Botschaft an Gudrun

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Silberstreif

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Jeder, der schon mal von Karlsruhe Richtung Stuttgart gefahren ist, kennt sie – die kleine grüne Brücke, die über die Autobahn führt, zwischen Heimsheim und Leonberg. In großer, weißer Schrift prangte darauf der Schriftzug: „Guten Morgen, liebste Gudrun“ und dahinter drei Ausrufezeichen !!!.
Ich fahre diese Strecke mit steter Regelmäßigkeit seit ungefähr drei Jahren und jedes Mal, wenn ich ihn sehe, entlockt mir dieser Satz ein Lächeln. Vielleicht sogar ein bisschen Wehmut. Wie viele tausend Frauen, die diese Brücke sehen, wünschen sich nicht, genau wie ich - zumindest für ein paar Sekunden - sie mögen Gudrun heißen?
Ich vergesse den Satz und die Brücke nach kurzer Zeit wieder und bin deshalb jedes Mal, wenn ich sie sehe, überrascht... Ach ja, die Brücke ...und Gudrun. Ich lese den Spruch, stelle mir kurz vor, wie sich der Mann – natürlich gehe ich davon aus, dass der Urheber ein Mann ist – gemüht hat beim Aufsprühen des Spruches. Er hat sich über das Brückengeländer gebeugt und so, kopfüber, spiegelverkehrt, einen Buchstaben nach dem anderen gesprüht. Das „g“ in „Morgen“ ist verkehrt herum, doch macht das die Botschaft nur noch liebenswürdiger, weil es zeigt, wie schwierig es war, sie zu schreiben.
Dieser Mann hat Gudrun geliebt.

Ich wünschte manchmal, ich wäre es auch einem Mann wert, mir eine derartige Hommage zu widmen.
Und dann stelle ich mir Gudrun vor. Sie wird diese Strecke oft fahren. Ein bisschen errötet sie, vielleicht vor Scham, oder Stolz, oder Glück und dann lächelt sie, denkt an ihn und freut sich über ihr Geheimnis – denn viele sehen mit ihr die Botschaft und keiner weiß, dass sie es ist, die gerade hindurch fährt, durch das Tor ihrer Huldigung durch männlichen Wagemut.

Es könnte natürlich auch ganz anders gewesen sein. Dieser Spruch ein Relikt aus längst vergangener Zeit, das Überbleibsel der Liebe eines Mannes an eine Frau, die das nie erwidert, nie gewollt und nie gewürdigt hat. Jeden Morgen fuhr Gudrun auf diese Brücke zu und musste die Augen schließen, weil es ihr so schrecklich peinlich war. Sie schlingerte durch den Verkehr und verursachte großes Durcheinander. Daraus resultieren vielleicht die vielen Staus bei Heimsheim.

Möglich wäre aber auch, dass sowohl Gudrun als auch ihr Verehrer längst nicht mehr diese Strecke fahren, weil sie umgezogen sind, nach Ravensburg oder Hildesheim und der Spruch nur eine leere Floskel geblieben ist, ohne Sinn und Zweck, die nur die Autofahrer ablenkt und sie auf dumme Gedanken bringt, so wie mich.

Doch dies ist meine Geschichte. Drei Jahre sah ich den Satz und stellte mir das Glück der Beiden vor. Gudrun nahm Gestalt an. Sie ist ungeheuer lieb, klein, blond und zierlich. Nicht mehr die Jüngste – ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass ein Teenager „Gudrun“ heißt - und ihr Verehrer ist vielleicht Klaus-Jürgen, ebenfalls klein, dicklich und ein Beamter im mittleren Dienst. Er war einmal in seinem Leben verwegen, weil die Liebe ihn dazu trieb einen Spruch an eine Brücke zu sprühen. Illegal. Eine Ordnungswidrigkeit. Sachbeschädigung oder grober Unfug oder so…

Heute war alles anders.

