Briefgeheimnis

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tastifix

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Mit ihrem gerade absolviertem, ausgezeichneten Lehrerexamen konnte die 24jährige Sybill wahrlich zufrieden sein.
Sie stammte aus ärmlichen Verhältnissen. Eine Schwester ihres viel zu früh verstorbenen Vaters hatte sie an Kindesstatt angenommen und großgezogen. die Pflegeeltern handelten ihr gegenüber äußerst pflichtbewusst, aber ohne die tiefe Zuneigung,die jedoch für Sybilles normale seelische Entwicklung unbedingt erforderlich gewesen wäre.

Trotz überdurchschnittlicher, schulischer Leistungen entwickelte sich Sybill nicht zur egozentrischen Streberin, sondern verhielt sich zu weniger begabten Klassenkameraden stets hilfsbereit. Das brachte ihr viele Freundschaften ein, die auch in der späteren Studienzeit bestehen blieben. Obwohl sie überall sehr beliebt war, fehlte weiterhin der passende Lebensgefährte an ihrer Seite. Ganz offensichtlich hatte sie ihrer recht lieblosen Kindheit wegen Schwierigkeiten, sich ganz auf einen Gefährten einzustellen, ihm ihr Innerstes rückhaltlos zu öffnen. Dazu hätte sie die Schutzmaske der erfolgreichen jungen Frau ablegen und vor dem Partner die eigenen Mängel und Fehler aufdecken müssen. Zudem stellte Sybill extrem hohe Ansprüche; nicht nur an sich selbst, sondern erst recht an einen möglichen Partner.

Ihre beste Freundin Isabell sah Sybills Sololeben mit Trauer. Schon seit Jahren hoffte sie, dass ihre attraktive Freundin endlich ihr passendes Deckelchen fand. Aber, wie konnte sie ihr bloß helfen? Leider zog sich die junge Frau bei jeder noch so geringen Annäherung sofort in ihr inneres Schneckenhaus zurück und wurde völlig unzugänglich. Selbstschutz? Beherrschte sie die Angst, als normaler Mensch mit Mängeln und Fehlern gesehen zu werden und dass ihr wahres, sehr verletzbares Ich zum Vorschein kam??

Allmählich machte sich Isabell große Sorgen. Deswegen empfand sie dann die Einladung zu einer großen Party in ihrer Clique regelrecht als Zeichen des Himmels. An dem betreffendem Abend geschah es endlich: Isabell registrierte es hocherfreut, dass es zwischen Marcus, einem Freund des Gastgebers, und Sybill offensichtlich heftig funkte. Die beiden jungen Menschen hatten nur noch füreinander Augen und die Umwelt vergessen. Sollte endlich Sybills Einsamkeit der Vergangenheit angehören? Ach, wäre das himmlisch!

Sybill schwebte tatsächlich auf Wolken. Ihr Versuch, das starke Herzklopfen zu unterdrücken und jenes aufkeimende Gefühl zu ignorieren, das sie bereits von der ersten Minute an während des Gespräches mit diesem jungen Mann verspürte, scheiterte jämmerlich. Letztendlich kapitulierte sie. Sie hatte es sich doch in ihren Träumen ach so oft herbei gesehnt, es sich aber sofort wieder energisch verboten. Diesmal gab es kein Entrinnen, es hatte sie erwischt.

Isabell betrachtete Marcus prüfend und stimmte Sybill im Stillen nur zu gerne zu. Marcus war ein gut aussehender, sehr intelligenter Mann, ein Mann mit einer tiefen, wohl klingenden Stimme, einem anziehenden Lächeln, eben einer tollen Ausstrahlung und zudem den tadellosen Manieren eines Gentlemans. Er war Sybills Traummann.

Isabells sehnlicher Wunsch erfüllte sich. Die Beiden wurden ein Paar, unternahmen täglich etwas gemeinsam und ließen ihre Verbindung langsam immer enger werden. Sybill blühte auf und schwebte in den ersten Monaten des Zusammenseins sichtlich im siebenten Himmel. Doch in der Regel ist der Aufenthalt dort kurzzeitig begrenzt. Danach holt einen der Alltag ein, in dem sich dann die Qualität und Beständigkeit einer menschlichen Beziehung beweist.
Weshalb sollte es Sybill anders ergehen?

Marcus und sie hatten sich zusammengerauft, alle kleineren und größeren Probleme der letzten Monate gemeinsam gemeistert, kleine Streitereien ausgefochten, die anschließende Versöhnung aus vollem Herzen genossen und auch die Freude darüber miteinander in innigster Weise geteilt. Nach Ablauf eines halben Jahres jedoch registrierte die junge Frau zunehmend die Schwächen ihres Partners als auch Eigenarten, die sie vorher in erster Liebe unbewusst oder auch willentlich übersehen hatte.

Es stellte sich heraus, dass Marcus, der Sohn aus vornehmer Familie, sich total der Lebensart seiner großbürgerlichen Gesellschaftsklasse unterworfen hatte. Er erwartete von der Partnerin totale Anpassung und sogar Unterordnung. Sybill richtete sich danach,litt aber mit der Zeit zunehmend darunter. Sie war Freiheit wie auch Entschlussfreiheit gewöhnt. Aber jetzt übernahm Marcus drängend immer strenger ihre gemeinsame Lebensplanung. Meistens fällte er die wichtigen Entscheidungen, oft sogar, ohne zuvor ihr Einverständnis einzuholen. Die Streitereien häuften sich und endeten jedes Mal mit einem hilflosen Heulanfall seiner Freundin. Weshalb tat er ihr das an? Wo war seine einfühlsame, rücksichtsvolle Art geblieben, die sie mittlerweile so sehr vermisste, jedoch dringend brauchte, um Geborgenheit zu empfinden?

Da sie ihn um keinen Preis verlieren wollte, gab sie klein bei und überließ letztendlich alles ihm. Empfand er es etwa gar nicht oder - ein weitaus quälenderer Gedanke für seine junge Partnerin - verdrängte er willentlich das aufkommende Wissen um ihr Leid? Durch ihr Benehmen unterstützte Sybill noch sein Bestreben, diese Führerrolle in vollem Maße auszuleben. Hätte sie sich anders verhalten,hätte der gemeinsame Lebensweg schnell ein Ende gefunden.

Ihre Liebe zu ihm, aber auch der von ihr so oft ersehnte Wohlstand bedeuteten Sybill dermaßen viel, so dass sie tapfer alles hinunter schluckte, was sie in dieser Partnerschaft zu quälen begann und brav die von ihr erwartete Rolle einer angepassten Dame der Gesellschaft spielte. Dadurch entkräftete sie innerhalb kürzester Zeit die Vorurteile, die ihr wegen ihrer niederen Herkunft von Seiten der Eltern ihres Freundes entgegengebracht worden waren.

Vor allem Marcus Vater war von Sybill begeistert und wünschte sich nichts sehnlicher, als dass die Beiden ihr gemeinsames Leben durch eine baldige Heirat legalisierten. Ja, sie war die richtige Frau für seinen Sohn und zugleich die passende, vorzeigbare Schwiegertochter für ihn und seine Gattin. Sie war intelligent, obendrein sehr hübsch und beherrschte die erforderlichen Umgangsformen. Was wünschte man sich mehr?

In den zurückliegenden Monaten war Isabell eine beunruhigende, schleichende Veränderung Sybills aufgefallen. Darauf angesprochen, versicherte ihr ihre Freundin, es sei alles wie sonst in bester Ordnung. Im krassen Widerspruch dazu verstummte als Folge wachsender, innerer Verkrampfung ihr fröhliches Lachen mehr und mehr. Sie verschloss sich zusehends.

Einige Wochen später hakte Isabell nochmals eindringlichst nach, bis Sybill ihr dann unter Tränen gestand, dass sie sich wie in einem goldenen Käfig gefangen fühle, als ob sie ihre Persönlichkeit hätte aufgeben müssen. Entsetzt lauschte die Freundin diesen verzweifelten Worten. Aus der jungen Frau brach in diesem Gespräch alles hervor, was sich in den vergangenen Monaten an Frust und Ängsten angestaut hatte. Isabell sah erschüttert ihre Befürchtung bestätigt, dass die Freundin mit ihrer Kraft fast am Ende war. Wie lange stünde Sybill noch diese ihr aufgezwungene Rolle durch?

