BorderlineCASE Short-Story No.1

4,70 Stern(e) 3 Bewertungen
BorderlineCASE

Von
Christopher Müller

I hurt myself today to see if I still feel I focus on the pain the only thing that\'s real ...
- Nine Inch Nails

Sie tat sich schon immer Dinge selbst an, denn Katie wusste, dass sich die Wahrheit über das Leben nur im Schmerz finden ließ. Auch wenn sich dies nur die Wenigsten eingestanden, und noch weniger wussten …
Katie war ein Cornflake girl. Sie trug seit der dritten Klasse Shellys-Rangers. Sie hasste die billigen Imitat-Undercover-Botten. Aussehen war ihr schon immer wichtig gewesen, denn es war ja das erste, was die anderen jemals sahen, meistens das einzige, denn in ihr verschlungenes, verworrenes Innere, ließ sie eh kein blicken.
Der Fernseher war schon vor Monaten schrott gegangen. Dabei war es ein uraltes Telefunken-Model. Aus einer Zeit, als Telefunken noch in Deutschland produziert hatte und der Rahmen des Fernsehers aus echtem Eichenholz bestand. Aber dann konnte man sagen, dass er auf seine Art noch immer funktionierte. Denn man konnte ihn noch ein und ausschalten, aber es gab nur ganz marginalen Empfang, der unter den schwarzen und weißen Flimmerpunkten unterging, die ein Clown einmal Schnee getauft hatte. Ton gab es keinen mehr, nur noch infernales Rauschen. Trotzdem lief die Glotze tagein tagaus und verbreitete blaues Licht in der komplett schwarz gestrichenen Wohnung. Katie hatte einen Freund (nach dem anderen). Diesen jedoch schon seit einem Jahr, das war besonders.
John war dominant und nach außen eiskalt. So kalt wie menschliche Herzen. So kalt wie Großstädte. So kalt wie Blut.
John war fast zwei Meter groß und muskulös wie man es sonst nur von Tieren kannte. Ich sag nur Reitpferde und so. Er gab nie Geräusche von sich beim Sex. Er sprach auch sonst nicht viel. Dafür ließ er seine Mimik und seine schneidenden Blicke für sich sprechen. Blicke voll Ekel, Hass und Abscheu.
Katies Eltern hatten ihr einziges Kind geliebt, konnten es aber wie all zu viele Eltern nicht zeigen. Also wusste Katie das auch nie. Kein Wunder, dass sie von dem Gegenteil ausging. Wenig hatte Katie behalten, von dem was ihre Mutter so gefaselt hatte, aber ein Satz blieb all die Jahre hängen. Dein Vater hat eine Kippe nach der anderen geraucht, während ich dich zur Welt brachte, in dem schäbigen Krankenhaus. Hatte es da kein Raucherverbot gegeben? Hatte ihr Vater die Nikotinsucht über seinen Samen in sie übertragen? Oder warum war sie schon so früh süchtig geworden?
Man hatte ihr schon früh gesagt, wie schädlich Rauchen war. Da musste man es nicht erst in deutlicher Form auf die Kippenschachteln drucken (warum machte man das eigentlich nicht bei Alkohol? Womöglich deshalb, weil so viele Politiker Alkies waren …). Schließlich war derjenige, der ihr das immer vorgehalten hatte, namentlich ihr Vater, an Lungenkrebs elendlich verreckt. Aber das Rauchen war nicht das erste, selbstzerstörerische Verhalten gewesen, das sie an den Tag gelegt hatte.
Bereits im Kindergarten schlug sie ihren kleinen, verwundbaren Kopf gegen Zementwände und Beton. Und sie schabte sich mit Legosteinen ewig über die Haut, bis diese ganze wund und rot wurde. Ein instinktives Verhalten, das sie niemandem abgekuckt hatte. Ein Verhalten, das sie sich selbst nicht erklären konnte. Erst Jahre später war sie in der Lage, darüber zu reflektieren.
Kein Wunder also, dass man sie zu einem Kinderpsychologen schickte. Dieser alte Mann mit Hasenscharte und feuchter Aussprache ließ sie ein Bild malen mit Buntenstiften (keine Filzstifte, es war die Hochzeit der Ökos). Und warum? Sie hatte sich geweigert, zu sprechen und der Alte wollte sie anhand des Bildes analysieren.
Katie malte ein Bild mit sehr viel Rot … schon damals ihre Lieblingsfarbe. Trotzdem war die abstrakte Zeichnung unentschlüsselbar für den Diplom-Psychologen. Er war einfach nicht vorbereitet darauf, denn die meisten Kinder malten sachliche Dinge. Abstraktion kam erst viel später. Selbst Picasso hatte erst fast fotorealistisch gemalt, ehe er immer mehr entfremdete.
Also war der alte Mann mit den krustigen Spermaflecken auf der Jeans und mit dem halboffenen Hosenschlitz bereits leicht erbost. Er mochte es nicht, an seine Grenzen zu stoßen. Für ihn war Bestätigung seines beschränkten Wissens sehr wichtig. Was darüber hinaus ging machte ihn zornig. Seine Welt war klein und er wollte es so. Überschaubar. In Schubladen passend. Beschreibbar. Er war es gewohnt, Leuten und vor allem Kindern, Etiketten an zu heften.
