Bonny and Clyde in den Zeiten von Aids

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Martin Iden

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Es war in dieser Zeit der Junkiepest, als ich Daniela kennenlernte. Sie war eine Rothaarige mit überaus beeindruckenden Überresten einer fast klassischen Schönheit. Ich machte ihre Bekanntschaft, als sie mir, total breit von Rohypnol, vors Auto lief. Zum Glück war ihr nichts passiert, und ich wiegelte einige Passanten ab, die unbedingt die Polizei holen wollten. Das aber war nicht in Danielas Sinn. Wir sahen uns an, und sofort erkannte jeder im anderen den Junkie. Das Erste, was mir an ihr auffiel, waren die tiefen Narben an beiden Handgelenken, Zeichen eines offenbar sehr ernst gemeinten Suizidversuchs. Ganz genau erinnere ich mich noch an einen Satz, den sie sagte, als ich sie fragte, wohin sie gehe: "Ich gehe kaputt, gehst du mit?" Und ich ging mit ihr kaputt. Danny war politoxikoman, ihre Wohnung sah aus wie eine Apotheke. Außer Heroin nahm sie unglaubliche Mengen an Benzodiazepinen: Valium, Rohypnol, Fluninoc, Tranquase. Dazu noch jede Menge Barbiturate, meistens Medinox oder Vesperax, sie nannte sie "Wespen". Zum Fitmachen das Schlankheitsmittel X-112, das inzwischen längst vom Markt genommen wurde und zum einschlafen eine halbe Flasche Cognac. Ich verarztete sie und gab ihr gegen den Schock eine tüchtige Morphiuminjektion.
Wir fanden uns sympathisch und soffen eine Flasche Hennessy zusammen. Schließlich landeten wir, von Morphium und Cognac stimuliert, im Bett, und ich staunte nicht schlecht über ihre Phantasie und wilde Zärtlichkeit.


Wir waren beide total kaputt und morbide, sie noch kaputter als ich. Ihr bei einer Injektion zuzusehen, war selbst für einen abgebrühten Junkie gespenstisch: Ihre Venen waren längst alle thromboziert oder hatten sich auf der Flucht vor der ewig suchenden Nadel bis zu den Knochen zurückgezogen. Nur eine einzige Stelle, eine Arterie an der Leiste, war übriggeblieben. Heroin läßt sich nicht subkutan spritzen, durchbohrt man eine Vene oder spritzt daneben, ist der Stoff zum Teufel, und man bekommt eine riesige, dicke Blutblase, die tagelang schmerzt. Daniela hob einfach den Rock hoch, zog den Slip beiseite und injizierte eine enorm lange Kanüle direkt neben der Vagina. Ein Fehlschuß hätte entsetzliche Folgen haben können, aber wenn Danny fixte und ein Loch in ihr Fleisch bohrte, blieb es offen stehen und wartete auf die Schore.


Danny war irgendwie süß, man konnte sie durchaus gern haben. Sie hätte im 16. Jahrhundert jeden Inquisitor entzückt, und mit ihren roten Haaren und den flatternden Röcken, die sie so liebte, sah sie aus, als sei sie gerade von einem Scheiterhaufen gestiegen. Es war eine merkwürdige Beziehung, eigentlich paßten wir von Bildung, Herkunft und Temperament überhaupt nicht zusammen. Daniela besaß wirklich reiche Anlagen: Sie sprach recht gut Englisch, und ihre deutsche Orthographie und ihr Stil waren nicht schlecht. Ihre Konzentrationsfähigkeit war allerdings durch die enormen Mengen an Downers stark getrübt. Manchmal erstaunte sie mich allerdings. Sie zitierte Shakespeare, las Oscar Wildes "Dorian Gray", und als ich einmal mit ihr zum Angeln am Edersee war, fing sie wahrhaftig mit einer ganz unmöglichen Methode drei Aale. Als sie sich im Fischkorb in phantastischen Figuren wanden, behauptete sie, sie sähen aus, wie ein Gorgonenhaupt.