Zog Isabell ihre Schlüsse aus dem, was sie da erfuhr, ließ der Nervenzusammenbruch mit Sicherheit nicht mehr lange auf sich warten. War der neue Lebensstil für sie dermaßen wichtig, an Marcus` Seite als zukünftige Dame der Gesellschaft eine ihr bis dann ungekannte Art der Anerkennung und Bewunderung genießen zu können? Nahm sie deshalb dieses Marionettendasein in Kauf, setzte sie dafür sogar ihre psychische Gesundheit aufs Spiel? Oder liebte die ihren Marcus trotz all dem so sehr, dass sie alles, aber auch wirklich alles ertrug??

In einem Telefongespräch zwei Wochen nach dieser Aussprache klang Sybill ungewohnt euphorisch, so ganz anders als in der allerletzten Zeit. Isabell stutzte, horchte auf und ließ sich die Neuigkeiten berichten, die ihre Freundin da zum Besten gab. Diese hatte per Zufall in einem kleinen Cafe in der Nachbarstadt die Bekanntschaft eines Mannes gemacht, der so ganz anders war als Marcus, nämlich unkonventionell, spontan und voller Humor. Sie gab Isabell gegenüber - schließlich war die ihre beste Freundin - sogar ehrlich zu, dass dieser Mann einen gewissen Reiz auf sie ausübte. Anscheinend verspürte die junge Frau im Zusammensein mit jenem Fremden einen Hauch der ihr verlorenen, inneren Freiheit zurück.

Sybill war sich sehr wohl darüber im Klaren, dass sie allein durch ihr Interesse an einem länger währenden Kontakt zu dem Unbekannten den ersten Schritt zum Vertrauensbruch ihrem Freund gegenüber tat. Dennoch genoss sie jedes Wiedersehen. Es blieb nicht nur bei oberflächlichen Treffen, sondern Sybill zeigte offen ihr Verlangen nach einer innigeren Beziehung. In den folgenden drei Wochen trafen sich dieser Mann, Fred mit Namen, und Sybill heimlich regelmäßig hinter Marcus Rücken. Die Vertrautheit wuchs und auch die gegenseitige körperliche Anziehungskraft. Schließlich widerstanden beide nicht mehr und schliefen in dieser Zeit mehrmals miteinander.

Doch nach dieser kurzen Zeit voller Glück beschlich Sybill die Furcht vor Entdeckung. Sie beendete das Verhältnis. Hegte Marcus auch nur einen diffusen Verdacht, könnte sie ihn und ihr luxuriöses Leben vergessen. Er würde nicht verzeihen und sich stattdessen sofort von ihr lossagen. Der Preis war ihr zu hoch. Fred reagierte sehr gekränkt, als sie ihm ihre Trennungsabsicht mitteilte. Mehr war er nicht für sie gewesen, nur eine Blitzaffaire? Enttäuscht zog er sich zurück.

Mit erleichtertem Gewissen kehrte Sybill zu ihrem Lebensgefährten Marcus zurück und schlüpfte wieder in die ihr nun so vertrauten Rolle der jungen Dame der Gesellschaft. Aber ihre Hochstimmung sollte sehr schnell verfliegen. Zwei Wochen später blieb ihre Periode aus. Sie musste sich von einem Arzt sagen lassen, dass sie schwanger war. Wie vom Blitz getroffen saß sie in der Praxis. In ihren Ohren dröhnte nur dieses für sie schreckliche Wort: Schwangerschaft... Schwangerschaft!!

Selbst die entsetzliche Beklemmung, die dann von ihr Besitz ergriff, hätte sie nicht dazu verleiten können, eine Abtreibung vornehmen zu lassen. Nein, da blieb sie ihrer Auffassung treu. Abtreibung bedeutete Mord in ihren Augen, egal, zu welchem Zeitpunkt sie vorgenommen wurde. Aber - wie nur fände sie einen Weg aus diesem Teufelskreis? Diese ungewollte Schwangerschaft, dieses wachsende Kind unter ihrem Herzen befehligte fortan ihr Leben. Schier unerträglich drückte sie die Einsicht, außer zu Isabell niemals auch nur ein einziges Wort darüber verlieren zu dürfen. Sie war verurteilt, in Zukunft all ihren Freunden für den Rest ihres Lebens als Lügnerin zu begegnen, wollte sie nicht alles aufs Spiel setzen, was ihr so teuer war.

Der Verschwiegenheit ihrer Freundin fühlte sie sich sicher. Nie dränge durch eine Indiskretion Isabells, selbst nicht im Krach, ein Sterbenswörtchen über ihr schreckliches Geheimnis an die Öffentlichkeit, geschweige denn, zu Marcus. Ausschließlich diese vermeintliche Sicherheit gab ihr in ihrer wie ausweglos erscheinenden Lage die innere Kraft, die sie zur nervlichen Bewältigung dieser Katastrophe nützen müsste. Sie hätte ihre nun gefährdete Zukunft irgendwie in den Griff zu bekommen.

Nach einer Reihe schlafloser Nächte, in denen sie Gewissensbisse und panikartige Gedanken plagten, rang sich Sybill zu einem Entschluss von ungeahnter Tragweite durch. Der leibliche Vater des Babys sollte unter keinen Umständen je erfahren, dass dieses kleine Leben ihn sehr wohl etwas anging. Ihr Plan stand fest: Um Marcus nicht zu verlieren, täte sie etwas Ungeheuerliches: Sie würde behaupten, das Kind wäre von ihm. Gestünde sie dagegen ihren Fehltritt, zerstörte sie jegliche Chance für die Fortsetzung ihrer Lebensgemeinschaft!

In dem diesbezüglichen Vertrauensgespräch zwischen den Freundinnen versuchte Isabell, von Sybills Absicht, die Zukunft auf einer solch schwerwiegenden Lüge aufzubauen, aufs Äußerste schockiert, ihre Freundin mit vehementen Vorhaltungen von diesem ihrer Auffassung nach unsittlichen Vorhaben abzubringen, denn sie verabscheute diesen Plan zutiefst. Trotzdem band sie ihre fast lebenslange Freundschaft mit all deren Höhen und Tiefen an diese junge Frau.

Aus über großem Mitleid gab Isabell ihr schließlich, wie es die Verzweifelte erhofft und eigentlich fast erwartet hatte, das Versprechen, dieses Wissen für alle Zeiten in ihrem Herzen zu verschließen. Sybill wähnte, sich nach diesem Schwur auf deren Verschwiegenheit verlassen zu können, denn Isabell war ihre lebenslang engste Freundin!


Einige Tage danach machte Marcus seiner Lebensgefährtin einen offiziellen Heiratsantrag. Nicht nachvollziehbar für Isabell, verdrängte Sybill fast mühelos ihr schlechtes Gewissen und willigte glücklich ein. Nicht nur sie selbst, sondern auch das werdende Leben da unter ihrem Herzen waren von da an gut gesichert. Ihr Kind müsste keine Armut durchleiden.

Die Hochzeitsfeier fiel sehr prunkvoll aus. Bei strahlendstem Sommersonnenwetter gaben sich Sybill und Marcus in Anwesenheit der zweihundert geladenen Gäste das Eheversprechen. Sie mit dem festen Vorsatz, von nun an Marcus eine treue, folgsame Ehefrau zu sein und dem Kind eine wunderbare Mutter, um so gewissermaßen Abbitte für ihren schwerwiegenden Fehltritt während ihrer bisherigen Partnerschaft zu leisten. Sybill war sich ganz sicher, dass Marcus zum liebevollsten Vater überhaupt würde.

