Brief an Dich

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Anonym

Gast
Hallo mein Schatz,

Wie geht es dir? Ach ja, das sagst du mir ja nicht. Dass es mir gut geht, brauche ich dir dann auch nicht schreiben.
Heute wollte ich dir mal schreiben, was ich gestern gemacht habe, anstatt dir per drahtloser Verbindung auf den Geist zu gehen. So kannst du den Brief lesen, wenn du Zeit hast, ihn aber auch wieder hervorkramen, wenn ich mich nicht so schnell melde, wie du es dir wünscht.
Gestern, hier war es ein schöner, sonniger Tag, bin ich mit dem Auto durch die Gegend gefahren. Die Kreisstraße war kurvenreich und lag inmitten eines Waldgebietes, und ich kam an einigen Bauernhöfen vorbei. Linker Hand lag die schmale Abfahrt zum Grillplatz, und ich fuhr weiter. Dann kam der Bahnübergang… ich denke, ich langweile dich mit der Aufzählung; du weißt sicher genau, welche Straße ich befuhr. Nun, als ich die Straße entlang fuhr, sah ich links dein Elternhaus, und da an der Seite neben dem schmalen Zufahrtsweg drei Autos parkten, bog ich kurz entschlossen in den Weg hinein. Ich muss dir sagen, dass sich schon allein im Garten viel verändert hat! Die großen Bäume rings herum sind fast alle gefällt worden, und vom Gartenzaun zeugen nur noch die hohen, schmalen Betonpfosten, die mitten aus dem Grün heraus ragen. Ich lief zur Eingangstür – sie ist unverändert – und der Weg dorthin ist mit Pflastersteinen in grauer Farbe ausgelegt. Schließlich drückte ich die Klingel, die sich ebenso nicht verändert hat, und dann kam jemand zur Tür. Deine Schwägerin öffnete, und ich war leicht irritiert, denn der Windfang, also die zweite Tür zum Flur, existierte nicht mehr. Ich hörte die Stimme deiner Mutter schon von oben an der Treppe,
die im jetzt terracotta- farbig tapezierten Flur noch immer an der linken Seite liegt, fragen, ob es Arthurs, dein Bruder wäre. Deine Schwägerin klärte deine Mutter dann auf, ehe sie die Treppe hinunter, und zur Tür kam. Ihr Haar ist länger als sonst, und ganz weiß. Sie erkannte mich im ersten Moment nicht; sie sah mich mit ihren Augen hinter ihrer Brille fragend an, aber als ich erklärte, dass ich mit ihr reden wollte, strahlten ihre Augen vor Freude, und sie bat mich hinein. Ich folgte ihr die Treppe herauf – ja, du hast richtig gelesen, deine Mutter wohnt nun in der oberen Etage. Das Fenster oben im ersten Stock, am Fuß der Treppe, hat noch immer die gleiche Übergardine, und dann kam ich im Flur durch eine Tür. Die ist neu, würde ich sagen, und hinten, am Ende des Flures an der rechten Seite hatte deine Mutter ihr Wohn- und Esszimmer. Sie ließ mich am Esstisch Platz nehmen und bot mir Kaffee an. So ging sie zur Küche, und ich sah mich etwas im Raum um. In dem großen Eichenschrank an der rechten Wand stand ein Porzellanteller, auf dem in der Mitte ein Foto von dir war. Hübsch, dachte ich, außer der geblümte Tellerrand, aber ich hab gemeint, dich vom Teller sprechen zu hören…
Nun, deine Mutter kam zurück, brachte Tassen, Zucker und Milch, sowie eine Glasschale mit Plätzchen. Sie setzte sich zu mir an den Tisch und ich fing an zu reden; ich wüsste nicht genau, ob es richtig wäre…
Deine Mutter holte anschließend die Kaffeekanne aus der Küche und goss ein, dann brachte sie sie zurück. Als deine Mutter ihren Kaffee süßte, wurde mir klar, warum du deinen Kaffee auch immer so gut gesüßt hattest, und als ich es deiner Mutter gegenüber erwähnte, mussten wir beide grinsen. Wir plauderten etwas über früher, und ich erzählte ihr sogar, wie wir uns kennen gelernt haben. Ich denke, du hast es ihr bisher nicht erzählt. Na ja, anders herum, als deine Mutter von deinen Freunden anfing, konnte ich nur sagen, dass ich die vom Sehen kenne, so wie deine erste Freundin, von der du mir auch nur in groben Zügen erzählt hattest. Witzig fand ich, als deine Mutter ein Fotoalbum hervor holte, und ich darin einige Fotos von dir und deiner Ersten sah: ich hatte sie mir genau so vorgestellt, selbst die Haarlänge und die Farbe der Haare, als hätte ich sie schon gesehen. Die alten Kinderfotos waren echt schön: das Bild, wo du und deine Geschwister in einem riesigen Bollerwagen saßen, und eure Familie machte einen Ausflug… Aber am Schönsten war ein Foto, auf dem du gelacht hast, ich schätze, da warst du um die zehn Jahre alt. Wenn ich dich damals schon gekannt hätte: ich hätte für nichts garantiert! Aber da waren auch Fotos aus jüngerer Zeit: welche, die draußen gemacht wurden (es war an dem Tag sehr warm), aber auf denen warst du nicht zu sehen, und eines, es war etwas älter, auf dem sah