Brüder im Geiste und Schwestern im Fleische

knychen

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Brüder im Geiste und Schwestern im Fleische

Es war dunkel, es war kalt und es war nass.
Es war ein richtiges Scheißwetter.
Und genau so fühlten wir uns auch, der Herr Neubert und ich, als wir schweigend über den Schöneberger Winterfeldplatz schlingerten.
Am frühen Nachmittag waren wir von unserem südlichen Stadtbezirk aufgebrochen, um in der Neuen Nationalgalerie eine Ausstellung anzusehen, die Werke der Maler Max Ernst, Arnold Böcklin und Giorgio de Chirico in sich vereinte. Warum die drei Herren in einen Topf geworfen wurden, konnten wir nicht nachvollziehen.
Nachvollziehbar war jedoch auf Grund unseres Laufstiles, was wir nach dem Besuch der Ausstellung getan hatten. Wir hatten über einzelne Bilder geredet und weil es sich am besten bei einem anregenden Getränk plaudert, waren wir da und dort auf ein Bier eingekehrt. In der letzten Kneipe standen zwei gepflegte Billardtische, einer war frei – da lag es nahe, der Unterhaltung ein Spielchen hinzu zu fügen.
Wir einigten uns auf maximal sechs Partien.
Dann kam vom Nebentisch das Angebot einer Partie zu viert und wir nahmen die Herausforderung an.
Die Beiden vom Nachbartisch spielten ungefähr auf unserem Niveau und weil es bei einem Kneipenspiel immer um irgendwas gehen sollte, wurde ein Fünfer pro Spiel ausgemacht.
Wir beiden Kunstinteressierten hatten nicht viel Geld zur Verfügung, also hieß es: entweder gleich am Tisch den Abend sterben lassen oder eben das Taschengeld aufbessern und noch ein wenig länger feiern. Der Mensch wächst mit seinen Aufgaben, sagt man, und so hatten Herr Neubert und ich am Ende mehrer Stunden nach Abzug der Rechnung jeder einen Zwanziger extra in der Tasche. Für einen Familienvater mit Stütze und Billignebenjob und für einen hochmotivierten und unterbezahlten Fernfahrer, ebenfalls mit Familie und mit finanziellen Forderungen aus erster Ehe ein nettes Zubrot.
Außerdem hatten wir den beiden Spielgegnern zum Schluss noch ein wenig von ihrem guten Gras abgeschwatzt. Auch dieses eine willkommene Abwechslung zum gewohnten Heimanbau.
Auf dem Weg in Richtung Nollendorfplatz lösten sich dann zwei hastig gedrehte Sticks in Rauch auf und weil ich als der für das Bauen Verantwortliche nicht an den Unterschied zur normalen Ware gedacht hatte, nahm der Weg über den Winterfeldplatz einfach kein Ende.
„Scheiß Seitenwind!“ sagte ich gerade.
Es ging zwar kein Wind, aber irgendwie hatte ich das Gefühl, meinen seitlichen Ausfallschritt rechtfertigen zu müssen.
„Mmmhh....“ antwortete der Herr Neubert.
Als wir ein Weilchen später an der Motz, Ecke Eisenacher vorbeikamen, sagte ich: „Komm, hier gehen wir rein.“
„Mmmhh...“
Wir öffneten die Tür der Eckkneipe und traten ein.
Herr Neubert ging zielstrebig an einen der beiden Stehtische und postierte sich strategisch günstig mit dem Rücken zur Wand. Ich wandte mich dem Tresen zu und holte zwei Becks.
„War früher deutlich billiger hier“ stellte ich beim Abstellen der Biere fest.
„Mmmhh...“
Dieses „früher“ bezog sich auf eine Zeit vor circa fünfzehn Jahren. Seitdem war ich kaum noch hier gewesen.
’Fünfzehn Jahre sind ’ne mächtig lange Zeit’,dachte ich vor mich hin. ’Allerdings nur, wenn man voraus schaut. Schaut man nämlich zurück, stellt sich die Frage: Wo sind sie hin?’
Diesen meiner Meinung nach ungerechten Widerspruch in einer an sich konstant verlaufenden Zeit wollte ich mit Herrn Neubert besprechen.
Herr Neubert jedoch stand ein wenig vornüber gebeugt am Tisch und beobachtete mit dem Langmut eines Stoikers seinem Becks beim warm werden zu. Man sah ihm an: Er wollte schweigen.
Diesen Zustand kenne ich bei ihm. Für einen überschaubaren Zeitraum würde mit ihm keine ergiebige Konversation auf höherem sprachlichem Niveau möglich sein. In einer ähnlichen Situation wie dieser - wir hatten uns bei einer Party über die Wirkung kaukasischen Grases unterhalten und ich gab gerade zum Besten, das nach Genuss dieses Grases angeblich nur noch Grunzlaute möglich wären, was ja nun mal nonverbale Konversation bedeutet - erwachte Herr Neubert aus einer Starre wie der jetzigen und sprach die denkwürdigen Worte: „Ich bin die Inkarnation der minimalsten nonverbalen Konversation“ worauf er wieder in Lethargie versank.
Genauso sah er im Augenblick aus. Er inkarnierte.
Ich konnte es nicht ändern, also drehte ich mir eine Zigarette und sah mich um.