Die Zeit verstrich. Die Schwangerschaft, die völlig beschwerdefrei verlief, neigte sich ihrem Ende zu. Voller Ungeduld und Freude warteten Marcus und Sybill auf das große Ereignis. Marcus bestand darauf, der Geburt beizuwohnen. Bereits Wochen vor der Ankunft des Babys stand er seiner jungen Frau jede freie Minute zur Seite. Endlich war es soweit. Alles verlief schnell und zudem reibungslos. Sie bekamen ein süßes Töchterchen. Aufatmend stellte Sybill fest, dass die Kleine per Zufall sogar Marcus ähnelte. Nichts würde also dem Glück zu dritt im Wege stehen!

Sie waren nun eine kleine Familie. Das Töchterchen, auf den Namen ´Maren` getauft, wuchs heran, eine Bilderbuchschönheit mit viel Temperament und immer noch dem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten. Allein Sybill wusste, dass diese Ähnlichkeit nur reiner Zufall war. Betrachtete sie ihre Tochter, dachte sie unwillkürlich an deren leiblichen Vater, der hoffentlich niemals in Erfahrung brachte, dass dieses süße Geschöpf sein eigen Fleisch und Blut war. Bei diesem entsetzlichen Gedanken wurde es Sybill ein wenig mulmig in ihrem Mutterglück. Doch, da Meisterin im Verdrängen, schob sie ihn schleunigst ganz weit von sich und freute sich lieber an dem fröhlichen Wesen da vor ihr.

Die Jahre vergingen.
Maren kam ins Teenageralter. Im Alter von 16 Jahren bleibt einem jungen Menschen nicht mehr alles verborgen. Öfters fiel dem Mädchen auf, dass die Mutter es manchmal eigenartig nachdenklich ansah, so, als ob deren Gedanken in weiter Ferne weilten. Doch nach Art Jugendlicher interpretierte Maren das derart, dass Mütter eben manchmal ihren Nachwuchs unter dem Aspekt begutachteten, dass dieser dem Kindesalter entwuchs und zunehmend eine eigene Persönlichkeit entwickelte. Was sollte das ahnungslose Mädchen auch Anderes vermuten?

Sybill beschäftigten ganz andere Überlegungen. Bald war Maren volljährig. Von Rechts wegen war die Mutter verpflichtet, ihr dann die brutale Wahrheit zu eröffnen. Musste sie überhaupt... ? Ihre Tochter hatte eine sehr glückliche Kindheit und Jugend im Wohlstand durchlebt, mit allem, was sich ein Kinderherz so wünschte. Maren war mittlerweile in einem Alter, in dem die eigene Kindheit schon zur wichtigen Erinnerung an einen prägenden Lebensabschnitt geworden war. Gestünde ihr die Mutter, dass diese, damals nicht sehr viel älter als jetzt der Nachwuchs, mit einem Fehltritt eine Lebenslüge geboren hatte... ?

Hatte sie sowohl ihrem Mann als auch dem Kind nicht mit besonders intensiver Zuneigung und Aufopferung, bis fast hin zur Selbstaufgabe, in höchst ausreichendem Maße Abbitte geleistet? Zerstörte sie durch die Wahrheit nicht allein ihr eigenes, seit der Geburt Marens in sehr normalen Bahnen verlaufendes Leben, sondern ebenfalls das ihres Kindes wie auch das des Ehemannes, mit dem sie eine sehr stabile, harmonische Beziehung pflegte?

Eine sie ohne Unterlass quälende Einsicht gab außer der Angst, alles offen legen zu sollen, schließlich den Ausschlag. Gäbe sie ihr ungeheuerliches Geheimnis preis, wendete sich Maren nach dem ersten Schock in kindlicher Verzweiflung total von ihr ab. Von dem Moment der Offenbarung an lehnte das Mädchen sie als Mutter ab und verleugnete sie sogar vor allen. Das verzieh ihr die Tochter mit Sicherheit nie, dass die Mutter ihr eigenes Kind und, noch gravierender, auch den Gatten das halbe Leben lang mit einem solch schwerwiegendem Betrug getäuscht hatte. Marcus Ablehnung verkraftete sie irgendwie, aber nicht den Hass ihrer Tochter, eines Teils ihrer selbst. Ihr Inneres ging daran zugrunde, sie war wie tot!

Deshalb entschloss sie sich, sowohl aus Feigheit als auch aus praktischen Erwägungen, diesen Leiden nach sich ziehenden Schritt noch wenigstens so lange aufzuschieben, bis ihre Tochter auf eigenen Füßen stand. Diese Ausrede, mit der sie vor sich selber ihre unmögliche Handlungsweise zu rechtfertigen versuchte, war nichts anderes als die zweite schlimme Lebenslüge, der zweite noch grausame Folgen nach sich ziehende Selbstbetrug. Doch lieber wollte sie mit dieser Lüge leben, als sich der dann eskalierenden Situation zu stellen, in den Augen der Verwandtschaft als Verbrecherin da zu stehen und alles, was ihr lieb und teuer war, aufgeben zu müssen!

Ein zweites Mal in ihrem Leben verdrängte sie mit Erfolg all diese beklemmenden Grübeleien. Wieder widmete sie sich ihrer kleinen Familie mit Aufopferung und genoss das gutsituierte Leben. Es folgte ein sehr harmonisches Jahr. Nichts wies auf die sich anbahnende Katastrophe hin, die diese drei Leben durcheinander wirbeln sollte!

Nach Ablauf jenes Jahres störte etwas das bis dato glückliche Familienleben. Zunächst waren es nur anonyme Anrufe, die niemand zu begründen verstand. Selbst Sybill nicht, die doch am ehesten einen bestimmten Verdacht hätte hegen können. Nein, die ersten Telefonate mit offener Leitung und ohne Stimme am anderen Ende beängstigten sie alle noch nicht. Entweder hatte sich jemand verwählt oder erlaubte sich einen allerdings recht unverschämten Scherz. Als diese Dinge sich aber häuften, überdachte die junge Frau die traurige Möglichkeit, ob Marcus heimlich eine Geliebte hätte, die hinter ihm her spionierte. Seit einigen Wochen erschien er erst relativ spät aus seiner Anwaltskanzlei und erklärte das mit vermehrter Arbeit. Erklärungen solcherart kannte sie ja aus Funk, Film und Fernsehen.

Als eines Tages nicht sie, sondern zufällig er einen jener unverschämt dreisten Anrufe entgegen nahm und schon wieder Stille am anderen Ende der Leitung herrschte, beobachtete sie aufmerksamst seine Reaktion. Aus seiner Mimik las sie Überraschung, Verunsicherung und auch Verärgerung, jedoch keine Verlegenheit oder gar schlechtes Gewissen. Da lief etwas anderes ab. Nur was?

Ob vielleicht ein schüchterner Verehrer Marens dahinter steckte, der aus Angst vor einer Abfuhr es vorzog, unerkannt zu bleiben, um dann auf diese Weise am Telefon zumindest für ein paar Sekunden ihre Stimme zu hören, war das des Rätsels Lösung? Unsinnig, Maren danach zu fragen, ob und wer da in Frage kam. Solch ein Kandidat hielt sich in stiller Verehrung sowieso fern von ihr schüchtern im Hintergrund, so dass Maren ihn mit Sicherheit noch nicht einmal benennen konnte. Überhaupt eine verrückte Idee!

Sollte dieser Telefonterror nicht bald ein Ende finden, wendete sie sich an die Polizei mit der Bitte um eine Fangleitung. Lange hielten ihre Nerven das nicht mehr aus. Marcus, Tochter Maren und auch sie selbst reagierten bei jedem weiteren Anruf zunehmend gereizter. Sie ließe sich doch von einem offensichtlich geistig gestörten Menschen nicht ihre kleine heile Welt kaputtmachen!

Doch der Fremde gab nicht auf. Stattdessen steigerte er seine Terroraktionen in erschreckendem Maße. Bald tyrannisierte er sie mit mehrmaligen Störungen während ein und desselben Tages. Immer derselbe Ablauf: Stille Leitung, keine Stimme und auch keine indizienträchtigen Hintergrundgeräusche. Allmählich kamen Marcus neben der Verärgerung, die sie mittlerweile alle Drei gefangen hielt, diffuse Zweifel. Welches Motiv mochte der Unbekannte haben? Eines stand für ihn mittlerweile fest: Diese Unverschämtheiten zählten nicht zu sogenannten „bösen Bubenstreichen“. Da wollte jemand sie nervlich fertig machen, womöglich sogar eine psychologische Bombe zur Explosion bringen. Warum??