Noch immer verärgert, brachte er die kleine minderjährige Katie dazu, sich auf dem Ledersofa lang zu machen. Darüber hing ein Poster von Sigmund Freud. Vorher hatte er ihr ein Glas Cola eingeschenkt, das sie begierig trank (Kinder lieben Cola, sowie alles Ungesunde). Was Katie natürlich nicht wusste, der Psychiater hatte ein wenig Valium in der Cola deponiert. Dann machte er eine Traumreise mit der Kleinen. Ich muss ergänzen, Traumreisen machen Psychologen nur, wenn ihnen wirklich gar nichts anderes mehr einfällt, um ihre Patienten zu beschäftigen. Wenn man es mit der Schule vergleicht, kommt es in etwa dem bei Kindern so beliebten Videofilm kucken gleich. Dieser Seelenklempner hatte jedoch diabolische Hintergedanken. Nun könnte man mir vorwerfen, es sei reißerisch oder unrealistisch, was danach passierte, aber es ist so ähnlich wirklich passiert, leider. Auch wenn man sich oft eine schönere Welt wünscht, so ist die Wahrheit und die Realität dann doch meist schmutzig und für die wenigen fühlenden Menschen zutiefst traurig.
Aus dem alten Tonbandgerät mit den riesigen Plastikscheiben, auf denen das Magnetband gezogen war, erschallte verrauschtes Meeresrauschen, das auf Katie zutiefst hypnotisierend und einschläfernd wirkte. Das war beabsichtigt. Wie ein Nikotin-geschwängerter, samtener Vorhang klappten Katies kleine Augenlieder zu. Warum sagt man Augenlieder? Singen die Augen Lieder?
Der alte Mann schob mit seinen langen Fingern (unter den Nägeln war undefinierbares Schwarz) Katies verwaschenes Alf-T-Shirt hoch und schob seine Hand in ihre Cord-Hose … Abblende.
Später drückte Katie Kippen auf ihrer Haut oder ihrer Zunge aus. Es tat gut. Der Schmerz tat gut! An Stellen, die nicht sofort ins Auge sprangen. Im Schwimmbad oder unter der Dusche hätte man es gesehen. Aber Katie duschte nur mit fast geschlossenen Augen. Man könnte jetzt kombinieren, dass sie Angst hatte, Shampoo ins Auge zu bekommen, aber die Wahrheit ist, dass sie den Anblick ihres nackten Körpers nicht ertragen konnte. Viele Menschen haben diese Gefühle erst seit der Pubertät, in einer Zeit, wo der Körper sich schnell und seltsam verändert, aber Katie hatte sich schon als kleines Kind nicht im Spiegel ertragen können. Einmal zerschlug sie dann mit einer Parfumflasche ihrer Mutter den Badezimmerspiegel, um sich nicht weiter sehen zu müssen. Dabei riss ihre Haut auf und Katie lernte so in blutjungen Jahren, dass unter ihrer zarten Haut solch farbige Flüssigkeit pulsierte. Es hatte natürlich Konsequenzen. Obwohl das Parfum schweinebillig gewesen war, hatte es eine heftige Strafe für Katie gegeben. In Form einer gewaltigen Tracht Prügel. Anfangs hatte sie noch Rotz und Wasser geheult, aber dann waren die Tränen nach und nach versiegt, während ihr Vater weiterhin wie besessen auf die einhieb. Es ist nur schwer nachzuvollziehen, was dem Vater dabei durch den Kopf ging. War er von Testosteron benebelt? Oder versuchte er in seiner Tochter etwas abzutöten, das in seinem eigenen Kopf wucherte wie ein Krebsgeschwür in den Lungen?
Katie hatte später einmal über Schläge mit John geredet. Normalerweise wäre er nie auf so ein Thema eingegangen, aber er hatte an dem Abend etwas zu erzählen gehabt. Sein Vater hatte ihn, so er sich richtig erinnerte, nur einmal geschlagen, was absolut nicht schlimm gewesen war. Schlimm war nur das Gerede seines Vaters gewesen, der deswegen noch Jahre später Komplexe gehabt hatte und dauernd wieder auf dieses Thema zurückkam. Dauernd davon sprach, wie leid es ihm tat, wie er sich dafür verachtete. Dieses Gerede hatte nämlich dafür gesorgt, dass John sich irgendwann selbst schuldig fühlte. Paradox. Er fühlte sich schuldig, geschlagen worden zu sein. Weil sein Vater darunter litt und John die Schuld bei sich suchte.
Ins Schwimmbad ging Katie eh nicht. Sie fand sich schon als Kind fett. Daran waren wohl ihre Verwandten schuld, die (erneut Paradoxie) sie einerseits mit Süßigkeiten sprichwörtlich überhäuften, dann jedoch wiederum den alten Verwandten-Standard-Spruch abwandelten von „man, bist du wieder groß geworden“ in „meine Güte, hast du wieder zugelegt“. Die omnipräsenten Models in der Werbung und an Plakatwänden taten dann ihr Übriges.