Daniela besaß weder das Fingerspitzengefühl, noch das Startkapital, um als Verteilerin arbeiten zu können. Überhaupt habe ich nur eine Frau gekannt, die sich länger halten konnte, H-Erika die Verteilerin. Weibliche "Beschaffungskriminalität", das ist in der Regel Prostitution. Damals, bevor die "Nataschas", die Huren aus der Ostblockkonkursmasse, Europa überschwemmten, hatten freischaffende deutsche Gunstgewerblerinnen noch Chancen. Es gab damals in der Documentastadt Kassel zwei Straßenstrichs. Der eine auf der Wolfhager Straße ist einer der ältesten, längsten und schäbigsten in Mitteldeutschland und der größte Nordhessens. Dort stehen die Professionellen, und Verkehr findet in schäbigen Motels entlang der Wolfhager statt. Sowohl was die Huren, wie auch die Freier betraf, handelte es sich um "unteres soziales Mittelfeld" wie Danny immer zu sagen pflegte. Ein Blinddarm der Wolfhager lag an der alten Post und an der Jägerstraße. Dort befand sich der Baby-, Fixer- und Hausfrauenstrich. Einige der Frauen und Mädchen, die sich hier feilboten, befriedigten auch die bizarrsten Phantasien. Vor allem kamen hier, für billiges Geld, Lolitafans auf ihre Kosten und dann natürlich diese komischen Barfußgänger, die ungeheure Summen für "Verkehr ohne Gummi" boten. War schon die bloße Konkurrenz der Freischaffenden den Huren von der Wolfhager ein Dorn im Auge, so war letzteres etwas, das sie nicht dulden konnten. Um den Girls von der Jägerstraße eine Lektion zu erteilen, mischten sie von Zeit zu Zeit ein Mädchen furchtbar auf. Einmal sah ich von Dannys Fenster aus, wie eine Freischaffende niedergebügelt wurde. Es hielt ein Mercedes, und drei platinblonde Paulas sprangen aus dem Auto. In voller Kriegsbemalung: High Heels, Minirock, Bodystockings aus imitiertem Leopardenfell. Sie sahen irgendwie alle gleich, fast wie die Jacob Sisters, aber als sie loslegten, war es nicht mehr lustig. Diese Tigerlillys machten Kleinholz aus der Alten. Eine Blondine packte sie und schlug ihr in den Magen. Als sie wie ein Klappmesser einknickte, traf sie das obligatorische hochgezogene Knie mitten auf die Nase. Die Zweite trat mit dem Stöckelschuh zu und traf dabei offenbar das Steißbein. Die dritte Paula aber holte ein Tränengasspray aus der Tasche und sprühte der schon am Boden Liegenden fast die ganze Flasche ins Gesicht. Das alles dauerte nur Minuten, aber als ich am nächsten Morgen Brötchen holen ging, war immer noch ein großer, eingetrockneter Blutfleck auf der Straße zu sehen. Nichts Neues im Westen!


Kein Mensch hätte Daniela in ihrem Zustand einen Job angeboten. Eine abgeschlossene Ausbildung hatte sie ohnehin nicht, und als Kassiererin im Supermarkt kann man keine Sucht finanzieren. Im Grunde hätte sich Daniela wirklich nur durch Prostitution ihren Lebensunterhalt verdienen können, denn sie besaß alle Vorraussetzungen für dieses Gewerbe. Sie hatte einmal sehr erfolgreich in einem seriösen Etablissement gearbeitet, war dann aber wegen Beischlafdiebstahl rausgeflogen. Auch wird kein Bordellbetreiber eine Süchtige einstellen, und um das Geschäft in Eigenregie von einer sicheren Wohnung aus zu betreiben, mangelte ihr das Kapital. So blieb, um ihre Sucht befriedigen zu können, nur die illegale Straßenprostitution.