Immer öfter lagen Sybill, Marcus und selbst Tochter Maren abends grübelnd im Bett. Eines Nachts wachte die junge Frau nach einem schrecklichen Albtraum schweißüberströmt auf. Traumatisiert setzte sie sich im Bett auf und unternahm vergebliche Anstrengungen, vom Inhalt jenes Traumes Abstand zu nehmen. Die furchtbaren Gedanken, die sie so plötzlich aus ihrem Seelenfrieden herausrissen, raubten ihr endgültig den Schlaf. Nein, das konnte, das durfte einfach nicht sein! Es war nur ihr revoltierendes Unterbewusstsein, das ihr diesen bitteren Streich spielte und sie unbarmherzig an ihre weit zurückliegende Vergangenheit erinnerte, an das entsetzliche Unrecht, dass sie sowohl ihrem Mann als später auch der geliebten Tochter angetan hatte. Sollte das alles sie etwa einholen, sie innerlich zerstören?

Sie nahm sie sich fest vor, gleich am frühen Morgen Isabell anzurufen, mit der sie sowieso eigentlich bereits viel zu lange nicht mehr gesprochen hatte. Längst war es an der Zeit, sich wieder einmal gründlich miteinander auszutauschen. Etwas gelassener, drehte sie sich nochmals auf die Seite und fiel wiederum in Schlaf, in einen allerdings sehr unruhigen Schlaf, der ihr nur minimale Erholung brachte.

Am nächsten Morgen fühlte sie sich total gerädert, als fehlte ihr die Nachtruhe mehrerer Tage. Obwohl gefangen in quälendem Gedankenwust, durfte sie diese nächtliche Episode unter keinen Umständen mit Mann und Tochter besprechen. Das war das eigentlich Zerfetzende, was sie regelrecht panisch werden ließ! Krampfhaft bemühte sie sich, den Tag möglichst normal wie jeden anderen sonst anzugehen. Spürte Marcus ihre psychische Labilität, dann war Misstrauen gesät, denn auch er wälzte Gedanken vieler Art. Häufig schaute er sie grübelnd von der Seite an. Bisher hatte sie stets unbeschwert heiter zurücklächeln können, doch das brachte sie seit der letzten Nacht nicht mehr.

Während jeden Blickkontaktes befürchtete sie, er erkannte, wie es innerlich in ihr tobte. Angstvoll vermied sie darum, ihm in die Augen zu sehen. Das ließ sich am ehesten bewerkstelligen, indem sie sich während der nur noch seltenen Unterhaltungen emsigst in irgendeine Arbeit hineinkniete. Hausfrauliche Betätigungsmöglichkeiten gab es gottlob mehr als genug, die sie unauffällig während eines Dialoges in Angriff nehmen konnte.

Doch schützten sie all diese Manöver nur noch eine kurze Weile lang. Die fortwährende, aufdringliche Bimmelei des Telefons hatte sie alle in jeglicher Hinsicht extrem sensibilisiert. Sie fingen an, wie sie glaubten, vom Gegenüber unbemerkt, sich argwöhnisch und lauernd zu beobachten. Die Natürlichkeit des Zusammenlebens verflog. Das Familienleben wurde zur Kunst. Jede Regung unterlag zwanghafter Disziplinierung.

Während die Anspannung schier ins Unerträgliche stieg, wandelte sich die Methodik des Terrors. Die neue Vorgehensweise des Anrufers stieß sie in gesteigerte Bedrängnis. Die Serie der stillen Anrufe wurde Vergangenheit. Der Mensch am anderen Ende der Leitung hatte mit dem anonymen Terror offensichtlich noch nicht sein Ziel erreicht. So setzte er in seinen Aktionen noch eins drauf.

Eines Morgens meldete sich der Unbekannte. Es wurde zur Gewissheit, dass er die Familie bis hin in den Wahnsinn zu treiben gedachte. Der Fremde spielte nicht länger einen stummen Statisten, sondern übernahm nun die Hauptrolle in dieser grausamen Komödie. Noch verriet er seinen Namen nicht. Es erschien ihm wohl zu früh dafür, seine Identität preiszugeben. Die Nervenkraft seiner Opfer hatte er als zu geschwächt angesehen. Es wäre ihm nicht möglich, sie bereits mit dem dann folgenden zweiten Akt dieses von ihm inszenierten Theaterstückes schon zu zermürben.

Wieder einmal (zum x-ten Male, die Drei hielten schon nicht mehr nach, wie oft sie schon dieses in ihren Ohren bedrohliche Schrillen hatte zusammen zucken lassen!), läutete das Telefon. Diesmal eilte ausgerechnet Marcus zum Apparat. Mittlerweile bildete jeder von ihnen sich ein, der als Folge des Terrors verstärkten, eigenen Sensibilität wegen heraushören zu können, ob es sich um einen normalen Anruf von Freunden bzw. Bekannten oder um einen der dreisten Versuche jenes Fremden handelte, sie durch seine Tyrannei eines Tages zu Grunde zu richten.

Die Lautlosigkeit erwartend, bereits frustriert und deprimiert, hob Marcus den Hörer ab. Deprimiert, weil er und seine Familie diesen Angriffen hilflos ausgesetzt waren. Doch diesmal verlief alles anders, in einer Weise anders, dass ein noch gefährlicherer Schock sie alle in Atem hielt. Es wurde ihm klar, dass sie nach diesem Anruf in Misstrauen gegeneinander aufgewühlt sein würden.

Die veränderte Taktik des Angreifers zeigte nur allzu klar dessen Absicht, sich nicht länger unerkennbar im Hintergrund zu halten und nur die lautlose Leitung ihre nicht unerhebliche Wirkung ausüben zu lassen, sondern seine ernstzunehmende Aggression dieser Familie gegenüber zu unterstreichen, indem sie zum ersten Male seine Stimme vernehmen sollten.

Erstarrt hielt Marcus den Hörer in der Hand, fassungslos darüber, was er zu hören bekam. Der Anrufer drohte, die kleine Familie endgültig fertig zu machen. Die Telefonanrufe wären erst der harmlose Anfang, sozusagen der Auftakt der zu erwartenden Repressalien. Verzweifelt versuchte Marcus, irgendein Gespräch in Gang zu bringen, aus dem er das ihm immer noch schleierhafte Motiv jenes Menschen hätte erkennen können, eventuell dann durch einen Versprecher oder einen wütend dahingeschleuderten Satz seines akustischen Gegenübers. Doch es blieb aussichtslos. Machtlos legte Marcus den Hörer zurück auf die Gabel. Er setzte sich wie gelähmt auf den nächststehenden Stuhl und zwang sich zur Ruhe. Es war unbedingt erforderlich, jetzt die Nerven zu behalten, um so der bedrohlicher werdenden Situation Herr bleiben. Auf alle Fälle spräche er jetzt eindringlich mit Sybill.

Seine Überzeugung wuchs, so zurückhaltend seine Frau sich in letzter Zeit ihm gegenüber verhielt, dass sie ihm etwas verschwieg. Sollte sie etwa einen Liebhaber haben, den sie eventuell zurückgewiesen hatte und der sich jetzt auf diese Weise rächte? Das sprach allerdings für einen ausgemacht scheußlichen Charakter. Noch am selben Tag stellte er seine Frau zur Rede. Jedoch beteuerte sie ihm so glaubhaft ihre Unschuld, verständlicherweise erst recht ihr Unwissen, so dass er trotz innerer Zweifel seinem Misstrauen Einhalt gebot. Aber im Unterbewusstsein arbeitete es weiter. Sein Vertrauen zu ihr bekam Risse. Wenn es kein Liebhaber war, was dann? Irgendetwas stimmte da nicht...!