Kein Wunder, dass sie anfing zu kotzen. Mittlerweile ging das von ganz allein, sie brauchte nicht einmal mehr ihren Finger dazu. Und John fiel es nie auf, dass sie nach dem Essen kotzen ging. Es blieb nie Essen übrig. John war Asket durch und durch. Kein Gramm Fett am Leib. Er aß nicht viel. War absolut kein Genussmensch. Was sollte man auch anderes von einem Sportler wie ihm erwarten. Wer sich derart folterte mit Joggen, Gewichten und co. brauchte halt den Schmerz. Denn mit Vergnügen hatte sein zwanghaftes Training gar nichts zu tun. Das einzige Vergnügen war dann wohl, seinen durchtrainierten Körper über und ich wiederhole überall zu präsentieren. John war der Typ Mann, der Calvin Klein benutzte und auch so aussah wie die Kerle in der Werbung, halt nur nicht in schwarz weiß. Er fand auch Kate Moss attraktiv und bekam nicht wie die meisten anderen Männer bei ihrem Anblick den unbändigen Wunsch, sie unaufhörlich zu füttern. Ich muss nicht erwähnen, dass er einen Waschbrettbauch hatte. Der war in der Tat härter als ein japanischer Futon. Und es ist auch kein Geheimnis, dass Katie blaue Flecken davon bekam.
Es war schon befremdlich, für Leute, die es nicht wie Katie gewohnt waren, ihn zu beobachten. Stundenlang war er mit seinen Hanteln beschäftigt und gab dabei jedoch Geräusche von sich, die Katie beim Sex so schmerzlich von ihm vermisste. Sie saß dann irgendwo zusammengekauert vor dem kaputten, flimmernden Fernseher, mit Kippe im Mundwinkel und hörte ihm beim Stöhnen und Ächzen zu, sah, wie der Schweiß über seinen Körper perlte und sie das Gefühl bekam, er würde bei den unmenschlichen Strapazen, denen er sich freiwillig alltäglich und stundenlang aussetzte, mehr Lust empfinden, als in ihrer Gegenwart … Das schürte dieses alte Selbsthass-Gefühl in ihr, das sie schon so lange innerlich und jetzt auch äußerlich kaputt machte. Dieses unlöschbare Gefühl, man würde nicht geliebt werden. Egal was die Ratio, der Verstand sagte. Egal wie oft John sagte, er liebe sie. Es brachte ein gar nichts. Und eins musste man John lassen, auch wenn er wenig sprach und Schwierigkeiten hatte, Gefühle zu zeigen, die Liebe, die er aufrichtig Katie gegenüber empfand, konnte er auch hin und wieder in Worte fassen, und das ohne nerviges Reimschema.
Aber Katie konnte es nicht glauben… Ihr Schatten, die Stimme in ihrem Hinterkopf, übersetzte das Ich liebe dich für sie: „Ich sage dir, dass ich dich liebe, Katie, um mich selbst davon zu überzeugen, weil ich weiß, dass es in Wirklichkeit nicht so ist. In Wirklichkeit, Katie, finde ich, dass du viel zu fett und hässlich bist. Ich suche eigentlich schon seit wir uns kennen, nach einem Ersatz für dich, solange halte ich es dann noch notgedrungen mit dir aus. Auch wenn mit dir schlafen so langweilig ist, als würde man es mit einer schwabbligen Leiche treiben!“
John hatte nie solche Gedanken! Ich wiederhole, er hätte auch nie so gedacht. Nie im Leben! Aber die Stimme in Katie war niederträchtig und verdammt mächtig. Diese Stimme wusste alles in ihrem vermaledeiten Zynismus. Die Stimme kannte Johns Verstecke, wo er seine Rasierklingen deponierte. Die Stimme sagte Katie, dass sie niemals längs schneiden sollte, denn dann hätte dem Leid ja ein Ende gesetzt und so war das Leben nicht gedacht. Man musste brav wie alle anderen bis zum Schluss im Brettspiel bleiben, bis man radikal von Freund Hein aus dem Leben gekegelt würde.
So war es angedacht und so mussten die Menschen es ausbaden. Von mehr als angedacht konnte man bei der Schöpfung auch nicht reden, denn wie war es sonst zu erklären, dass ein Igel, der sich instinktiv zusammenkauerte auf dem Asphalt, den Reifen eines LKWs nicht gewachsen war. Suizid hatten die Menschen auch nicht erfunden. In der Tierwelt hatten es die Lemminge vorgemacht. Aber so was kam wie gesagt für Katie nicht in Frage. Denn jeder verzweifelte Mensch weiß es. Es bleibt immer ein Schimmer Hoffnung im Kopf, der einen weitermachen lässt.
Einmal hatte Katie beim Aufräumen eine aufgeschlagene Ausgabe von Men´s Health (die mit Abstand menschenverachtenste Zeitschrift nach dem Stürmer) neben Johns Bett gefunden. Das Foto auf der Seite zeigte Kate Moss. (Was Katie nicht wusste, selbst Kate Moss hatte Narben auf der Haut, die man aber bei jedem Foto mit Bildbearbeitungsprogrammen entfernte)