Der Straßenstrich ist auch für abgebrühte Huren sehr gefährlich. Man kann niemandem hinter die Stirn schauen, und eine Frau ist im Auto einem Angreifer hoffnungslos unterlegen. Selbst heute, wo die Mädchen alle Handys haben, sich die Autonummern aufschreiben und beim kleinsten Verdacht ihre Zuhälter anrufen, ist es immer noch sehr gefährlich, und ob dieser Schutz einen Triebtäter abschreckt, ist sehr fraglich. Es gibt als Gefahrenquellen Geschlechtskrankheiten, die Konkurrenz der Professionellen und ihrer Zuhälter und nicht zuletzt brutale, gewalttätige und perverse Freier. In besonders schlechtem Ruf standen Türken und Araber. Auf der Wolfhager, der allerletzten, formal legalen Stufe in der Nahrungskette, herrschten sicher Zustände, die sich kaum von Sklaverei und Menschenhandel unterschieden. Dennoch ist es ein himmelweiter Unterschied, ob Professionelle oder Amateurinnen das Gewerbe betreiben. Eine Hure muß sehr viel leisten und eine Menge von Ökonomie und Psychologie verstehen. Vor allem aber ist eine Professionelle ein Wertgegenstand und genießt Schutz, wenn auch nicht gerade viel staatlichen. Eine "Fixernutte" aber, ist Zielscheibe, Frischfleisch, ein Objekt und steht am untersten Ende der Nahrungskette. Angebot und Nachfrage bestimmen auch hier den Preis.

Das Geschäft an sich klappte meistens erstaunlich gut, aber nur, wenn die Frauen total breitgedröhnt waren. Bei all diesen Mädchen und Frauen passierte immer dann, wenn sie suchtkrank "auf den Hammer gingen", um "einen oder zwei Freier zu machen" eine Katastrophe. Irgendetwas ging dann immer schief: Sie hatten kein Besteck dabei, es gab nichts zu kaufen oder der Verteiler war nicht da. Ebenso schlimm war, wenn sie bei einer Razzia geschnappt wurden. Es gab Strafanzeige, und die Schore landete in der Asservatenkammer. Einer solchen Frau dann klarmachen zu müssen, daß sie nicht kreditwürdig war, erforderte eiserne Nerven und ein sehr robustes Gewissen. Manche Kunden werden dann gewalttätig. Nach meiner Erfahrung rasten Frauen weniger leicht aus, wenn sie es aber tun, wird es meist extrem. So extrem, daß die Messer locker sitzen und man, um nicht selbst schwer verletzt zu werden, unter Umständen zur Kinnhakennarkose schreiten muß. Eine ekelhafte Angelegenheit! Doch was sollte man tun? Ich konnte mir nicht leisten, auch nur ein Pack auf Kredit zu geben. Hätte ich es getan, ich hätte das Geld nie wieder gesehen, und ich mußte immer zusehen, den nächsten Beutel zusammen zubekommen. Mitleid hatte ich ohnehin nicht mehr viel übrig, und was ich hatte, reichte gerade für mich selbst. Besser denen ging es schlecht, als mir! Gelegentlich, wenn auch eher selten, wurde natürlich auch mal die Eine oder Andere vergewaltigt oder ein Freier erzwang bestimmte Praktiken, was auf das selbe hinauslief. Doch das war Berufsrisiko, keine Einzige konnte auf Trost oder Mitgefühl von Koleginnen hoffen, denn fast jeder war schon einmal ähnliches passiert. Selbst wenn auch nur eine Einzige dieser Frauen darüber gesprochen und Anzeige erstattet hätte, kein Gericht der Welt hätte den Täter verurteilen können, es hätte Aussage gegen Aussage gestanden. Die Polizei war ein weiterer Risikofaktor, doch die hielt sich schön zurück und buchtete nur sporadisch einmal ein Mädchen ein, daß keinen "Bockschein" hatte. So nannte man das ärztliche Gutachten, und die meisten waren natürlich auch nicht als Prostituierte gemeldet.