Mittlerweile litt die Tochter wegen des häuslichen Unfriedens zutiefst. Sie spürte das schwindende Vertrauen zwischen den Eltern. Auch ihr war das verstörte Verhalten der Mutter aufgefallen, dass sie sich aber damit erklärt hatte, dass solche wiederkehrenden anonymen Anrufe sehr wohl bei einem Menschen psychische Auswirkungen nach sich zogen. Ein anderer Mann im Leben ihrer Mutter? Maren wehrte sich strikt gegen diesen Gedanken, mochte sich noch nicht einmal diese Möglichkeit auch nur vorstellen. Die Ehe ihrer Eltern war ihr bisher immer ein Vorbild gewesen. Aber etwas blieb rätselhaft im Benehmen der Mutter. Selbst Maren musste sich das eingestehen.

Rein oberflächlich betrachtet, ging das Leben einen noch relativ normalen Gang. Fast schien es so, als ob die Angriffe entgegen der ausgesprochenen Drohung stoppten. Jedenfalls tat sich einige Wochen überhaupt nichts Ungewöhnliches mehr. Nach einiger Zeit atmete Marcus befreit auf. Also war es wohl doch nur die Aktion eines Verrückten gewesen, die man nicht weiter ernst zu nehmen brauchte. So hoffte auch die Tochter. Nur Sybill lebte in einer ständigen, ausschließlich für sie selbst sehr wohl erklärbaren Angst. Ihr damaliger Albtraum hatte sie wachgerüttelt. Ihre dunkle Vergangenheit hatte sie eingeholt.

Kurze Zeit später setzte sie ihr Vorhaben, dringendst mit ihrer Freundin zu reden, in die Tat um. Ihre Befürchtungen nahm diese eigenartig gelassen zur Kenntnis. Auf die Frage nach dem Grund ihres langen Stillschweigens erhielt Sybill ebenfalls keine klare Antwort. Das ganze Gespräch verlief eigenartig befremdlich, so gar nicht wie der Gedankenaustausch zweier guter Freundinnen. Verwirrt beendete sie schließlich das Telefonat.

Ein ungutes Gefühl beschlich sie, dass sie aber noch nicht zu deuten wusste. Sehr bald sollte sie verstehen. Auf eine Art würde ihr die Auflösung des Ganzen nähergebracht, wie sie sie sich niemals in deren Dramatik hätte erdenken können.

Der Fremde hatte nicht etwa aufgegeben, sondern plante bereits den nächsten Schritt. Jetzt startete er den direkten Angriff, der die Bombe endlich hochgehen ließ. Wenige Tage nach dem für Sybill eigenartigen Gespräch mit Isabell spazierte die junge Frau morgens wie stets zum Briefkasten. Neben dem üblichen Berg juristischer Briefe fiel ihr ein kleiner, grüner Briefumschlag ohne Absender in die Hand. Nichts Gutes ahnend, öffnete sie ihn und klammerte sich dann leichenblass am Gartenzaun fest. Nein, so weit ginge er doch nicht, das würde er doch nicht wagen!

Innerhalb des Bruchteils einer Sekunde hatte sie die Handschrift als die des Mannes erkannt, mit dem sie vor fast achtzehn Jahren sehr glücklich gewesen war. Jetzt aber empfand sie furchtbare Panik! Bekamen Marcus oder auch Maren diesen Brief in die Hände, war alles aus. Nochmals las sie den furchtbaren Text: Er spürte sie überall auf. Er würde sich rächen für all die Demütigungen, die sie ihm zugefügt hatte. Sein Wissen um ihr Geheimnis sollte ihr Leben zerstören. Nur noch eine kurze Frist, dann packte er aus!

Kalkweißen Gesichtes lehnte sich Sybill gegen den Gartenzaun, vor aufkommender Wut zitternd! Also forderte das Schicksal, dass sie nach all den Jahren des Einsatzes für ihre Familie doch noch für ihr Vergehen büßen musste. Alles kam zutage. Sie verlor Mann und Tochter, wurde verstoßen aus der Umgebung, die sie so sehr zu lieben gelernt hatte. Man verdammte sie völlig zu Recht wegen ihrer übergroßen Schuld.

Fieberhaft überlegte sie, wo sie den Brief verstecken konnte. Seine zwei Bögen in winzige Schnipsel zu zerreißen und diese dann in den Papierkorb wandern zu lassen, erschien ihr als zu leichtsinnig. Die grellgrüne Färbung der Papierstücke hätte auf jeden Fall gefährliche Neugierde geweckt. Hastig steckte sie dieses verräterische Schriftstück in ihre Hosentasche. Wie in Trance rannte sie zurück ins Haus, wie gehetzt die Treppe in die obere Etage hinauf, immer zwei Stufen auf einmal, um dann in die scheinbare Geborgenheit ihres Arbeitszimmers zu hasten. In ihrer Furcht lauschte sie auf jedes noch so leise Geräusch, beobachtete jede noch so geringe Bewegung innerhalb des Hauses. Sei es, dass eine Türe leicht knarrte, sei es das Wehen einer Gardine am offenem Fenster. Alles, aber wirklich jede Kleinigkeit wertete sie als Zeichen einer sie betreffenden Verfolgung.

Sybill betrat ihr Zimmer. Sie vergaß die Türe zu schließen, lehnte sie stattdessen nur flüchtig an. Wohin nun mit dem Brief? Mit äußerster Konzentration gelang es ihr, trotz der wirbelnden Gedanken in ihrem Kopf, das einzig mögliche Versteck für diesen Drohbrief auszuwählen. Ja, wieso war sie denn nicht gleich darauf gekommen, wozu besaß denn ihr Schreibtisch das kleine Geheimfach? Dort entdeckte ihn niemand!

Just in diesem Moment hörte sie aus dem Nebenraum sich jemand schnellen Schrittes ihrer Türe nähern. Atemlos stand sie da, in den zittrigen Fingern das verräterische Papier. In größter Bedrängnis öffnete sie das Geheimfach, schob den Brief unter einen Stapel alter Rechnungen und verschloss dann die Schublade wieder mit letzter Kraft. Es war so gut wie ausgeschlossen, dass Marcus ihren Schreibtisch durchwühlte. Ihr Verhältnis zueinander hatte sich wegen der Ruhe in den letzten Wochen wieder gebessert. Ihre extreme Furcht erwies sich als unnötig. Niemand betrat ihren Raum. Nichts dergleichen geschah. Die angsteinflößenden Schritte entfernten sich ebenso rasch, wie sie gekommen waren. Das bedeutete eine, wenn auch nur kurzzeitige Verlängerung der ihr vergönnten Galgenfrist.

Arme Sybill! Wenige Stunden später war es soweit. Als Marcus an diesem Abend nach Hause kam, spürte er sofort, dass irgendetwas vorgefallen war. Er forschte nach, erhielt aber von seiner Frau nur ausweichende Auskünfte. Sollte etwa der Unbekannte von damals... ? Wenigstens das konnte seine Frau noch einigermaßen gelassen verneinen. Nein, da war kein bedrohlicher Anruf gekommen. Marcus Sensibilität für ungewöhnliche Situationen war aber mittlerweile so gespitzt, so dass er die ungewöhnliche Anspannung aus ihrer Stimme heraus hörte. Er wollte endlich Klarheit.

Tags darauf rang er sich dazu durch, gezielte Nachforschungen anzustellen. Am Vormittag nutzte er die Abwesenheit seiner Frau, im ganzen Hause nach irgendwelchen Indizien zu fahnden, nach Hinweisen, die dazu beitrügen, das Rätsel um die mittlerweile schier unerträgliche Situation voller Misstrauen zu lösen. Der Rest eines intensiven Gefühls seiner Frau gegenüber ließ bei dieser Aktion sein Herz heftig klopfen. Doch seines desolaten Gemütszustandes wegen empfand er keinerlei Scham, gab es für ihn kein Zurück mehr.