Dieser Fund setzte üble Verwicklungen in Gang. In Katies Kopf ratterte es. Hatte John es jetzt nötig, auf Wichsvorlagen zurückzugreifen? War sie ihm nun wirklich nicht gut genug? Hatte er sie womöglich nur aufgerissen, weil ihr Name Kate so ähnlich klang? Die Resultate waren blutig. Katie konnte Johns Klingen nicht finden. Sie war den ganzen Tag allein in der Wohnung, denn John ging nun nach der Arbeit direkt ins Fitness-Studio. Kam erst spät heim, müde und wortkarg. Katie hatte ihren Job verloren, denn sie war Verkäuferin gewesen. Ein Kunde hatte erschreckt aufgeschrieen, als er Katies Narben am Arm sah, was den Chef zur sofortigen Kündigung getrieben hatte. Katie hatte mal irgendwo gelesen, dass sich das menschliche Leben im Scheitern manifestierte. Das hatte sie sich angestrichen, traf es doch so sehr auf ihr Leben zu.
John fiel nicht auf, wie Katie immer knochiger wurde. Ihm fielen nicht einmal die immer deutlicher werdenden Narben auf. Er war auf eine Art ein Ignorant, nein, schlimmer, ein bewusster Ignorant. Aber es wäre all zu einfach und fatal unrichtig, die Schuld für Katies Leiden auf ihn zu schieben.
John hatte selbst mit seinen eigenen Dämonen zu kämpfen. Er war von dem Gedanken besessen, dass nur sportliche, gepflegte, ja Klon-artige Menschen, Frauen abbekamen und in der Gesellschaft akzeptiert wurden. Es ist unmöglich zu entschlüsseln, wie er zu der irrsinnigen Ansicht gekommen war. Aber wie Katie war er auch von der Äußerlichkeit so besessen, dass es krankhaft war.
Er ging im Sport derart an seine Grenzen, dass es schon masochistische Züge annahm. Darüber war er sich selbst jedoch nicht im Geringsten im Klaren. Er hing einem veralteten Männerideal nach, das besagte, Männer müssten überlegen, muskulös und dominant sein. Dabei war er in seinem Herzen kein Stück dominant. Er war sogar zum Bund gegangen, womöglich weil er ein paar Mal zu oft gehört hatte, dass Zivis alle Drückeberger und Schwuchteln sind. Und dann standen sie alle um ihn herum. Keine Frauen (so war´s damals noch) und nur Gegröle, Gesaufe und Gelaber. Kerle, die nach sechs Bier und so weiter anfingen, mit dem jedem Kerl Brüderschaft trinken zu wollen. Danach wurden sie dann handgreiflich, wollten anfassen, gedrückt werden … Das fand John alles derart eklig, dass er es sich ganz schnell anders überlegte, beim Bund länger als die Mindestzeit zu bleiben. Dabei hatte er martialisches Geballer und Testosteronrausch erhofft …
Sein Job war dann auch urmännlich. Doch selbst dort gab es dann irgendwann eine weibliche Chefin, die es auf ihn abgesehen hatte, doch darum geht es hier nicht wirklich. Katie fand keinen neuen Job und war gefangen in der kleinen Wohnung mit all den Hanteln, über die sie dauernd im Dunkeln stolperte. Denn sie hatten keine festen Plätze, lagen immer überall im Weg herum. Sie selbst hasste solche Dinge. Das einzige, was sie hochwuchtete, war das japanische Schwert ihres Freundes, das als Phallussymbol über seinem Bett hing. Die Klinge war erstaunlich stumpf, aber es gelang ihr trotzdem, die Wunden damit wieder aufzukratzen.
John hatte irgendwann die Schnauze voll von Fitness-Studios. Das war mittlerweile auch keine reine Männerwelt mehr. Und außerdem nahm das dort langsam kranke Züge an wie beim Militär. Der neuste Trend (der alte _amerikanische_ Trend war gewesen, riesige Glasfenster um die Studios zu positionieren, damit die Leute einen draußen sahen und man drinnen einen Auftrieb bekam, den inneren Schweinehund zu besiegen, damit man dann später auch draußen am Fenster lang flanieren konnte, um mit den Fingern auf die Übergewichtigen drinnen zu zeigen) war, ausgemusterte GIs zu engagieren, die dann wie Drill-Sergeants mit den Sportlern umgingen, sie mit Härte und Gewalt zur Trainiererei antrieben. Das war John schon in der Grundausbildung auf den Sack gegangen.