Die Brücke ist mit Bedacht gewählt worden. Klaus-Jürgen ist ein Pedant. Sie ist am Ende einer leichten Steigung, so dass man den Spruch schon von Weitem sehen kann.
Ich sah den Spruch, erinnerte mich und begann bereits zu lächeln, als ich erstarrte.
„Guten Morgen, liebste...“ und heute stand da nicht mehr „Gudrun“. Da steht jetzt plötzlich: „Guten Morgen, liebste Zeyno“.
Ich meine – wer zum Henker ist ZEYNO???
Oder WAS ist Zeyno?
Was ist mit Gudrun passiert?

Der Name und die drei Ausrufezeichen !!! sind sorgsam mit grüner Farbe überstrichen worden und darüber wurde „Zeyno“ gesprüht.

Hat ein rücksichtsloser Werbestratege hier die Möglichkeit erkannt, tausende von potentiellen Kunden täglich anzusprechen um ihnen eine Einbauküche anzubiedern? Jemand, der die Emotionalität in diesem Satz erkannt hat und aus der Identifikationsfigur „Gudrun“ ein Frühstücksmüsli kreiert hat? Oder wirbt er für Baudämmstoffe, Nudelsalat oder Sportunterwäsche? Schreckliche Vorstellung!

Oder war es ein Trittbrettfahrer? Ein mieser, kleiner Sprayer? Einer, der sich für seine Zeyno zwar auch ins Zeug - aber nicht allzu sehr - legen wollte und geleistete Vorarbeit für die eigenen Zwecke missbrauchte? Ein Idiot, der glaubt, Zeyno würde das schmeicheln, eine Raubkopie zu sein? Unerhört! Schmierfink! Plagiator!

Wie fühlt sich Gudrun nun, wenn sie morgens, in banger Erwartung, auf die Brücke zufährt und immer wieder aufs neue mit dem Verlust ihrer Identität konfrontiert wird? Sie wird Umwege fahren müssen um sich dieser Grausamkeit nicht mehr auszusetzen. Sie wird es Klaus-Jürgen erzählen und eines Tages steht dort wieder „Gudrun“. So muss das sein.

Noch tragischer wäre es jedoch, wenn dieser Klaus-Jürgen, der „Gudrun“ geliebt, gehuldigt und dann gesprüht hat, nun auf einmal eine Zeyno verehrt.
Natürlich macht die Tat, eine solche literarisch-künstlerische Leistung vollbracht zu haben, stolz. Also hat er sich in die schmächtige Brust geworfen, die Brille zurechtgerückt und jedem, der es hören wollte, gesagt: „Hey, kennst du den Gudrun-Spruch an der Brücke hinter Heimsheim? Das ist meine Gudrun und ich habe ihn gesprüht. Das war vielleicht ein Aufwand. Mann, habe ich geschwitzt. Ich musste ja ständig damit rechnen, dass die Polizei kommt und mich erwischt. Mich hat ja jeder auf dieser Brücke gesehen. Es hätte mich ja jemand erkennen können“.
Also wird auch seine Neue 'Zeyno' davon erfahren haben – und Klaus-Jürgen musste handeln.
„Ich habe sie gelöscht – die blöde Schnepfe. Nur für dich, liebste Zeyno. Damit die alte Kuh sieht, was Sache ist“.
Und Zeyno hat gekichert. Blöd gekichert. Denn zu einem warmen Lächeln, wie Gudrun, ist sie nicht im Stande. Sonst hätte sie das nie zugelassen. Sie hätte die komplette Auslöschung verlangt. Denn so, wie der Spruch nun da steht, ist er einfach nur entwürdigend.
Doch Zeyno findet das cool. Sie sonnt sich sicher in ihrem billigen Triumph über Gudrun und zieht den Unmut tausender Frauen und heimlicher Gudrun-Fans auf sich.
Ich meine: welche von uns kann sich denn mit dieser Zeyno identifizieren? Wir fühlen uns alle verraten! In den Schmutz getreten! Von der Brücke gestürzt!
Nie wieder romantische Autobahnliteratur mit Happy End, nie wieder ein bisschen Neid und das warme Augenzwinkern an die imaginäre Gudrun.
Welch eine Enttäuschung! Man hat mir meine Geschichte gestohlen!