Nicht lange danach stand er vor ihrem Schreibtisch. Nach einem letzten Zögern tat er in verzweifelter Entschlossenheit denn doch den entscheidenden Griff und durchwühlte systematisch sämtliche größeren und kleineren Schubläden ihres Sekretärs. Alte Rechnungen, Isabells Briefe, einige Fotos ihrer kleinen Tochter aus deren Babyzeit und ein vollgekritzelter Kalender älteren Datums kamen zutage. Konzentriert las er sämtliche Notizen, ohne aber die Spur eines Verdachtes bestätigt zu sehen. Schon bereit, die Suche erleichtert aufzugeben, ließ er seinen Blick noch ein letztes Mal über die vor ihm liegenden Schriftstücke gleiten.

Plötzlich verweilte sein Auge auf einem Zipfel grünen Papiers, der unter dem Stapel alter Kassenbons hervorlugte. Der Farbe wegen beschlich ihn deutlicher Argwohn, den er sofort zu verdrängen suchte. Meine Güte, Frauen schrieben nun einmal gerne auf farbigen Briefbögen. Weshalb reagierte sein Inneres so alarmiert darauf? Mit seiner rechten Hand zog er den Umschlag hervor. Sofort sah er, dass der Brief einmal geöffnet gewesen und sorgsam wieder verklebt worden war, als ob jemand einen Sicherheitsriegel hätte vorschieben wollen. Ihm war klar, dass er dabei war, das Briefgeheimnis zu verletzen und damit die mühsam wieder hergestellte Harmonie zwischen seiner Frau und ihm mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit endgültig zu zerstören. Doch da noch Bedenken siegen zu lassen, brächte ihm nur vermehrte, zukünftige innere Qual. Dieses Schriftstück trug vielleicht zu der Klärung sämtlicher in der jüngsten Vergangenheit aufgetretenen Ereignisse bei, legte endlich etwas offen, was unbedingt verborgen bleiben sollte.

Schwer atmend ritzte er mit dem Brieföffner den Umschlag auf. Jetzt noch Zurückhaltung zu üben, war unsinnig. Er faltete den Bogen auseinander. Sein Blick heftete sich auf die drohend schwarze Schrift. Ähnlich wie damals seine Frau wurde er aus einem mehr als verständlichen, ihn fast lähmenden Entsetzen heraus leichenblass. Hier hielt er den Beweis in der Hand, dass seine Frau etwas Schreckliches vor ihm verborgen hatte. Dem Text nach zu urteilen, gab es einen für die ganze Familie bedeutsamen dunklen Punkt in ihrer Vergangenheit. Es war einfach grauenhaft, erkennen zu müssen, dass die Harmonie zwischen ihnen in all den Jahren wahrscheinlich eine einzige Lüge gewesen war. Sofort nach Sybills Rückkehr bedrängte er sie solange, bis endlich die ganze Wahrheit ans Licht käme.

Gegen Mittag öffnete sich die Haustüre. Herein trat die nichtsahnende junge Frau, hinter ihr Maren, nach einem langen Schultag froh, wenigstens den Nachmittag frei zu haben. Sybill las in der Mimik ihres Mannes und erschrak zu Tode. Da gab es keinen Zweifel. Marcus hatte den Brief gefunden. Es war aus.

Ein rascher Blick auf seine Hände, da lag ihr Schicksal, das grüne Papier! In ohnmächtiger Hilflosigkeit versuchte sie, die Entrüstete zu spielen und warf ihm die Verletzung des Briefgeheimnisses vor. Schäumend vor Wut schrie Marcus sie an, dass er eine sofortige Erklärung verlange, was das alles zu bedeuten habe, er sei nicht bereit, noch länger den Unfrieden zuhause in Kauf zu nehmen!? Maren stand entsetzt neben ihrer Mutter und beobachtete sie. Diese schien kurz vor dem Zusammenbruch. Sybill war es klar: Ausflüchte nützten nichts mehr. Jetzt musste sie beichten.

Völlig überrumpelt und starr vor Angst setzte sie stockend mit flüsternder Stimme zu ihrem Geständnis an. Dieses Vergehen aus ihrer entfernten Vergangenheit raubte ihr alles, das ihr lieb und teuer war. Wie versteinert standen dort die beiden Menschen, die Sybills Herzen am nächsten waren, ihr gegenüber und wehrten sich mit der ganzen Kraft ihres Herzens gegen das Wissen um die grausamen Wahrheit, mit der sie von nun an zu leben gezwungen waren. Das Bild der glücklichen Familie war nur ein trügerischer Schein gewesen, ein unverantwortliches Spiel mit Gefühlen.

Marcus sah sich von einer Sekunde zur nächsten einer Fremden gegenüber stehen, mit der ihn ab jenem Moment absolut mehr verband. Ihre Worte, die ihm so Ungeheuerliches verrieten, löschten binnen einer Sekunde alle Zuneigung zu ihr. Maren stand dort keines Wortes mächtig, doch die aufkommenden Gefühle ihrer Mutter gegenüber wurden zu absolutem Abscheu vor dieser Frau, die sie ehemals Mutter genannt und so sehr verehrt hatte. Nie wieder war sie bereit, auch nur einen einzigen Gedanken an sie zu verschwenden. Selbst deren nahendes Elend tangierte sie in keinster Weise mehr. Da gab es auch keinen Neubeginn. Vorbei!

Weinend und unfähig, Sybill noch eines einzigen Blickes zu würdigen, lief Maren in ihr Zimmer. Sie brauchte das Alleinsein, um erst einmal zu klarem Denken zurück zu finden. Ihre Mutter jedenfalls hatte ihre Tochter für immer verloren. Doch das innere Band zum Vater würde sich durch das gemeinsame Leid noch verstärken!

Derweil stand Marcus noch immer vor dieser fremden Person, die bis vor wenigen Augenblicken seine Ehefrau gewesen war. Voller Verachtung starrte er sie nun an, nicht willens, ihre Anwesenheit länger zu dulden. Mit der Aufforderung, sie hätte auf der Stelle das gemeinsame Haus für immer zu verlassen, schritt er aus dem Zimmer und ließ Sybill total gebrochenen Herzens zurück

Diese brach in schier endlose Tränen aus, die aber nicht erleichterten. Sie schrie sich die ganze Wut, Verzweiflung, Schmerz und allein selbstverschuldete Verlassenheit von der Seele. Aber irgendwann fehlten dann die Tränen, fehlte die Kraft, sich weiteren Gefühlsausbrüchen hinzugeben. Es folgten absolut starre Minuten, in denen allein das Wissen um die auf sie wartende, totale Einsamkeit vorherrschte, ohne den minimalsten Hoffnungsschimmer, daran auch nur die geringste Kleinigkeit ändern zu können. Das Erbrechen des Briefes war zum Tor zu einer Bestrafung geworden, die bis zu ihrem Tode kein Ende fände. Doch sie hing zu sehr am Leben, als dass sie an die einzige Befreiung davon gedacht hätte, nämlich, ihr Dasein zu beenden. So würde sie den Rest ihres mit Schmutz behafteten Lebensweges alleine zurücklegen.

Doch ehe sie diesen Weg der Einsamkeit und der Buße beträte, hielte sie Rücksprache mit Isabell. Ihre innere Unruhe sagte ihr, dass es mit ihrer ehemals besten Freundin noch etwas dringend zu klären gäbe. Angstvoll klammerte sie sich am Hörer fest, als sie deren Nummer wählte. Nach dem dritten Freiton meldete sich Isabell. Wie es Sybill sofort spürte, war diese äußerst zurückhaltend. Die junge Frau sprach sie direkt auf alles an, besonders auf Isabells verändertes Verhalten ihr gegenüber. Es war wohl noch nicht genug des Bitteren, dass sie heute einzustecken hatte. Ihre Freundin erklärte ihr mit knappen Worten, dass es keinerlei Verbindung zwischen ihnen Beiden mehr geben sollte.

Fred und sie hatten sich ineinander verliebt. Aus Verantwortungsgefühl ihrem künftigen Manne gegenüber lüftete sie das Geheimnis, um nicht belastet mit dem Wissen um die Existenz seiner Tochter als Lügnerin vor ihm zu stehen. Nur mit einem völlig reinen Gewissen war sie bereit, eine Ehe einzugehen. Fred in seiner daraufhin grenzenlosen Wut zu bremsen, war ihr nicht möglich gewesen. Er hatte eine Tochter entbehrt, war deren ganzer Kind- und Jugendzeit beraubt worden. Nicht fähig, so etwas zu verzeihen, verlangte ihn nach Auflösung, nach der Rache eines kaltblütig betrogenen Vaters.