John schlief weniger mit Katie. Dafür kann man jetzt verschiedene Gründe erfinden. Man sagt ja, dass in langjährigen Beziehungen die Lust aufeinander auf ganze natürliche Art und Weise abnimmt, was dann spätestens in der Ehe, nachdem die Kinder geschlüpft sind, ganz ausbleibt (so ein Scheiß, nur weil es oft so ist, muss es nicht die Regel sein. Fehlende Fantasie und Kreativität…). Oder man findet halt wichtigere Dinge im Leben, als der juvenile oft zwanghafte Paarungsdrang. Aber womöglich lag es bei Katie und John daran, dass John Sex zwar unwahrscheinlich oft praktizierte, aber nie wirklich großen Gefallen daran fand. Es war für ihn immer eine extrem aufgebaute und aufgebauschte Hoffnung, die dann ganz enttäuschend verpuffte, wie ein Helium Ballon, der eben noch so schön die Stimme mutiert hatte. Aber so recht wollte er sich das nie eingestehen, außerdem winkte ja jedes Mal ein neuer Versuch. Und für Katie war es etwas anderes. Es waren Momente, in denen sie ihrem Freund, derzeit John, verdammt nahe war. Sie suchte eigentlich viel eher Nähe, Zärtlichkeiten und solche Dinge. Aber sagen konnte sie das John auch nicht, der sie nur ganz selten richtig küsste.
Das war auch so eine Sache, die Katie in schlaflosen Nächten quälte. John hingegen schlief immer fest und sofort ein, manchmal sogar mitten in Bettgesprächen, die Katie so wichtig waren, egal wie spät. Vielleicht lag es an all dem Sport, dass John so problemlos pennen konnte.
Katie kratzte oft mit ihren Nägeln über ihre Haut, was vollkommen unbewusst und instinktiv von statten ging. Als ihr das irgendwann auffiel, nahm sie sich felsenfest vor, die Nägel nicht mehr so lang und scharf werden zu lassen, aber auch mit stumpfen Gegenständen konnte man sich wehtun. Leider.
Auf eine Art war es ein Hilferuf, das Selbstverletzen. Aber nur auf eine Art, denn ihr Freund nahm das einfach nicht wahr. Als würde er die Schrammen und Narben gar nicht sehen, es war wie verhext. Oder sah er es und sprach einfach nicht drüber? Verdammt, man hatte sie gefeuert deswegen, wie konnte John das einfach ignorieren…
Aber diese erste übernatürliche Begebenheit sollte nur der Anfang sein, der in Katies Wahn mündete. Es fällt schwer, diese tragische Geschichte zu erzählen, man will ja auch nichts beschönigen. Aber die nächste Zeit an Johns Seite, sollte die Hölle werden, für die arme, in der Wohnung gefangene, kleine Katie. Warum denn bloß der kaputte Fernseher permanent an sein müsse, hatte Katie John besorgt gefragt. Aber er meinte nur, das muss halt so sein. Und dann saß Katie da tagein tagaus vor. Und John gab von nebenan diese heftigen, animalischen Laute, die sie eigentlich im Bett hören wollte…
Irgendwann sah sie ein Bild, hinter all dem flimmernden Punkten… Erst zweifelte sie noch an ihrem Verstand, dann wurde es aber deutlicher. Es war ein Smiley, die Farbe konnte man nicht bestimmen, der Telefunken war natürlich schwarzweiß. Und der fing dann an, mit ihr zu reden. Erst machte er ganz beiläufige Bemerkungen wie: Hallo, Katie, schickes AleX Page-T-Shirt. Das war natürlich sonderbar, denn Katie trug tatsächlich so ein Shirt. Es war ein selbst gemaltes Unikat, denn von AleX Page gab es kein Merchandising. Also hatte sie ein schwarzes Shirt genommen und mit Johns aufklappbaren Rasiermesser die Buchstaben heraus geschnitten. Darunter trug sie dann am liebsten ein rotes T-Shirt, es sah also aus, als seien die Buchstaben so tief geschnitten, dass Blut sichtbar wurde und Fleisch. Das war aber auch ein wenig zwiespältig von ihr. Sie kannte mittlerweile ihren zerstörerischen Drang und litt darunter, nicht mit der Ritzerei und so weiter aufhören zu können, aber gleichzeitig genoss sie es eben auch. Vielleicht war auch das T-Shirt ein weiterer Wink in Richtung John. Aber auch darauf ging er merkwürdiger Weise nicht ein.
Die Bemerkungen der Flimmerkiste (im wahrsten Worte des Sinnes) wurden immer pikanter, bizarrer und im Endeffekt erschreckender. Netter Ausschnitt, willste fremdgehen, Katie? Darauf kam einen Tag später: Ist das deine Naturhaarfarbe, in deiner Nase? Dann schwieg der Apparat ne Woche lang ganz. Trotzdem saß Katie mit einem Notizblock und Schokolade stundenlang davor. So fing sie an, rumzukritzeln. Sie hatte seit der Kindheit nicht mehr gemalt und jetzt fand sie Gefallen daran. Erst waren es nur Strichzeichnungen, dann wurden die Bilder deutlicher. Sie nahm nun bunte Wachsstifte, am liebsten rot. Ganz viel rot aufs Karopapier. Dann sprach die Glotze wieder: Hey, Katie Moss! Probier mal dein Blut als Farbe, ist doch roter!
