Boot im Sturm

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Karinina

Mitglied
Boot im Sturm
Auszug

Der Wind war stark und drückte seewärts und er nahm zu, je weiter der Knabe über die Boje hinaus war und auf dem blauen Wasser schaukelte.

So, wie die Himmel sind am Wasser, wenn der Wind langsam an Stärke gewinnt, so zogen die geborstenen Wolkenwände weißstreifig über das tiefe Blau, auch ein Pfeifen zog dahin, die Möwen nicht, die Möwen fielen irgendwie über den Himmel, und später kamen die Gänse, auch sie zogen nicht, sie schienen herabzustürzen und wieder hinauf zu schnüren, in weiten und ziellosen Bögen.

Eine gewisse Kälte kam mit dem Wind, aber es schien, als hauche das ungeheure Wasser unter dem Boot einen stetigen lauwarmen Atem aus, der sich nicht sofort und nicht gleichmäßig mit der dahinjagenden Luftmasse vermischte, und so in lauen Strömungen eine zeitlang fort bestand und wie ziehender Nebel mal hier hin und mal da hin waberte und immer wieder dabei den Knaben berührte und umstrich.

Träume drangen in ihn. Er sah Wikinger und Karavellen vorbeiziehen und zwischen ihnen tauchte manchmal eine Dau auf, dreieckskrummseglig wie die Schwerter der Sarazenen, unzählige Prisen hinter sich herziehend, an deren Rahen die gebleichten Knochen der Kapitäne wie Segel in der Sonne blitzten.

Manchmal weckte ihn ein schrilleres Pfeifen aus der Luft, dann sah er eine zeitlang den Gänsen nach, er kannte ihre Bewegungen an stillen Abendhimmeln, aber erst allmählich wurde ihm bewusst, dass es jetzt merkwürdig anders war, unnatürlich, angsteinflößend, nein, so genau nicht, so genau empfand er es erst später, viel später, in Erinnerungen , in anderen Träumen, einmal in einer Nacht neben der Frau, die nichts besonderes ist, weder bedeutend noch unbedeutend, jener Frau also, die zu einer Zeit, als sie noch gar nichts wusste, jenen verhängnisvollen Koffer geöffnet aus dem Fenster warf, sechster Stock, einmal also wird diese Bewegung der Gänse am nun schon sturmgetriebenen Himmel ihn heimsuchen, ihn aufstacheln, in Ängste treiben, die deshalb unvermutet sind, weil nichtwissend wovor, auf dem Wasser aber war es nur die Veränderung, die ihn allmählich erweckte, aus jedem Traum jäher heraus stieß, bis kein Traum mehr möglich, der Himmel längst grau, das Wasser längst schwarz geworden und in irgendeiner sehr unfassbaren Weise Strand und Welt verschwunden waren.

In jener Nacht also, Toccata von Bach im Recorder, Mondlicht von irgendwo, wird diese Angst ihm kommen, obwohl doch längst alles hinunter, sehr vergangen, der Knabe geborgen im Bett seiner Mutter war, und mit der Angst aber auch ein Anderes, eine Vision, ein verlockendes Spiel mit ungeheuren Vergangenheiten, ein hartes, verzweifeltes Spiel, ein Kind wird geboren werden auf dem Fischmarkt, dessen Fassadenfenster mit gekreuztem Holz vernagelt waren, dieses Kind wird in einem Haufen aus Lumpen und Abfall geboren werden, zufällig, und die Lumpen wird man, hernach, verbrennen, wie alles verbrannt werden wird in jener Stadt auf jenem Markt, auch die Menschen...aber was sage ich da, oder wie sage ich es, ich kenne es nicht, auch er kennt es nicht, er weiß nichts davon, nur, dass das Kind Johanne hieß, laut Kirchenregister, und blond war, rotblond wie die Mutter, gefallen unterm Hexenhammer, denn Pest stand als glühende Furie im Land.