Es war die totale Endzeitstimmung, wie in den Zeiten der Pest: Die Szene, die kursierende Seuche Aids und jetzt auch noch der Strich! Der Pestzeitspruch des Bänkelsängers Augustin fiel mir ein: "A Freud muß der Mensch haben, und hat er ka Freud, dann muß er a Mensch haben." Ich litt darunter, daß Danny auf diesen asozialen Strich gehen mußte und ich sie nicht besser schützen konnte. Inzwischen waren aber noch andere auf mich aufmerksam geworden, denn ich war zu oft von Frauen umgeben, die mir Geld gaben. Ich merkte sofort, was die Stunde geschlagen hatte, als ein amerikanischer Straßenkreuzer anhielt, der drei Typen ausspuckte. Muskelshirt, Goldkettchen Sonnenbrille, die volle Kriegsbemalung! Sie sprachen im schnoddrigen Kasseläner Dialekt: "Ach, da ist ja der Herr Kollege! Na, hast du heute dein Pferdchen nicht laufen?" "Meine Herren, Sie müssen mich mit jemandem verwechseln, ich bin nicht von hier." "Ach ja, jetzt ist er auf einmal nicht von dieser Welt! Du bist doch der Typ von dieser rothaarigen Schlampe, und Pülverchen vertickst du auch. Komm, wir fahren mal ein Stück spazieren, wollen doch mal hören, was du uns zu sagen hast!" Meine Güte, mir fiel der Schreck in die Glieder, und ich redete mit Zungen. Aber offenbar ging es diesen Gorillas nur darum, mir einen Schrecken einzujagen, denn daß ich kein Lude war, mußte selbst denen aufgefallen sein. Sie taten mir nichts, warfen mich nur mitten in der Pampa, irgendwo bei Hannoversch Münden, raus, so daß ich über 20 km zurück nach Kassel trampen und laufen mußte.


Diese Frau, das sah ich ganz deutlich, wurde zu einem gewaltigen Klotz am Bein. Sie war für einen Verteiler im Grunde viel zu auffällig, brauchte eine Menge Heroin und nörgelte nach mehr. Zwischendurch ging sie aber immer wieder auf den Strich, um sich, bei der Konkurrenz, noch mehr Schore und Downers kaufen zu können. Hundert Mal nahm ich mir vor, diese Schlunze in die Wüste zu schicken, sollte sie doch sehen, wie sie zurecht kam! Ich merkte, daß es pure Selbsterhaltung war, sich von Daniela zu trennen. Doch sie tat mir leid, sie war am Ende nicht mehr zurechnungsfähig. Einmal beobachtete ich sie, wie sie mit dem Fahrrad, total zugedröhnt mit Downers, stur geradeaus in die Auslagen einer Apotheke radelte. Ausgerechnet eine Apotheke! Für den Strich brauchte sie unglaubliche Mengen an Downers, und sie war jetzt ständig total breit, nur noch "Lull und Lall" wie sie selbst sagte. Die Downers machten sie ekelhaft und rücksichtslos, und sie verfiel in einen hemmungslosen Egoismus. Wenn sie ihre lichten Momente hatte und nicht auf den Strich mußte, konnte sie immer noch hinreißend sein. Sie wirkte, obwohl fast drei Jahre älter als ich, manchmal so kindlich und unschuldig. Wenn sie breit war, begann sie mir an den Kopf zu werfen, daß sie nicht mich, sondern meine Schore liebte. Sie sprach dann ungeschminkt vom Strich, von den Freiern. Das in quälend intimen, brutalen Details.


Ich hatte im Stillen immer gehofft, sie zum Entzug zu überreden, und eine Zeitlang hoffte ich, daß wir gemeinsam abturnen könnten. Dann gab ich mich auch der Illusion hin, sie vom Strich und den Downers fernhalten zu können, wenn sie nur genug saubere Schore hätte. Doch Daniela hatte zu viele Suchten, und es fehlte an einer angemessenen medizinischen Versorgung.


