Woche mit Fräulein Bauer in ihr Elternhaus nach Langenargen fahren. Sie wusste, dass das Haus direkt am See lag und dass es dort einen Collie namens Schäfchen und drei Katzen gab. Eine Lautsprecherdurchsage versetzte die drei Reisenden noch einmal in hektischen Lauf. Das Abfahrtsgleis des Zuges war geändert worden.
Aber dann saßen sie endlich im Zug und hatten ein Abteil für
sich. Wawa fing sofort an, über die Sitze zu toben. Sie ließ sich aber durch den Vorschlag von Fräulein Bauer, die Menschen zu zählen die jetzt noch zum Zug eilten, bewegen, sich hinzusetzen und aus dem Fenster zu sehen.
Als der Zug anfuhr, hatte Fräulein Bauer schon begonnen die beiden Thermoskannen, die eingewickelten Brote und die hart gekochten Eier auszupacken; das Salz für die Eier war sorgfältig in ein kleines Papier eingeschlagen. Sie hatte sogar ein Tischdeckchen mitgebracht, drei sorgsam in Stoffservietten eingewickelte Gläser, ein Töpfchen Obstsalat und viele kleine, rote Äpfel.
Während der Zug langsam durch die Vorstädte von München fuhr, bat Wawa schon um etwas zu trinken. Max hatte aus seinem Koffer Block, Bleistift und mehrere Bücher geholt, die er zusammen mit vollgekritzelten Seiten um sich verteilte. Er war Werkstudent, dies bedeutete, dass er neben seinem Studium seinen Lebensunterhalt verdienen musste. Schon bald war er in seinen Text vertieft. Als Wawa begann, lautstark jedes Haus, jede Kuh und - wenn sich nichts anderes fand - auch die Formen der kleinen Wolken am sonnigen Himmel zu kommentieren, führte Fräulein Bauer mit einem deutlichen Zischlaut den Finger an die Lippen und sagte leise,
„Schau, der Max muss doch noch arbeiten, wie wäre es, wenn ich dir eine Geschichte erzähle. Du musst ganz nah zu mir kommen, damit ich leise sprechen kann.“
Auffordernd klopfte sie auf den freien Platz neben sich. Ohne zu zögern schlüpfte Wawa halb auf ihren Schoß und sah sie gespannt an.
„Ich erzähl die jetzt mal, wie wir gelebt haben, als ich noch ein kleines Mädchen war, wie du heute…“
Fräulein Bauer lehnte den Kopf gegen das Polster, legte einen Arm um Wawa und begann fast flüsternd zu erzählen.
Sie sprach über ihren Vater, den Pastor von Langenargen und aus jedem Wort konnte man ihre Liebe und ihren Respekt hören. Sie erzählte von dem großen Haus am See, von ihren vier Schwestern, von Hamsterfahrten und heimlichem Schlachten im Krieg.
Wawa kannte schon viele Geschichten von „früher“ unerbittlich löcherte sie ihre Urgroßmutter, ihr mehr davon zu erzählen. Aber sie hatte gelernt, dass jedes „früher“ anders war, darum bat sie alle Erwachsenen, die ihr etwas vertraut waren, ihr zu erzählen wie es war, als sie noch Kinder waren.
Fräulein Bauer berichtete ihr, wie sie heimlich ein Schwein im Keller hielten, das Tier hatte in seinem kurzen Leben nie das Tageslicht gesehen. Die ganze Familie hatten Angst vor dem Tag, an dem es geschlachtet werden musste. Ihre Mutter war zwar auf einem Bauernhof aufgewachsen, hatte aber lange die Schule besuchen dürfen und keinen blassen Schimmer davon, wie man schlachtet, aber hatte es zumindest in ihrer Kindheit manchmal mit Grausen gesehen. Ihre Schilderungen waren wenig geeignet den anderen Mut zu machen. Der Vater von Fräulein Bauer kam aus einer Pastorenfamilie und war in Stuttgart aufgewachsen, es war ihm bis dahin noch nie in den Sinn gekommen ein Tier zu töten. Aus einer Bibliothek in Lindau hatte er sich ein Buch geliehen und sich das theoretische Wissen angelesen. Während das Schwein gemästet wurde, wobei man die kärglichen Abfälle kaum als mästen bezeichnen konnte, weigerte er sich, in den Keller zu gehen. Er sagte, dass es ihm unmöglich wäre, ein Wesen zu töten, was er vorher kennen gelernt habe. So fütterten die fünf Mädchen reihum das Schwein.
Wie aufgeregt sie und ihre Schwestern waren, als endlich der Schlachttag kam. Bottiche mit Wasser wurden erhitzt, der Keller mit Planen ausgelegt, Schüsseln für das Blut in den Keller getragen und Fräulein Bauers Vater schärfte mit ernster Miene ein langes Messer. Obwohl der Pastor so etwas noch nie getan hatte, gelang es ihm, das Schwein schnell zu töten. Danach stand er leichenblass mit dem blutigen Messer in der Hand an der Wand und verweigerte jede weitere Mithilfe, gab aber brauchbare Anweisungen. Die Mutter und die fünf Mädchen, Fräulein Bauer war damals mit ihren fünfzehn Jahren die älteste, schafften es auch ohne seine Hilfe, das Schwein zu zerlegen, das Blut in den Schüsseln zu rühren und alles zu pökeln oder einzukochen. Als Wawa erstaunt fragte, ob sie denn nicht alle sehr traurig gewesen seien, antwortete ihr Fräulein Bauer nur,