Und in der Nacht, neben jener Frau, die danach anfing an ihn zu denken, oder besser nachzudenken über ihn, und plötzlich feststellte, obwohl sie eigentlich gar nicht geneigt war, an diesen da mehr als ihre festen Hände und Schenkel zu verwenden, die also trotz allem feststellte, dass seine Eigenarten anfingen, ihr aufzufallen, sie wusste anfangs nicht, in welcher Form, ich meine, sie wusste nicht, ob es ihr unangenehm war oder das Gegenteil, zum Beispiel als sie merkte, dass sein Zuspätkommen ins Kino, oder ins Theater, oder auch sonst wohin, nicht Zufall war, sondern Methode, in jener Nacht also , wobei ich nicht weiß, wieso es uns möglich ist, immer wieder dahin zu gelangen, wohin wir eigentlich erst zu einer ganz anderen Zeit gelangen wollen, später nämlich, wenn wir mit all den Vergangenheiten zurande gekommen sind und Zeit haben werden, zu verweilen, uns dieser Frau zu widmen, obwohl wir eigentlich jetzt schon wissen, dass sich das nicht lohnen wird, warum auch, bei soviel Nichtsbesonderssein, aber vielleicht irren wir uns?

Ja also, in jener Nacht bei dieser Musik, Toccata von Bach, geschah es eigentlich, dass während ihm das Bild einer pestgewürgten Stadt erschien und jenes Kind, das , kaum geboren, schon ohne Mutter war, es anfing, ihn zu dem Gefühl zu bringen, alle Schicksale seien von Krieg und Pest und Wasser und Feuer durchdrungen und so lohne eigentlich alle Mühe wenig, es liefe doch wieder auf Feuer und Wasser hinaus, und auf Erde natürlich, wenn Sie wollen, oder besser gesagt : ASCHE-

Während das ihn also heimsuchte, Johanne, Johannes, Johannes, Johannes, Johanne, Johanna- und das war seine Urgroßmutter, deren Bild auf Porzellan gemalt zwischen lavendelduftender Bettwäsche lag, geschah es, dass die Frau an der Wand das Schattenspiel gegen den Mond gedrängter schwebender Gardinen sah, und davor das Auf- und Ab eines flach liegenden Brustkorbes, Gesichtspartie mit offenem Mund, alles Profil, und sie erschrak.
„Den da,“ dachte sie empört, „ werd ich aufpäppeln müssen. Das fehlt noch, so’n Scheißkerl passt nicht in mein Bett...“
Entschlossen drosch sie auf den Recorder, Stille setzte ein, der Mann richtete sich jäh auf, verlangte Wasser, kalt, nur kalt, alles kalt, „alles ist kalt“ dachte er, er dachte es nicht in Worten, es kam auf andere Art in ihn, es kam mit dem vergangenen Blau zurück, mit den Gänsen am Himmel, mit ihrem abgerissenen, fetzenartigen Schrei, diesem schrillen Diskant, der auch Sturm sein konnte, oder Reiben der herrenlosen Riemen in den Dollen, ein Schrei, der überging in ein Aufbrechen aller Gewalt zwischen Himmel und Wasser und Boot und Knabe und vielleicht jetzt längst schon vom Knaben selbst ausging, obwohl es wahrscheinlicher ist, dass er schwieg, dass er still war, von jener furchtbaren Stille, die weiß: ich bin da und außer mir ist nichts...

Wie immer er es später sah, jetzt erst, neben der Frau, das Glas mit dem kalten Wasser zwischen seinen Händen balancierend, sieht er sich am Grunde des Bootes angelangt, das Gesicht in einen Haufen teerigen Wergs gepresst, Wasser sprüht um ihn, er sieht sich und... ANGST...
 