Mit Daniela zusammenzuleben, war eine ständige Chaostour mit furchtbaren Aufregungen. Das Blut konnte einem mit ihr öfter gefrieren, als beim russischen Roulette. Besonders nervenaufreibend waren ihre ständigen Diebstähle. Sie begann, benebelt von Rohypnol, in Kaufhäusern immer mehr zu klauen und wurde natürlich erwischt. Einmal stellte ich mich dem Hausdetektiv, der sie verfolgte in den Weg und stellte ihm unauffällig ein Bein. Dann hob ich ihn auf und entschuldigte mich tausend Mal. Einige andere Male aber, mußte ich einen dieser Kerle schmieren. Es waren meistens äußerst fragwürdige subjekte, die früher selbst erfahrene Ladendiebe gewesen waren, und das bißchen Macht, daß sie besaßen, tat ihnen nicht gut. Sie behauptete, einen dieser Kerle in Naturalien, Frischfleisch, bezahlt zu haben. Es war jedesmal nur Kleinkram im Wert von ein paar Mark: eine Schachtel Zigaretten, ein Lippenstift, höchstens einmal eine Flasche Cognac. Einer ihrer Freier, den sie abgezogen hatte, demolierte ihre Wohnung und den Fernseher, wenigstens rührte er sie selbst nicht an. Die Strafanzeigen gegen sie häuften sich. Einen Anwalt hatte sie natürlich nicht, und zum ersten Verhandlungstermin erschien sie erst gar nicht. Sie zog zu ihrer Mutter. Die Mutter konnte mich von Anfang an nicht leiden. Wie viele Junkiemütter suchte sie nur bei anderen die Schuld. Sie hielt ihre Tochter für einen Unschuldsengel, und als sie mitbekam, daß Danny von mir Schore kriegte, war ich in ihren augen ein Verführer der Jugend. die mutter war aber der einzige Mensch, vor dem Daniela sich noch genierte. Sie benahm sich, seit sie dort wohnte, ordentlich und beschränkte sich jetzt auf 10 alte Rohypnol. Immer noch eine absolute Wahnsinnsdosis, für Danny aber eine Kur. Ihre Mutter bekam zufällig das mit der Verhandlung heraus und nahm einen Kredit auf, um einen Anwalt bezahlen zu können. Doch der Staatsanwalt holte zum Schlag aus. Er zog mehrere kleine Delikte, die schon über ein Jahr auseinander lagen, zusammen,es erfolgte Bewährungswiderruf und sie wurde wegen ein paar Lippenstiften, einer Schachtel Zigaretten und einem gefälschten Rezept zu zwei Jahren Preungesheim verurteilt. Meine Güte, fast 800 Tage in den Knast wegen solcher Eierdiebstähle! Was kann man dafür sonst alles an Straftaten begehen! Zwei Jahre für Plunder im Wert von 50 Mark, das klingt für mich fast wie 19 Jahre Zwangsarbeit wegen Diebstahls eines Brotes. Ich wollte mir die Verhandlung eigentlich ansehen, aber ich mußte auf Geschäftsreise nach Hannover. Das nahm sie mir so übel, wie es nur eine Süchtige vermag. Total breit rief sie mitten in der Nacht bei meinen Eltern an. Mann, war das peinlich, ich weiß heute noch nicht, was sie denen alles für einen Schwachsinn erzählt hat. Am Ende brachte sie es noch fertig, meinen Vater um ein Rezept anzugehen, am Heiligen Arbeit um vier Uhr morgens! Am ersten Feiertag rief sie wieder an, total breit! Es sei doch alles nicht so gemeint gewesen, und Weihnachten sei doch das Fest der Liebe.



Von allen Hunden gehetzt, flüchtete ich nach Istanbul. Als ich nach Deutschland zurückkehrte, gab es nur ein einziges Gesprächsthema: "Methadon". Eine ganze Reihe von Leuten bekam jetzt plötzlich Pola. Auch ich hatte Glück. Ein Patient hatte mit seinem positiven Aidstest nicht ferig werden können und hatte sich umgebracht. Ich machte wirklich mit der Schore Schluß und schrieb mich wieder an der Uni Göttingen ein.