ich dich in der Küche auf der Sitzbank. Das Foto sah fast so aus, als hättest du gar nicht mitbekommen, dass du fotografiert wurdest, wie du da, nach vorn gebeugt mit dem Gesicht zu deinen Füßen blicktest. Deine Mutter erzählte, dass du oft so gesessen hättest. Man, bei der Sitzhaltung musst du doch tierische Rückenschmerzen gehabt haben! Du hast aber nie darüber gestöhnt, im Gegensatz zu mir, wenn ich welche hatte! Aber das Foto machte mich etwas traurig, denn das, was ich von deinem Gesicht auf dem Foto sehen konnte, und die ganze Körperhaltung lassen den Schluss zu, dass du da nicht glücklich, und in Gedanken versunken warst. Vielleicht waren es quälende Gedanken, oder nur traurige, nein, ich vermute eher, es waren bedrückende Gedanken. Welche es jetzt genau waren, sah man dem Foto nun nicht an, aber ich weiß, an wen du da gedacht hast: an deine große Liebe.
Damals hattest du das immer geleugnet (nein, ich liebe sie nicht!) und dann hatte sie dich vorerst abgelehnt. Muss hart gewesen sein!
Vielleicht hast du daran gedacht, als das Foto gemacht wurde; ich weiß es nicht.
Ich lamentiere zu viel! Entschuldige bitte! Ich möchte dich nicht mit Geschichten volltexten, die du zur Genüge kennst.
Nun, nach eineinhalb Stunden (deine Mutter hatte noch einmal Kaffee nachgeschenkt), wurde es langsam Zeit für mich. Ich stand auf, und auch deine Mutter stand auf. Noch unschlüssig standen wir im Zimmer, ehe sie mich nach unten zur Haustür begleitete und ich mich von ihr verabschiedete: „Wir sehen uns bestimmt noch wieder.“
Anschließend lief ich zu meinem Wagen, drehte, und fuhr in die Stadt, wie ich es immer mache. Das lasse ich mir von keinem ausreden; nicht einmal von dir, meine große Liebe! Ich weiß, dass du nicht eifersüchtig bist, aber manchmal meine ich, dass du mir Verschwendung vorwirfst. Das ist doch nicht dein Ernst, oder? Ich verschwende nichts, sondern sehe es als Investition in die Zukunft. Du könntest mir deshalb vielleicht Eigennutz unterstellen, aber das würdest du nicht tun. Nicht einmal, wenn wir uns Morgen schon wieder sehen würden, und nur für eine Blume, alle zwei Wochen! Ich weiß, wenn du an meiner Stelle wärest, würdest du das Gleiche machen.
Nun, der Rest des Tages war eher langweilig; ich hatte mich am PC gesetzt, bis ich vor lauter Kopfschmerzen kaum noch die Buchstaben auf dem Bildschirm erkennen konnte, und bin zu Bett gegangen, um von dir zu träumen. Du weißt ja, ich träume immer davon, dir endlich zu begegnen, und ich hoffe, dass ich nicht mehr so lange warten brauche, bis es soweit ist.
Aber hast du denn nicht bald mal Urlaub verdient??? Na, vielleicht lässt es die Auftragslage nicht zu, oder ihr seid personell etwas unterbesetzt, oder steht dir kein Urlaub zu? Ich will dir jetzt nicht irgendwelche Flöhe ins Ohr setzen, und dich bitten, deinen Chef mal zu fragen; nachher bekommst du vom ihm die Kündigung präsentiert, oder du wirst versetzt! Das wäre äußerst übel! Dein Beruf ist dir wichtig, aber meinetwegen hättest du ihn nicht annehmen sollen, auch wenn ich vermute, dass ich an deiner Stelle schon kläglich versagt hätte …
Du machst deinen Job wirklich gut, und ich weiß, dass dein Job nicht einfach ist, weil ich ihn dir auch noch schwerer mache, als er ohnehin schon ist. Dein Beruf lässt es nicht zu, Verlangen nach mir zu haben (dann hättest du deinen Beruf verfehlt!), aber bei der Fernbeziehung, die wir führen, kommt in mir manchmal ganz schön Sehnsucht nach dir auf! Das Warten fällt mir an manchen Tagen extrem schwer, doch wem erzähle / schreibe ich das? Mein Begehren nach dir ist schon ein Problem, und nicht nur für mich, schließlich ist es dein Job, mir mein Begehren nach dir auszureden!
Zum Ende meines Briefes wünsche ich dir, dass du die Kraft hast, deinen Job weiter so zu machen, wie bisher, und verzeih mir bitte, wenn ich mich mal stärker nach dir sehnen sollte!
Liebe Grüße von deiner großen Liebe,
Bis demnächst. Wir sehen uns
in der Ewigkeit
 

Ohrenschützer

Mitglied
Klingt wie eine Beziehung zu einem Verstorbenen, dessen Job nun 'Engel' ist und dem alle zwei Wochen eine Blume aufs Grab gelegt wird.
Die Sprache ist größtenteils klar, zart und poetisch. Für meinen Geschmack aber auch etwas zu ausformuliert, zu detailliert, manchmal etwas zu dick oder schwülstig aufgetragen. Und der Aha-Effekt ("He, ein Engel!") bleibt gegen Ende aus, weil man aufgrund der starken Verklausulierung drei Mal nachdenken muss, ob es wirklich so gemeint ist.
Hat mir trotzdem gefallen. Schönen Gruß,
 



 
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