S

suzah

Gast
hallo karinina,

zum teil sehr schön, obwohl ich sturm auf dem meer etwas anders kenne als von dir beschrieben, aber ab: "In jener Nacht also..." blicke ich nicht mehr durch, und das liegt nicht nur an den sehr langen zum bersten gefüllten sätzen.
erst ein knabe, später ein mann?
was ist mit dem koffer, den die frau aus dem fenster wirft, die geburt auf dem fischmarkt erinnert an "das parfum".
es erscheint mir etwas verworren, ein traum, eine erinnerung des schiffbrüchigen?

liebe grüße suzah
 

Karinina

Mitglied
für Suzah

Ja ich weiß, ich hab mir das schon gedacht, die Verwirrung ist der Tatsache geschuldet, dass es ein Auszug aus einer Geschichte ist, die nur in meinem Kopf existiert, eine lange Beziehungsgeschichte, das Phänomen Angst hat mich gereizt, von Dir angeregt. Und die Möglichkeit, sich in solchen geschachtelten Sätzen mal auszulassen, ohne die Übersicht zu verlieren...
Die Bootsgeschichte spielt nicht auf dem Meer, es ist auf dem Kummerower See passiert.
L.G. Karinina
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
also

ich möchte unbedingt die ganze geschichte lesen.
deine schachtelsätze sind der helle wahnsinn! auch ne art, sich auszudrücken. muss man aufpassen wie im irrgarten . . .
lg
 

Karinina

Mitglied
Für Flammarion

Oh Gott, das macht Mut. Ich dachte schon, Ihr haltet mich vielleicht für eine Spinnerin. Die ganze Geschichte allerdings braucht noch Zeit. Aber Spaß hat's gemacht...
Großen Gruß von Karin
 

Herbstblatt

Mitglied
Liebe Karinina,

ach ja,ich würde auch gern mehr lesen. Mir haben deine Sätze gefallen - nur wars für mich alles in allem noch zu verwirrend. Da drüber "Auszug" steht, hab ich mir gedacht, du zeigst uns den Rest vielleicht noch?

Sag mal, bist du sicher, dass es am Kummerower See Möwen gibt? (Kleiner Plausibilitätstest*zwinker*)

LG Herbstblatt
 

Karinina

Mitglied
Für Herbstlaub

Danke, für die Verwirrungen hab ich Verständnis. Und da es sogar in Dresden Möwen gibt...
L.G. Karinina
 
hallo liebe Karinina

Dein Text hinterlässt ein sehr beklemmendes Gefühl bei mir. Der Jüngling wird von seinen Träumen gehetzt, wie ein Beutetier auf der Flucht, und es scheint mir, er fliegt von einem Déjà-vu in das nächste. Er kann seiner Angst nicht entkommen, dass weiß er. Zu tief, viel zu tief sitzen diese Ängste.

Einen Rat möchte ich dir geben:
Mit persönlichen Texten, liebe Karinina, sollte man immer aüßerst vorsichtig sein. Es könnte verletzen. Überleg dir immer ganz genau, was du mitteilen möchtest. Denn eigentlich sind hier die meisten deiner Leser nur Fremde, die keine Rücksicht auf irgendwelche Gefühle nehmen. Eine Möglichkeit besteht darin, dass du solche Texte in der Rubrik Tagebuch einstellst. Dort wird Rücksicht genommen, da man ja schon im Voraus weiß, dass es sich um etwas Persönliches des Autoren/in handeln könnte.

liebe Grüße

Gernot
 
S

suzah

Gast
hallo gernot,
wieso kommst du darauf, dass dies ein persönliches erlebnis der autorin ist. sie stellt lediglich fest, dass es sich um eine begebenheit am kumerower see handelt, also sturm und evtl schiffbruch?
lg suzah
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
yep,

es gibt möwen am kummerower see. sogar mehrere arten.
das bild, das du hier von ihnen zeigst, finde ich hinreißend. ja, diese tiere "fallen" über den himmel . . .
lg
 
S

suzah

Gast
hallo karinina,
mir fiel folgendes auf als ich deinen text nochmals las:

"Er sah Wikinger und Karavellen vorbeiziehen und zwischen ihnen tauchte manchmal eine Dau auf, dreieckskrummseglig wie die Schwerter der Sarazenen, unzählige Prisen hinter sich herziehend, an deren Rahen die gebleichten Knochen der Kapitäne wie Segel in der Sonne blitzten."