Katie bekam einen Mordsschreck. Sie hatte nicht mehr mit dem Fernseher gerechnet. Und was er sagte, machte ihr furchtbar Angst. Sie werden mich in Zwangsjacken packen und wegsperren, ging es ihr durch den zerzausten Kopf. Dann kam John von der Arbeit. Er strahlte und sah glücklich aus. Katie traute sich nicht, die Sache mit dem Fernseher anzusprechen. Dies hätte ihren womöglichen Wahnsinn demaskiert, das konnte sie nicht zulassen. Sie sprintete in die Küche und fing an, Johns Lieblingsgericht zu kochen. Es war keineswegs so, dass Katie die einzige war, die kochte, aber jetzt wo sie arbeitslos war, wäre es unfair gewesen, ihn abends noch in die Kirche zu schicken. Äh, Küche. Also kochte sie Nudeln ohne alles. Sein Lieblingsessen. Sie haute sich dann noch eine leckere Sauce drüber, aß wie im Rausch, weil sie Tage zuvor gehungert hatte. Nur Schokolade halt. Und Kotzen.
Und als John nur den halben Teller aß, hörte Katie die Glotze drüben wieder. Er hasst deine Art zu kochen, deshalb isst er immer auswärts. Willste wissen, wo John war? Nicht auf Arbeit. Er hat seit Tagen Urlaub und fickt eine andere!
Es war so, als würde der Fernseher Dinge wissen, die so noch nicht einmal in Katies Kopf gewesen waren. Und wenn die Saat der Zwietracht erst einmal gesät ist, wird man sie nie wieder los. In diesem Falle der Gedanke, dass John eine andere hat. Und dann kam er irgendwann immer später und später. Die Aschenbecher waren dann so voll, wie der blutrote Mond am Himmel. John war überzeugter Nichtraucher. Aber er tolerierte Katies Zigarettenkonsum, schränkte sie nicht ein, schickte sie in der Kälte nicht raus auf den Balkon, wie Katies Mutter damals, wobei sie einmal sogar ne Lungenentzündung bekam. Also keinen Lungenkrebs, wie ihr Vater. Paradoxie an allen Ecken und Enden …
Nachts konnte Katie nicht schlafen. John lag neben ihr, still wie eine Leiche. Sie fingerte an sich rum, drehte sich Locken mit den Fingern, kaute auf Nägeln, zählte Schafe und sah doch nur die Andere vor Augen, die mit John schlief und ihm diese Laute entzauberte.
Es war zum Heulen. Und Katie tat dies auch oft, aber immer nur allein. Das war so eine Eigenart, die ihre Mutter ihr vermacht hatte. Die Unfähigkeit in Gegenwart anderer zu heulen, egal wie groß die Trauer und der Schmerz waren, egal wie prall gefüllt die Tränensäcke waren. Tränensäcke waren stählern. Sie rissen niemals bei ihr. Fluch oder Segen? Definitiv Fluch!
Hach, es war schon eine schwere Zeit für Katie. Sie zweifelte nun nicht mehr nur an sich und ihrem Verstand, sondern auch an John, seiner Liebe und seiner Treue. All das ließ die Ritzen in ihrer Haut immer tiefer werden, tiefer als Schallplattenrillen, tiefer als Ackerfurchen und Tiefer als Schwarze Löcher …
Und der Fernseher wurde wieder munterer. Na, Kate, wie ist das Leben? Wenn du so weiter rauchst, wirste wie dein Papi enden. Rabenschwarz und krähentot.
Katie konnte es nicht mehr aushalten. Sie riss den Stecker raus, war doch egal, wenn John ihn anbehalten wollte. Und dann hatte sie vorläufig Frieden. Nur die Angst, John ginge fremd, plagte sie. Irgendwann rief sie dann bei Johns Arbeitgeber an und fragte nach ihm. Die Chefin sagte, John sei krankgeschrieben, das brachte Katies Fass zum Überschäumen. Der Fernseher hatte auf seine Art Recht gehabt. Verdammter Scheiß! Ihre Fantasie ging mit ihr durch, sie sah John mit dieser anderen Frau, die schlank war und sexy und nicht übergewichtig wie sie selbst! Sie waren glücklich zusammen. Und dann ging etwas anderes mit ihr durch, und zwar die Plastikgabel. Ihr Bewusstsein schwand. Das Ende vor Augen, kein Licht oder so, nein. Es spielte Musik in ihrem Kopf, es klang nach Stairway to heaven. Und sie ging einen langen Flur entlang. Dort stand ein älterer Herr ohne Bart und ohne Haupthaar. Er sah ein wenig aus wie Yul Brynner. Nur ohne Cowboyhut. Er sagte etwas zu Katie: Kleines, deine Zeit ist noch nicht gekommen. Du musst noch einmal zurück in diesen irdischen Irrsinn. Ich werde dir einen Rat mitgeben. Sei kompromisslos und sei herzlich. Sei verletzend und sei liebevoll. Versuche, alle Gefühle zu leben, unterdrücke sie nicht. Höre auf zu rauchen und höre nicht auf zu malen. Sei geheimnisvoll und sei bescheiden. Sei ruhig ein wenig arrogant bei Zeiten. Aber sei niemals brutal oder hinterhältig. Und nun drehe dich um und versuche, dein Leben umzukrempeln! Mach dir nicht dauernd Gedanken über deine Wirkung auf andere, so wirst du nie glücklich werden. Vergiss meine Worte nicht.