Eines Tages klatschte etwas gegen mein Fenster. ich ignorierte es, doch es flog noch einmal eine Ladung Steine dagegen. Ich holte meine Kanone aus der Keksdose und ging zur Sprechanlage. "Ja, verdammt nochmal, wer ist denn da?" "Ich bin es, mach auf!" "Wer ist "Ich", kenne ich nicht den Typen!" "Ich bin es, Danny!" "Daniela? Ich denke, Du sitzt in Preungesheim." "Das hättest Du wohl gerne, was? Meine Mutter hat übrigens die Orange gefunden, die du mit Schore imprägniert hast. Mann, war das bitter, sie hat aus Versehen hineingebissen. Du, das war aber riesig nett von dir, auch das Zigarettengeld!" "Was willst du, ich hab keine Schore, ich nehme nichts mehr. Also, was suchst du?" "Dich, Martin, nur dich. Laß mich rein, ich stecke in der Klemme." "Wann hättest du jemals nicht in der Klemme gesteckt, aber gut, komm rein!" Daniela war nüchtern für ihre Verhältnisse und sah gut erholt aus. Sie trug, obwohl es draußen schon dunkel wurde eine Sonnenbrille und über ihrer roten Haarpracht ein Kopftuch.

"Was soll diese Maskerade, ich denke, du sitzt im Knast, haben sie dich wegen guter Führung entlassen?" "Ach, ich bin erst gar nicht eingerückt und auf der Flucht, darf ich für ein paar Tage bei dir bleiben?" "Du hast sie ja nicht mehr alle, du verdammte Hure. Da kommst du ausgerechnet zu mir, nach allem, was du dir geleistet hast?" "Na, hier suchen sie mich jedenfalls ganz bestimmt nicht. Ich glaub ja eh nicht, daß die mich sonderlich vermissen." "Oh, du Flittchen, du Miststück, du Luder! Ich leg dich um, du Schlampe!" Ich hielt ihr meine Kanone an die Stirn und ließ den Hahn auf eine leere Kammer schlagen. Sie zuckte nicht einmal mit der Wimper und lachte mir ins Gesicht. Ich streichelte ihre Brüste mit dem Lauf, und sie schnurrte wie eine Katze. "Was bist du doch für ein verdammtes Miststück, ich sollte dich wirklich umlegen, du Nutte, was hast du dir bloß gedacht?" "Ach, ich war total breit und sauer auf dich. Das wirst du mir doch wohl nicht etwa ernsthaft übelnehmen wollen? Na los, komm schon, du Lump, leg mich um, ich habe Lust auf dich!" ich packte sie und warf sie aufs Bett. Wir kopulierten wie zwei wilde Tiere, zusammengeschweißt in Haßliebe. Daniela blieb vier Tage in meiner Wohnung.


Ich weiß nicht mehr, ob sie nicht am Ende doch noch eingefahren ist, doch damals konnte ein Anwalt, den ich ihr empfohlen hatte, noch einmal Aufschub erwirken. Ich habe sie dann aus den Augen verloren und seit dieser Zeit nie wieder gesehen. Sie war der extremste Mensch, den ich jemals kennengelernt habe. Sie lebte nicht in gemäßigten Breiten, alles was sie tat, das tat sie ganz. Sie war gleichzeitig gutmütig und grausam, sentimental und abgebrüht. Daniela war ein Mensch ohne jedes Maß, im Guten wie im Schlechten. Einmal war kein Mal und zehn Mal war kein Mal, erst hundert Mal war einmal. Sie war eine Hexe, eine Hure, vielleicht eine Heilige. Denn diese Frau war ein Genie, ein Monument des Leidens. Man hatte ihr beigebracht, gering von sich zu denken, und sie nahm dieses Urteil an, entwickelte einen geradezu monströsen Drang zur Selbstzerstörung. Ich denke heute noch oft an sie zurück, und so lange das alles auch her ist, mein Bedauern, daß ein so titanischer Mensch wie Daniela so furchtbar abgeschrieben wurde, ist seitdem nur noch größer geworden.
 

Haarkranz

Mitglied
Bommy & Clyde

Unglaublich dicht dieser Bericht. Hört sich nach Fact an, kann Fiction so nah dran sein?
Ich zog den Kopf ein, um dem Backstein zu entgehen der durch mein Fenster geworfen wurde.
Fabelhaft!!! Haarkranz
 

NicoD

Mitglied
Sehr gut! Spannend und dicht. Das einzige, was mir als Verbesserungsvorschlag einfiele, wäre, den Dialog (vom Format her) etwas zu entzerren. Ich fand ihn etwas schwierig zu lesen.

Gruß,

Nico
 



 
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