Brief an meine Mutter

Mondfrau

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Brief an meine Mutter


Ich werde tanzen gehen. Mit meinem Mann heiße Liebesnächte erleben, jede Nacht. Leider werde ich mich nicht um dich kümmern können, da ich arbeite. Das kann man ja auch nicht erwarten. Was dir bleibt, ist das Altersheim. Deine Schwiegermutter konnte ja auch nicht von dir aufgenommen werden, da du gearbeitet hast. Deshalb hast du sicher Verständnis.

Wir werden einen regelmäßigen Besuchstermin vereinbaren. Alle vier Wochen ein Sonntag. Du wirst dich den ganzen Monat darauf freuen, jeden Tag auf deinem Kalender abstreichen, bis zu dem ersehnten Tag. Am Morgen des besagten Tages werde ich dich anrufen, um dir mitzuteilen, dass mein Mann und ich gestern gefeiert und einen gewaltigen Kater haben. Du hast natürlich Verständnis. Dann eben in vier Wochen. Leider feiern mein Mann und ich jedes Wochenende, so dass sich der Besuch auf einmal pro Halbjahr beschränkt.

Wenn wir es dann doch einmal hinbekommen, dich zu uns nach Hause zu holen, wird mein Mann furchtbar genervt sein und es dich spüren lassen, dass du nicht willkommen bist. Tapfer wirst du die Demütigungen ertragen, weil du doch auf die Liebe deiner Tochter angewiesen bist. Jedes Mal schwörst du dir, nicht wiederzukommen, aber die Sehnsucht ist zu groß!

Meine Leidenschaft ist nun mal mein gutes Aussehen. Ich brauche jeden Tag zwei Stunden, um mich vor dem Spiegel zurecht zu machen. Da habe ich natürlich keine Zeit, mich um andere zu kümmern. Ich muss schließlich schön sein, um die Welt zu beeindrucken. Mein Mann besteht ebenfalls darauf, weil er mit mir angeben will. Er macht zu gerne Witze über Menschen, die nicht gut aussehen oder behindert sind. Glaube mir, ich lache mich jedes Mal kaputt, wenn er „Krüppel“ imitiert.

Ja…, selbstverständlich. Manchmal wirst du jammern, weil dich die Pfleger im Heim nicht gut behandeln. Vielleicht schlagen sie dich auch ab und zu oder geben dir nichts zu essen. Aber das muss ich leider verdrängen, weil meine Prioritäten woanders liegen.

Das Wichtigste in meinem Leben ist nun mal mein Mann, meine Schönheit und mein Vergnügen. Mein Mann verlangt außerdem Zweidrittel meines Einkommens, weil er ja schließlich die Kosten für das Haus, die Versicherungen, sein Auto und viele andere Sachen zu tragen hat. Du siehst selbst, ich habe gar kein Geld, um mich um dich zu kümmern. Schließlich brauche ich auch ein wenig Taschengeld für meine Zigaretten, meine abendliche Flasche Wein, sowie meine Kosmetik und Kleidung.

Mein Mann ist die Liebe meines Lebens. Ab und zu betrügt er mich zwar, und wenn ich ihn dann zur Rede stelle, schlägt er mich. Aber er gibt immer alle seine Fehler zu, deshalb kann man ihm einfach nicht böse sein.

Wie du siehst, habe ich überhaupt keine Schuld daran, wenn es dir nicht gut geht. Ich habe dir ja nun meine Gründe erläutert und genauso erzähle ich es allen, die es hören wollen.
 



 
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