Sie lag in einem weißen Bett. Fixiert. Allein in einem Klinikraum. Sie hörte aus dem Flur leise Musik, es klang nach Stairway to heaven. Dann kam ein Mann mit Glatze herein. Er trug keinen Cowboyhut. Er lächelte sie herzlich an.
„Sind sie hier der Gott?“, fragte Katie.
„Nein mein Kind, das bin ich weiß Gott nicht …“, sprach er mit tiefer männlicher Stimme.
„Sind sie dann ein Arzt?“
„Nein mein Kind, ich bin auch kein Halbgott in Weiß.“
Katie spürte, dass sie mit Medikamenten voll gepumpt war.
„Wer sind Sie dann bitte?“
„Mein Name ist Heinrich Engel. Ich bin hier Patient.“
„Ähm, wo sind wir hier?“
„Dies ist eine städtische, geschlossene psychische Anstalt, mit einem Fassungsvermögen von 1013 Patienten. Sieben Ärzte arbeiten hier, ein Zivi und ne Menge Pfleger. Um sechs, zwölf und sechs ist Essen, jeweils danach Medikamentenausgabe. Die Bibliothek ist gut bestückt. Der Fernsehraum ist beliebt, aber selbst hier gilt Demokratie, also läuft es wie draußen meist auf Fußball oder Deutschland sucht den Superman hinaus. Wobei selbiger natürlich nicht gefunden werden kann, der trägt ja schließlich ne Brille und ist so nicht zu identifizieren. Meist trägt er die, wenn er gerade nicht einen Latexanzug mit Flügen trägt.“
Katie konnte ein Lachen nicht verkneifen.
„Moment. Das ist der verrückteste Scheiß, den ich seit langem gehört habe!“
„Danke. Ich habe es mir gerade frisch ausgedacht. Aber sage bitte den Ärzten nicht, dass ich mit dir gesprochen habe. Sie halten mich für einen Autisten und dementsprechend für scheinbar dumm. Ich rede hier mit niemandem, aber du hast mich mit deiner Präsenz erweckt. Ich habe mitbekommen, wie sie dich einlieferten, wie knapp du dem Sensenmann entsprungen bist. Das hat mich bewegt. Ich habe lange nichts mehr Erwärmendes erlebt. Ich sah nur noch Gewalt und Kälte in der Welt, bis ich das Sprechen verlernte. Bis ich nicht einmal mehr für mich selbst sorgen konnte. Mein Vater hatte mich nackig im Winter in einem Laubhaufen liegend gefunden. Er hatte nicht verstehen können, dass ich nur mit dem kalten Laub hatte spielen wollen. Er wies mich ein. Die Jahre vergingen. Und jetzt kommst du.“
„Wer hat mich hergebracht? War es John? Mein Freund?“
„Nein. Es tut mir leid. Ich weiß nicht wer. Das musst du selbst herausbekommen.“
„Aber wie? Ich bin festgebunden.“
„Das wird sich irgendwann ändern. Du bist erwachsen, du hast dich nicht selbst eingewiesen, das heißt, jetzt, wo du sprechen kannst, müsstest du dich eigentlich auch selbst entlassen können, wenn das dein Wunsch ist.“
„Wie lange bin ich schon hier?“
„Och, ich denke so ne Woche …“
„Und John war nie hier?“
„Nein, dich hat keiner besucht. Tut mir leid. Wirklich. Ich muss nun gehen.“
Ohne ein weiteres Wort war der Glatzenträger verschwunden. Katie schlief wieder ein und die Tage verflogen. Man band sie los. Sie aß, nahm Medikamente. Sprach mit Ärzten, die sie dann schließlich einen Borderline-Fall nannten. Es war ein medizinischer Sammelbegriff, der gerade in Mode gekommen war. Er passte eben auf fast jeden Menschen, respektive, war eine riesige Schublade für alle, die man sonst nicht einordnen konnte. Katie wollte sich nicht entlassen. Sie wartete erst noch auf John, aber er kam nicht, rief nicht an… Er ignorierte wohl wie damals, oder er war weg, mit der Frau oder allein oder Gott weiß was.
In der Klinik fing Katie wieder an zu malen. Und sie schrieb auch Tagebuch. Das war sehr erfüllend und half ihr zusammen mit der Therapie, sich und ihre Ängste, ihre Krankheit zu verstehen. Sie wusste nun, dass sie magersüchtig war und autoaggressiv. Immer mehr psychologische Begriffe wurden ihr beigebracht. Man sprach nun auch von Depressionen und von Verstimmungen. Sie lernte all das. Fing an zu verstehen, woraus das Verhalten resultierte. Malte Bilder darüber und schrieb alles auf. Aber sie konnte nicht aufhören damit. Selbst in der Klinik kotzte sie weiter. Sie tat sich auch immer noch weh, aber so geschickt, dass es die Ärzte nicht merkten. Irgendwann wurde sie entlassen. Sie fuhr mit der U-Bahn in ihre Wohnung zurück. Und dort saß John vor dem Fernseher mit einem Notizblock. Er weinte.
 
