Brockenfrust

„Es ist zum Kotzen“, sagte die junge Hexe Bibi und zupfte an der Warze, die auf dem gekrümmten Nasenrücken langsam aufblühte, „seit Generationen müssen wir jedes Jahr zur Walpurgisnacht auf diesen blöden Brocken reiten. Ich will endlich was Neues sehen.“ Dabei drückte sie die zarte Warze so vehement, dass diese fast aufplatzte.

„Wir von der jungen Generation müssen uns endlich gegen die alten Besenreiterinnen durchsetzen!“ Sie ging mit dem Gesicht näher an den Spiegel um deutlicher zu sehen, ob auf der Warze auch schon die ersten schwarzen Härchen sprießen. Sind diese doch das eindeutige Zeichen dafür, dass kleine Hexen endlich der Pubertät entwachsen. „Ich habe lange genug diesen Schreiberlingen Preussler und Donnelly als Ideenlieferant für ihre Kinderbücher gedient. Es wird Zeit, dass ich etwas Vernünftiges in Angriff nehme.“

„Wir können doch nicht einfach aus der Tradition ausbrechen“, entgegnete ihre Freundin genervt von der ständigen Nörgelei Bibis. „Seit sich unsere Berufsgenossinnen aus den Fängen der braun- und rotkuttigen Inquisitoren befreit haben, ist der alljährliche Pilgerflug zum Blocksberg ein heiliges Ritual. Was haben unsere Vorfahren unter dem Hexenhammer gelitten!“ Es schüttelte sie beim Gedanken an die Folterungen und Verbrennungen. Ihre Oma war eines der letzten Opfer der Hexenverfolgung. Im zarten Alter von zweihundertsechsundsiebzig Jahren hatte sie das teuflische Schicksal ereilt. „Wäre sie ordentlich beerdigt worden, würde sie sich im Grab umdrehen, hörte sie von deinen revolutionären Ideen!“

„Geröstete Hexen kann man natürlich nicht ordentlich begraben. Asche zu Asche eben“, gab Bibi schnippisch zurück. „Aber uns werden sie garantiert nicht verbrennen, wenn wir mal neue Wege gehen. Die Zeiten sind vorbei.“

„Und warum willst du immer was Neues? Der Ritt auf unseren Besen zum höchsten Berg im Norden Deutschlands, und der Tanz ums Feuer sind doch jedes Mal wieder eine Mords Gaudi.“

„Früher schon“, erinnerte sich Bibi. Da ging es noch so richtig wild und ungezügelt zu. Aber heute wird schon verlangt, dass wir bei der Ankunft unsere Besen in Reih und Glied parken. Da hört der Spaß doch auf! Zucht und Ordnung bei uns Hexen – wo kämen wir da hin? Vor einigen Tagen ging die Meldung durch die Presse, dass sie sogar schon Parkuhren aufgestellt haben. Fehlt nur noch, dass die Polizei am Brocken auftaucht. Aber diese Jüngelchen sind ja zu feige, sich mit uns anzulegen.“

„Wir könnten dem Vater Staat ja etwas in die Haushaltskasse hexen, dann käme die Regierung vielleicht auf klügere Gedanken. Und apropos Polizei: wenn ein paar knackige Jungs dabei sind, hätte ich nichts dagegen! Der Tanz mit ihnen wäre anregender, als immer nur mit Frauen über das Parkett zu schieben.“ Die um einige Jahrzente ältere Freundin Perchta war immer gut, für praktische Ideen.

„Und außerdem“, fuhr Perchta fort, „vergiss nicht, dass dein Warzenplfegemittel zur Neige geht. Du musst auf dem Brocken Nachschub besorgen. Eine dicht behaarte Warze ist ja das Schönheitssymbol par Excellence für uns Hexen.“

„Vergiss es! Das besorge ich mir im Internet. Bei Ebay ist es billiger als auf dem Trödlermarkt in der Walpurgisnacht. Und das Mittel wird mir zudem noch nach Hause geschickt. Und dann die Qualität: was ich mir dort besorge, hat bestimmt das Gütesiegel der EU, nicht so, wie das handgepanschte Zeug der Marktweiber auf dem Brocken.“

Bibi stellte das Fläschchen mit dem Warzenwuchsmittel zurück in den Badezimmerschrank. „Lass mich mal checken, ob es im Internet neue Angebote dazu gibt.“ Sie wandte sich – nach einem letzten prüfenden Blick – endlich vom Spiegel ab, ging ins Arbeitszimmer und schaltete den Computer ein. Mit ihren schlanken Fingern bewegte sie die Maus geschickt und klickte sich schnell auf die Startseite ihres Internetbrowsers. Im Newsticker erschien eine Meldung mit einem Stichwort, welches Bibi dazu verleitete, mehr darüber zu lesen: „Hexensabbat in New York“.

„Wow – haben die Hexen in USA was von uns abgekupfert? Wohin reiten die dann in der Walpurgisnacht?“ Und schon hatte sich Bibi um einige Klicks weiter ins Thema eingelesen.

‚Das gleichzeitige Auslaufdatum von Optionen auf Aktien, Index-Optionen und Index-Futures wird an der Wallstreet ‚Hexensabbat’ genannt’, ließ sie sich von Wikipedia belehren. Obwohl sie von dem ganzen Börsenchinesisch nur ‚Bahnhof’ verstand, lehnte sich Bibi im Stuhl zurück. Ihrem Gesicht war deutlich anzusehen, dass das Räderwerk im Gehirn auf Hochtouren arbeitete.

„Mensch, Perchta, dann fliegen wir morgen nicht zum Blocksberg, sondern an die Wallstreet nach New York! Wenn die Broker nicht auf den Brocken fliegen können, dann kommen wir eben zu ihnen. Fliegst du mit?“

“Aber unsere Besen sind doch nicht für Transatlantikflüge geeignet“, gab Perchta zu bedenken. Sie konnte sich mit so einem verrückten Gedanken überhaupt nicht anfreunden.

„Wir werden den CW-Wert so weit reduzieren, dass dies kein Problem mehr darstellen wird.“ Woher hatte Bibi plötzlich die geschliffene Ausdrucksweise eines Auomobil-Designfreaks? Perchta wischte Ihre Verwunderung bei Seite, drehte Bibi mit einem Ruck auf dem Bürostuhl zu sich und schaute ihr tief in die Augen.

„Jetzt hör mir mal gut zu, meine kleine, störrische Hexe! Glaub einer älteren Freundin, die sogar schon einiges an Börsenerfahrung hinter sich hat. Es lohnt sich nicht, nach USA zu fliegen!“

„Und warum nicht?“ Bibis Stimme wurde spitz.

„Was glaubst du dort Neues zu finden? Die Börsengewinner machen ihren Veitstanz genauso, wie die Verlierer – wenn auch aus unterschiedlicher Motivation. Abgestürzte Höhenflieger gibt es dort genau so wie auf dem Brocken. Im Zocken haben uns die Börsianer sogar einiges voraus!“

„Vielleicht hast du recht“, seufzte Bibi, „dann fliegen wir halt morgen wieder gen Norden. Meinst Du, es werden Polizisten da sein?“
 
Nette Geschichte, diese Interpretation ins 21. Jahrhundert. Hätte mir noch eine spannende Handlung gewünscht und man könnte glatt ein Jugendbuch draus machen.

Viele Grüße

Sir Charles Blackwood
 



 
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