Gudrun fährt weiterhin jeden Morgen unter der Brücke durch. Sie wird die linke Spur benutzen um nicht unter „Zeyno“ durchfahren zu müssen und sie wird rasen, trotz Geschwindig-keitsbegrenzung. Sie weint nicht. Sie verursacht Unfälle – die Staus bei Heimsheim (ich sag’s doch), weil sie nicht mehr die liebste Gudrun ist; sie ist nur eine unter tausend Frauen am Steuer, die eine Geschichte zu dem Spruch erfinden. Nur ihr bricht er jedes Mal das Herz.

Auch wenn sie es war, die Schluss gemacht hat mit Klaus-Jürgen, so hat sie eine solche Demütigung nicht verdient. Wie würde das auch aussehen, wenn Maler oder Bildhauer ihre Modelle in ihren Werken enthaupteten, um einer neuen Muse den Platz einzuräumen? Grotesk wäre das. Die Mona-Lisa mit dem Kopf einer Yvette, oder Jaqueline.
Vielleicht scheint es ein wenig weit hergeholt, diesen Graffiti-Spruch mit einem Kunstwerk zu vergleichen, aber seien wir doch mal ehrlich: ein Kunstwerk ist doch das, was wir selbst dafür halten, was uns gefällt, was in uns Emotionen auslöst. Und nicht das, was ein Künstler, Galerist oder so genannter Experte, uns als Kunst präsentiert. Gudrun war für mich ein Kunstwerk. Sie hat mich zum Träumen gebracht und zum Lächeln. Und der Künstler war vielleicht nicht der kreativste doch zumindest der einzige auf meiner Strecke; und ich fand ihn rührend in seiner Verehrung.
Ich bin wütend. So was macht man einfach nicht. Das ist gemein! Böse! Unfair!

Die drei Ausrufezeichen !!! fehlen auch. Ist Zeyno ihm doch nicht so viel wert? Wie auch. Sie ist nur die Zweite. Wie Narben ziehen sich die ausgelöschten Buchstaben unter ihr hindurch und wie Mahnmale stehen die drei übermalten Ausrufezeichen hinter ihrem Namen. Wieso hat er die überhaupt gelöscht? „Zeyno“ ist doch sogar einen Buchstaben kürzer als „Gudrun“. Er hätte sie doch stehen lassen können. Aber nein! Zeyno ist keine drei Ausrufezeichen wert. Der Satz hat seinen Nachdruck verloren. Bei Gudrun war das noch ganz anders.

*

Gudrun, ich fühle mit dir. Man sollte an sämtliche Brücken dahinter sprühen: „Gudrun for ever“, „Gudrun for president“ meinetwegen – denn ein bisschen Übertreibung ist immer gut, „who the hell is Zeyno?“, „Solidarität für Gudrun“, immer wieder „Gudrun...“, bis nach München, Ravensburg und Hildesheim. Und dann zwischendurch noch den einen oder anderen Spruch an die Männer: „Männer sind Schweine“ oder so was, auch wenn man dadurch ebenfalls zum Plagiator wird.

Wir können nämlich auch fies sein, denn: sind wir nicht alle ein bisschen … Gudrun?



Anmerkung - der Text ist schon ein bisschen älter und die Brücke gibt es leider nicht mehr.
 

Odilo Plank

Mitglied
Liebe Silberstreif,
einfühlsame, liebevolle Variationen über Hingespraytes, gemeinhin als billig Erachtetes: "Was ist der Mensch, dass Du sein gedenkest..." Wie billig ist dieses Gedenken, wie flüchtig, wie mühsam?
Du hast es zur Kostbarkeit erhoben! Dass Menschen einander wichtig sind, das ist kostbar, mag es tausendmal armselig erscheinen. Liebste - liebe - Gudrun !!!, !!, !, .
Es wird immer Brücken geben und immer Bekenntnisse!
LG! Odilo
 



 
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