Ist das Horror?
Das ist doch der Alltag!
Aber vielleicht ist der Alltag ja Horror?

Es gibt Leute, die gesagt haben, ich würde ein Borderliner sein. Ich habe das brüsk abgewiesen. Aber in deiner Geschichte finde ich mich wieder. Also bin ich ein Borderliner. Aber ich kann es nicht haben, wenn mich Menschen in eine Schublade stecken. Dieses Gefühl habe ich nicht, wenn ich deine Geschichte lese. Ein Zeichen dafür, dass sie gelungen ist.
 

Inu

Mitglied
hallo Christopher

Einfach toll geschrieben Dein Text, voller Originalität, mit so vielen lebensbunten, treffenden Bildern! Ich bin begeistert von Deinem Stil und Deiner Ausdruckskraft.

Es ist ja eigentlich eine sehr tiefe, psychologische Beschreibung des Schicksals dieses jungen Mädchens und das ist mehr, als man normalerweise von Horrorstories erwartet. Für m i c h ist auch das subtile Ende sehr gut gelungen. Dass der Fernseher sich dann auch noch den Freund John "vorgeknöpft" hat, ist für mich Horror genug. Aber für manche Leser fehlt vielleicht der letzte, grausige Touch. Ich würde es jedoch nicht verändern.

Liebe Grüße und ein schönes Pfingsten
Inu
 
Hallo Christopher!

Stimmungmäßig ist die Geschichte klasse, auch das generelle Thema gefällt mir. Allerdings erscheint mir die Aufzählung der Lebensgeschichte ein wenig unstrukturiert, teilweise sind Dopplungen drin. Und die Vergangenheitserlebnisse erscheinen manches mal willkürlich, da könnte man den Zusammenhang verbessern, das würde die Glaubwürdigkeit erhöhen.

Von der Erzählöperspektive wäre vielleicht ein richtiger Wechsel zwischen K und J besser, und teilweise wäre ein wenig mehr Erzählung als Glosse/Satire besser.

Bis bald,
Michael
 



 
Oben Unten