abgesehen davon, dass es durch den etwas verschachtelten satz so aussieht als ob die "rahen" sich auf die "prisen" beziehen, so haben, so weit ich weiß, nur andere segelschifftypen "rahen", die querhölzer an denen die segel gerafft werden (z.b. großsegler wie die"passat" o.a.), nicht aber eine dhau.

liebe grüße suzah
 

Karinina

Mitglied
zum Thema

lieber Gernot, ich weiß, was Du denkst, aber das ist es nicht.
Du selbst hast gesagt, die Geschichte nicht mit dem Schreiber verwechseln. Mir geht es um den Stil, es ist ein Experiment, und ich würd eben gerne wissen, wie das funktioniert.
Für Suzah: Ich denke, Du hast recht mit der Dau. Werd ich ändern müssen.
Für Flammarion, ach, danke Dir. Das tut mir gut.
Für alle einen schönen Gruß
Karinina
 

Rumpelsstilzchen

Foren-Redakteur
Teammitglied
Getreu meinem Vorsatz, jeder Drohung die gebührende Tat:

Der gewählte Schreibstil ist zweifellos eine spannende Herausforderung, für Autor und Leser. Du hast sie recht gut gemeistert, auch wenn mache Fortsetzungen der Sätze etwas willkürlich angeknotet wirken. Zum Beispiel hier:
...auch ein Pfeifen zog dahin, die Möwen nicht, die Möwen fielen irgendwie über den Himmel, und später kamen die Gänse,...
Nach dem 'nicht' gehörte ein Punkt, denn trotz des Krummhakens liest sich das Folgende als eigenständiges Satzgebilde.
Ähnlich hier:
..., die deshalb unvermutet sind, weil nichtwissend wovor, auf dem Wasser aber war es nur die Veränderung,...
In diesem Fall liefert der Situationssprung zurück auf's Wasser ein zusätzliches Argument für die Trennung.

Es gibt noch ein paar Stellen, wo der Langstil zwanghaft wirkt, lautes Lesen kann bei der Suche helfen. Es offenbart auch zuverlässig Störungen in der Satzmelodie, die gerade bei so komplexen Konstruktionen entscheidend für die Wirkung des Textes ist:
Atemlose Jagd durch ein Unterholz von Satzstücken, bei der hinter jedem Komma ein neues Bild hervorspringt.

Oder wie ein Tsunami aus der Tiefe steigend, mit unerbittlicher Langsamkeit zu einem mächtigen Berg schwellend, den wir gebannt anstarren, den Kopf in den Nacken gezwungen, wie der Scheitel weiß gekrönt eine sekundenlange Ewigkeit inne zu halten scheint, ehe er sich selbst voraus eilend neigt, um von links mit rasendem Donner in brodelnden Schaum zu brechen, ehe er heimkehrt, siegestaumelig, strudelnd, wirbelnd.

Beides geht oder auch ganz anders, hängt davon ab, was Du mit dem Leser anstellen willst. Aber da scheinst Du Dir selbst noch nicht schlüssig zu sein. Denk mal drüber.

Im Kleinklein will ich jetzt nicht porkeln, nur eines ist mir so in die Zahnlücke gerutscht, dass ich stochern muss: das Pfeifen der Gänse.
Die Viecher schnattern (am Boden) oder schreien. Aber pfeifen? Ich muss unwillkürlich dabei an Mordillo denken und sehe eine Gans mit gespitztem Schnabel vor mir ;-) Aber wahrscheinlich hört wieder kein Schwein...

Wie besonnen in die Tasten geronnen
 

Karinina

Mitglied
Für Rumpelstilzchen:

Das und noch viel mehr liegt mir nun verquer oder besser wie Honigseim im Magen und woanders auch...
Danke, und nun verzieh ich mich und die Überarbeitung wird für einige Zeit vertagt...
Mein Gott, der Tsunami hat Wirkung, der Schreiber hat es gut, der weiß eventuell, was er will...Liebe Grüße von Karinina
 



 
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