Mit letzter Kraft brachte Sybill stockend die Frage heraus, wo sie sich denn kennen gelernt hatten, obwohl das jetzt eigentlich alles total egal war. Isabells eiskalte Erwiderung, dass sie das ja wohl nichts, aber auch gar nichts anginge, dröhnte nur so in ihren Ohren – als eine einzige krasse Verurteilung ihrer Person. Das Letzte, das die einstige Freundin ihr absolut bösartig entgegenschleuderte, besagte, dass Fred jetzt sein Ziel erreicht hätte. Zwar würde auch er, aber in viel erdrückenderem Maße sie, Sybill, bis ans Lebensende an dieser Bürde zu tragen haben. Und jetzt solle sie sich zum Teufel scheren!

Die junge Frau stand dort, einer Salzsäule gleich, stierte auf den Hörer, erwiderte nichts mehr. Diese harten Worte hatten die letzten, aber auch allerletzten gefühlsmäßig engsten Bindungen zu geliebten Mitmenschen durchschnitten. Von dann an stand sie mutterseelenallein auf der weiten Welt. Allein mit sich, ihrer großen Schuld und der sie umgebenden Einsamkeit!!
 
N

no-name

Gast
Hallo tastifix,

herzlich willkommen in der Leselupe!

Ich habe Deine lange Geschichte von Anfang bis Ende gelesen und fühle mich jetzt ziemlich "erschlagen"... Deswegen meine Bitte an Dich: Unbedingt Kürzen!
Außerdem solltest Du noch einmal ein Rechtschreibprogramm über Deinen Text laufen lassen, denn es sind noch einige Fehler drin.

Insgesamt würde ich Dir raten, Deinen Text zu straffen, denn Du wiederholst Dich oft und manchmal verlierst Du Dich meiner Meinung nach in ausführlichen Beschreibungen des Gemütszustands Deiner Protagonistin, die in dieser Ausführlichkeit unnötig sind, für mich sogar störend waren, weil Du dadurch nach meinem Empfinden Deinen Spannungsbogen nicht halten konntest, und das Lesen ermüdend wird. Das finde ich schade, denn die Idee Deiner Geschichte inklusive der Auflösung ist zwar nicht neu, aber gut und durchaus lesenswert. Ich bin sicher, dass Dein Text nach einer Straffung, Kürzung und Überarbeitung richtig gut werden kann.

Liebe tastifix, ich hoffe, Du konntest mit meiner Kritik etwas anfangen - schließlich ist das nur meine persönliche Meinung, andere Lupianer sehen das vielleicht ganz anders.

Freundliche Grüße von no-name.
 

tastifix

Mitglied
Antwort

Hallo No Name!

Ich danke Dir sehr für Deinen ausführlichen Kommentar und freue mich über Deine anerkennenden Worte. Was die Straffung des Textes angeht, werde ich auf jeden Fall aktiv.

Es ist die erste längere Erzählung, die ich überhaupt geschrieben habe, vor mittlerweile fast acht Jahren. Lange habe ich gegrübelt, ob ich eine Version mit Dialogen entwerfen sollte. Aber irgendwie tat mir der Text dafür zu leid. Ich finde, dass er auch ohne Dialoge sehr wohl zu fesseln versteht.

Die Rechtschreibung überprüfe ich nochmals.

Hab` vielen Dank für Deine Hinweise!

Lieben Gruß
tastifix
 

Haremsdame

Mitglied
Hallo tastifix,

auch ich habe es heute geschafft, Deinen ganzen Text zu lesen (wegen der Länge hatte ich ihn immer wieder zurückgestellt). Unbedingt möchte ich mich no-names Bitte um Kürzung anschließen.

Zudem sind mir noch einige Ungereimtheiten aufgefallen: Du schreibst, als Maren schon 18 war, von der "jungen Frau". Im ersten Moment war mir nicht klar, ob Du damit Maren oder ihre Mutter meinst, die ja zu diesem Zeitpunkt nicht mehr ganz jung gewesen sein kann. Später, als ihr Mann den Brief (den sie, wenn ich mich recht entsinne, doch in kleine Fetzen gerissen hatte?) entdeckt hatte, stellte er seine Frau zur Rede - aber die kam doch erst später nach Hause?

Zwischendurch dachte ich mir, dass Deine Erzählung mit wörtlicher Rede vielleicht lebendiger und leichter zu lesen gewesen wäre. Andererseits hat mir Dein Erzählstil gefallen. Ich denke, wenn Du alles etwas kürzt, brauchst Du auch keine wörtliche Rede.

Aber schau Dir auf jeden Fall nochmal den zeitlichen Ablauf an! Vielleicht hat aber auch meine Aufmerksamkeit nachgelassen und ich habe etwas durcheinander gebracht. Nur: wenn mir das passiert, kann es auch anderen Lesern so ergehen...
 
P

Pete

Gast
Hallo tastifix

jetzt hab auch ich es durch den Text geschafft. Nachdem ich mich zu Anfang zwingen musste, weiterzulesen, kam irgend wann der Punkt an dem ich wissen wollte, wie es ausgeht.

Du könntest Dein Werk entscheidend verbessern. Ich persönlich sehe nicht die Länge als Problem, sondern die Perspektive, Doch dazu später.

Gäbe sie ihr ungeheuerliches Geheimnis preis, wendete sich Maren nach dem ersten Schock in kindlicher Verzweiflung total von ihr ab. Von dem Moment der Offenbarung an lehnte das Mädchen sie als Mutter ab und verleugnete sie sogar vor allen. Das verzieh ihr die Tochter mit Sicherheit nie, dass die Mutter ihr eigenes Kind und, noch gravierender, auch den Gatten das halbe Leben lang mit einem solch schwerwiegendem Betrug getäuscht hatte. Marcus Ablehnung verkraftete sie irgendwie, aber nicht den Hass ihrer Tochter, eines Teils ihrer selbst. Ihr Inneres ging daran zugrunde, sie war wie tot!
Hier schreibst Du so, als ob das alles schon geschehen wäre. Bleibe im Konjunktiv!

Probleme hatte ich beim Lesen, die Personen zu unterscheiden. Vor allem Sybille und ihre Tochter. Besonders eklatant ist es in folgendem Abschnitt:
Immer öfter lagen Sybill, Marcus und selbst Tochter Maren abends grübelnd im Bett. Eines Nachts wachte die junge Frau nach einem schrecklichen Albtraum schweißüberströmt auf. Traumatisiert setzte sie sich im Bett auf und unternahm vergebliche Anstrengungen, vom Inhalt jenes Traumes Abstand zu nehmen. Die furchtbaren Gedanken, die sie so plötzlich aus ihrem Seelenfrieden herausrissen, raubten ihr endgültig den Schlaf. Nein, das konnte, das durfte einfach nicht sein! Es war nur ihr revoltierendes Unterbewusstsein, das ihr diesen bitteren Streich spielte und sie unbarmherzig an ihre weit zurückliegende Vergangenheit erinnerte, an das entsetzliche Unrecht, dass sie sowohl ihrem Mann als später auch der geliebten Tochter angetan hatte. Sollte das alles sie etwa einholen, sie innerlich zerstören?
Bei "Junger Frau" dachte ich natürlich an die Tochter, um viele Zeilen später festzustellen, dass die Tochter wohl auch Mann und Kind ... Oh, war ja doch die Mutter :(

Aber nun zu den Hauptproblemen:

Sie stammte aus ärmlichen Verhältnissen. (...) aber ohne die tiefe Zuneigung,die jedoch für Sybilles normale seelische Entwicklung unbedingt erforderlich gewesen wäre.
Du gibst viel zu viele Hintergrundinformationen. Holzhammer! Wo bleibt dann noch das Rätsel für den Leser? Der Leser möchte die Figuren selbst ergründen. Liefere ein paar prägnante Hinweise, das muß genügen!