„Wir hatten damals alle Hunger. Du kannst es Dir nicht vorstellen, aber wir waren eigentlich immer hungrig. Wenn wir abends im Bett lagen, erzählten wir uns Geschichten über Essen, über dick belegte Butterbrote, über Apfelkuchen und über Spätzle mit Käse.“
Fräulein Bauer schüttete nachdenklich den Kopf,
„Nein wir waren nicht traurig, wir waren einfach nur dankbar für das Schwein. So etwas köstliches, wie das erste Stück der Sülze habe ich nie wieder gegessen. Nur Vater hat kaum etwas davon angerüht.“
Wawa wurde etwas ungeduldig,
„..und was dann?“
„Dann nichts weiter, das ist das Ende der Geschichte mit dem Schwein“.
„Noch eine Geschichte, bitte, bitte, bitte!..“
Wawas laute Bettelei ließ Max einen Augenblick von seinem Text aufsehen. Mit einem Seufzen erzählte Fräulein Bauer weiter.
Sie erzählte wie ihre Großmutter, die Töpfchen der Kinder immer einfach aus dem Fenster goss, bis die Nachbarn zu fragen begannen, warum das Gras an dieser Stelle unter dem Fenster so dicht und grün sei. Darauf hatte sie die Nachttöpfe mit mehr Schwung aus verschiedenen Fenstern des ersten Stocks geschüttet. Fräulein Bauer meinte, sie hätten damals als sie und ihre Schwestern noch klein waren, den schönsten Garten von Langenargen gehabt. Mit langsam müder werdender Stimme berichtete sie von der Zeit unter Hitler. Da ihr Vater in seinen Predigten bisweilen eine kritische Äußerung wagte, stand vor jeder Messe eine der Töchter an der Kirchentür, um den Vater zu warnen, wenn eine unbekannte Gestalt in den Gottesdienst kam. Wawa fand das sehr spannend und meinte etwas betrübt,
„Schade dass ich nicht damals gelebt habe. Ich hätte auch so gerne aufgepasst, ob nicht einer von den Bösen in die Kirche kommt.“
Fräulein Bauers Stimme wurde plötzlich hart vor Strenge,
„Sag das nie, nie wieder. Es war die schrecklichste Zeit für die Menschen überhaupt. Du darfst das nicht einmal denken, versprich mir das. Versprich mir das sofort!“
Wawa zuckte erschreckt über den Ton zusammen, der eine Kluft in ihre Vertrautheit riss und sie alleine am Abgrund zurückließ. Sie versprach eilig, aber etwas erstaunt, nie wieder so etwas zu denken.
Natürlich wusste Wawa, dass es zwei schrecklich Kriege gegeben hatte. Sie wusste dass Juden getötet worden waren, einfach nur weil sie Juden waren. Aber das hatte sie ja auch nicht gemeint, als sie sagte, dass sie gerne damals gelebt hätte. Wawa hatte sich nur vorgestellt, wie sie am Kirchenportal stand und alle Verantwortung bei ihr lag, dass kein Fremder unbemerkt in die Kirche käme. Sie hatte sich während sie zuhörte, ausgemalt, sie stände in einer dämmrigen Nische der Kirche, die Predigt hätte schon begonnen, plötzlich würde sie einen schmalen Lichtstrahl an der Tür bemerken, das Eintreten eines Nachzüglers. Unbemerkt wäre sie durch das Seitenschiff hingelaufen und wirklich, dort stand im Schatten einer Säule ein Mann in einem grauen Mantel, der seinen Hut beim Betreten der Kirche nicht abgenommen hatte. Das wäre der Beweis, dass er einer von den Bösen war. Nur wie sollte sie die Predigt unterbrechen? Die Urgroßmutter hatte ihr einmal von einer Frau erzählt, die während einer Predigt nach vorne gestürmt ist, um vor dem Altar auf die Knie zu sinken und laut zu rufen,
„Ich habe ihn gesehen, Er ist mir erschienen. Ich bin jetzt eine Schwester Jesu. Er gab mir seine Macht..“
Wawa gefiel dabei vor allem die Sache mit der Macht. Sicher ihre Urgroßmutter hatte gesagt, die Frau wäre einfach verrückt gewesen und man hätte sie kurzerhand aus der Kirche gejagt.
Also was würde sie machen? Sie müsste die Predigt unterbrechen, ohne den Pastor in Verdacht zu bringen. Einfach wäre die Möglichkeit, mit dem Lauten Ruf,
„Herr erbarme Dich meiner, ich habe schwer gesündigt“
Zur Kanzel zu stürmen. Dann wäre der Pastor von der Kanzel gestiegen, hätte sich mit den Worten,
„Was hast du getan, mein Kind“
über sie gebeugt und sie hätte ihm leise ins Ohr flüstern können, dass dort im Schatten ein böser Mann steht. Nur Wawa wusste nicht genau ob sie diesen Mut aufgebracht hätte. Darüber musste sie noch nachdenke.
Der Zug hatte grade an einer Station gehalten, einige Reisende waren zugestiegen, auf dem Gang schob sich eine Gruppe ausgelassener junger Männer vorbei, um das angrenzende Abteil zu besetzten.

Fortsetzung folgt.
 
L

leonie

Gast
Hallo Kyra

Toll geschrieben, warte mit Spannung auf die Fortsetzung * freu *
liebe grüße leonie
 



 
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