Hier tritt auch das Hauptproblem Deiner "Erzählung" zu Tage. Es handelt sich nämlich um einen Bericht, der sicher sehr eloquent und lebendig geschrieben ist, aber eben nur die Chronik eines Lebensabschnittes oder gar Lebens darstellt.

Ich stelle mir das so vor, wie die etwas zu lang gewordene Zusammenfassung eines Romanes, ein Exposé.

Der Plot selbst ist zu linear gestrickt und enthält im Wesentlichen nur einen Spannungsbogen. Dennoch birgt Dein Entwurf den Ansatz zu vielfältigen Bögen und mehreren, alternierenden und sich kreuzenden, möglicherweise gegenseitig durchkreuzenden (lechtz!) Plots.

Anzätze dazu hast Du genug. Nimm die intrigante Freundin, die Sybille erst sehr spät als Erzfeindin entlarvst.

Du benötigst dafür zwei Haupthandlungsstränge, jeweils aus der Sicht von Sybille und Isabell. Dabei zeigst Du anschaulich ihre Gefühle. Beide Handlungsstränge wechseln sich, nach den Erfordernissen ab.

Der Leser, der beide Ansichten kennt, fiebert mit den Schicksalen.
Neben einem Hauptspannungsbogen, der gleich am Anfang beginnt und am Ende aufgelöst wird, soll Deine Geschichte mehrere Nebenspannungsbögen aufweisen. Ansätze dazu lieferst Du zuhauf.
Lass Isabell, die zunächst Kupplerin gespielt hat, eifersüchtig auf Marcus, später Fred sein. Lass Sybill nur knapp gewinnen, Isabell mit (heimlichem) Groll zurück, usw.

Dass Isabell sich mit Fred verbündet hat, musst Du übrigens nicht vorzeitig aufdecken.

Jetzt zum Anfang. Hier beginnt ein Spannungsbogen, das ist obligatorisch. Springe frech mitten in die Handlung, beispielsweise begegnen sich Sybille und Isabelle. In diesem Dialog erfahren wir, dass Sybill bestanden hat, Isabell sie für begabter hält, Sybill erfolgreich ihrem (ärmlichen und lieblosen) Elternhaus entkommen ist und sich einer Beziehung verweigert. Isabell hat schon einene Anschlag vorbereitet und überredet sie, zur "großen Party" zu kommen.

Ende der ersten Szene. Bemühe Dich nicht, vollständige Informationen zu geben, sonder belasse es bei charakterisierenden Andeutungen. Welche Details sind wichtig in Bezug auf Deinen Plot?

Du lieferst vom obigen Aufbau her ein klassisches Drama nach Lessing. Die Katharsis ist der Augenblick, an dem sich alle von Isabell abwenden. Was dann noch kommt ist die Auflösung. Wer steckt hinter dem Telefonterror und warum.

Besonderes Augenmerk sollte der Schluss sein. Er enthält eine sorgsam verpackte Aufforderung an den Leser. In Deinem Fall stelle ich mir das etwa wie folgt vor:
Cybill drehte den Hahn der Badewanne auf und stellte eine etwas zu warme Temperatur ein.
Dann ging sie zum Badezimmerschrank, öffnete "sein" Fach und griff andächtig nach dem Rasiermesser. Sie klappte es auf und legte es vorsichtig auf das Waschbecken vor sich.

Cybille sah durch ihr Spiegelbild hindurch, zurück auf ihr verpfuschtes Leben. Was war schief gelaufen? Wo war sie falsch abgebogen? Tränen des Selbstmittleids überschwemmten das Gesicht, in das lebenslange Last tiefe Furchen gegraben hatten.

Plötzlich, wie von der Muse der Erkenntnis geküsst, platzte der Knoten und lies sie die Tragik ihres Lebens erfassen. Niemals war sie falsch abgebogen. Im Gegenteil: sie hatte sich treiben lassen, dort wo sie dringend hätte abbiegen sollen, hatte sie sich dem fatalen Nichthandeln ergeben.

Warum hatte sie es so weit kommen lassen? Warum hatte sie das nicht schon früher erkannt, fast ein ganzes Leben für die Erkenntnis gebraucht?

Unglaublicher Zorn durchzuckte ihren schmerzenden Körper, ein langgezogener Schrei entdrang ihrer Kehle, schon viel zu lange hatte sie ihn eingesperrt.

Ihre Gesichtszüge veränderten sich merklich, schienen fast zu strahlen.

Schluss mit der Selbstbemittleidung! sagte sie sich. Rasch wischte sie sich die Tränen ab. Von nun an würde sie ihr Leben selbst in die Hand nehmen, wenigstens die Scherben, die ihr geblieben waren, zusammenkehren. Ach wäre sie nur fähig, die Zeit zurückzudrehen.
Klar habe ich ein wenig dick aufgetragen und ein wenig schludrig. Aber was ich sagen wollte, dürfte klar sein.

Zum Schluss noch zum Titel. Passt der?
Wenn er passend gemacht werden soll, musst Du komplett umstricken und alles auf den Augenblick der Verletzung des Briefgeheimnisses zentrieren. Dann Kannst Du gleich eine völlig neue Geschichte schreiben.

Ändere lieber den Titel, beispielsweise in

Treibende Lügen

;) ;) ;)


Mach was aus Deinem tollen Exposé und poste das Ergebnis!

Gruß
 

tastifix

Mitglied
Zu Briefgeheimnis

Hallo Haremsdame!

Du hast Dir dermaßen viel Mühe mit dem Kommentar zu meiner Geschichte gegeben, dass ich Dir dafür ganz herzlich danken möchte!

Ja, Du hast wirklich etwas durcheinander gebracht:

´Junge Frau`: Das bezog sich auf die Mutter, als diese so jung war wie jetzt Maren.

Diese Textstelle musst Du falsch verstanden haben:
Die Mutter hatten die Brief vorsichtshalber extra nicht in Fetzen gerissen und einfach in den Papierkorb befördert, weil ihr das wegen dessen auffälliger Farbe einfach als zu gefährlich erschien.

Noch eine weitere Textstelle:
`drängte`als Konjunktivform
Nachdem er den Brief gelesen hatte, nahm er sich fest vor, seine Frau soo lange zu drängen...
die Mutter und Maren kamen gleichzeitig zu hause an. Und dann verlangte er Rechenschaft von seiner Frau.

Dieser Text ist einer der aller ersten meiner Texte überhaupt. Ich werde sehen, ob ich ihn hie und da ein wenig raffe.

Lieben Gruß und nochmals Dankeschön!
tastifix


Hallo Pete!

Auch Dir ganz herzlichen Dank für Deinen ausführlichen Kommentar und deine Vorschläge zu meiner Geschichte!

Ich sehe diese Geschichte als eine in sich geschlossene Erzählung an. Ich muss dazu sagen, dass ich mich nie mit der Technik des Schreibens beschäftigt habe und völlig spontan schreibe. Das werde ich auch weiterhin tun, nehme aber sehr wohl gute Kritik an und freue mich über Hinweise und Vorschläge.

In einem Punkt hast Du völlig recht: Das Konjunktiv in seiner Kurzform, z.B.´drängte` anstatt ´würde drängen` kann eventuell irritieren. Nur finde ich die letztere Formulierung zu umständlich.

Dein Hinweis hinsichtlich der Schwierigkeit, die Personen auseinander zu halten,ist sehr wichtig für mich. du hast ja die Stelle zitiert, so dass es für mich recht einfach ist, das zu ändern.

Tja, diesen Text zu kürzen, wird mir - Du darfst ruhig lachen - schwerfallen, aber ich werde es versuchen. Weißt Du, meine aller ersten Geschichten haben für mich in ihrer Urfassung einen besonderen(sentimentalen,*zwinker*)Wert.


Es kann etwas dauern, bis ich damit fertig sein werde, aber dann stelle ich den Text natürlich hier ein.

Dankeschön nochmals!
Lieben Gruß
tastifix
 



 
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