’So einen glatten Typen hätten die früher nie hinter den Tresen gestellt.’ ging es mir durch den Kopf. Der Kerl sah aus wie ein junger Nick Cave, hatte ein viel zu enges T-Shirt, noch dazu ein himmelblaues, an und auf seiner Hühnerbrust stand das Wort „Schlampe“. Okay, das war also die Tresenschlampe.
In der Hoffnung, wenigstens ein bekanntes Gesicht aus alten Zeiten zu erspähen, ließ ich meinen Blick weiter durch die gut gefüllte Kneipe wandern. Aus den Boxen schepperte Bronski Beat.
An dem Stehtisch nebenan standen vier Männer und erzählten sich etwas, das sie anscheinend immer wieder zu unbändiger Heiterkeit animierte. Alle vier waren komplett in Leder gekleidet. Drei sahen aus wie vollbärtige Biker und der Vierte trug einen bodenlangen schwarzen Mantel und eine schwarze glänzende Fliegerkappe über dem glatten braungebrannten Gesicht. Sah aus wie Batman auf dem Matrix-Trip. Sein linker Arm lag locker um die Hüfte des größten der Biker drapiert und sein Daumen war in der linken Arschtasche seines Lovers eingeklinkt. Endlich hatte ich kapiert, dass aus der ehemaligen Vierundzwanzigstundenstampe eine Schwulenkneipe geworden war. Fünfzehn Jahre vergehen eben nicht nur schnell, sie bringen mitunter auch Veränderungen.
Wieder wurde laut gelacht. Dabei stieß sich der Batmanverschnitt leicht vom Tisch ab und rempelte mich unbeabsichtigt an.
Wir schauten uns kurz in die Pupille, er murmelte ein „Tschulligung“ und wandte sich seiner Runde und den Rundungen seines Helden zu.
Herr Neubert zählte anscheinend mit seinem geistigen Auge die in rasanter Langsamkeit an der Flasche herab perlenden Wassertröpfchen und war immer noch schwer am Inkarnieren.
Wenn ich reden wollte, musste ich wohl Kontakte knüpfen. Es hieß also, erst mal den Humor der potentiellen Gesprächspartner abzuchecken. Ich suchte nach einem Einstieg.
Der Große sah ein wenig aus wie Zeus. Er und sein Schätzchen in der schwarzen Hochglanzlederausstattung schrieen geradezu nach einem sich aufdrängenden Bild. Wie war das doch gleich in der griechischen Mythologie?
Zeus will zum Stich kommen bei Leda, seine Frau Hera verbietet es ihm, er verwandelt sich in einen Schwan und wo er dann bei Leda seinen Kopf gebettet hat, lässt uns die Sage leider nur erahnen. Aber Leda mit dem Schwan, das Bild passte bei den Beiden.
Der mit dem Mantel sah gerade zu mir, da nickte ich ihm kurz entschlossen zu, gab so zu verstehen, dass ich etwas loswerden wolle, er beugte sich zu mir und ich gab mir Mühe bei der Artikulation, als ich ihn fragte: „Wie issen dit, wemman’nschwaanfickt?“
Irritiert erschienen an seiner Nasenwurzel zwei kleine süße Fältchen. Er blickte fragend in mein harmlos lächelndes Gesicht, schüttelte unwillig den Kopf und wandte sich wieder seinem Tisch zu. Offensichtlich berichtete er meine Frage, denn die vier Lederschwestern steckten tuschelnd die Köpfe zusammen.
Einer der Bärtigen sagte dann zu Zeus: „Der meint dich, Swannie.“
Na gut, dass der Lange mit Spitznamen „Schwänchen“ hieß, hatte ich vorher nicht wissen können, aber ich war mir sicher, diesen Fauxpas mit einer wohlformulierten Erklärung entschärfen zu können.
In die Runde kam Bewegung.
Zeus baute sich vor mir auf.
Obwohl oder vielleicht gerade weil ich stand, hatte ich in Augenhöhe seinen Brustkorb vor mir. Die Lederjacke roch, wie nun mal Lederklamotten riechen, wenn man sie rechtschaffen mehrere Jahre lang Tag und Nacht trägt. Der Bartwuchs des Zeus, so sah ich jetzt von schräg unten, ging testosteronbedingt nahtlos in eine ungepflegte Brusthaarfrisur über.
„Du willst wissen, wie ich ficke?“ brummte er mich mit einem kräftigen Bass an.
Ich schaute an ihm herab.
Etwas unterhalb der Gürtelschnalle spannte sich seine Hose in einer Form, die vermuten ließ, warum man ihn den Schwan nannte. Ein Blick aus dem Augenwinkel zu Herrn Neubert brachte keine neuen Erkenntnisse über seine Bereitschaft, an der Konversation teil zu nehmen. Ich musste die Situation also allein entspannen.
Den Kopf in den Nacken werfend, sah ich dem Göttervater ins dunkel beringte Auge.
Mir fehlte nur noch eine gute Überleitung zu einem weniger verfänglichen Thema.
„Hörma, Großa, ick weeß dein Anjebot zu schätzen, aba wir sind doch zivlisierte jesetzestreue Bürja und soviel ick weeß, jibts jejen sowat ’n Parajrafen.“
Hinter den Bärten fing es an zu grummeln, der Glattrasierte sagte: „Zieh ihm eine rein, Swannie.“
Meine Taktik ging also vorerst nicht auf.
Swannie griff sich mit riesigen und ziemlich ramponierten Händen die Aufschläge meiner Parkajacke und machte sie mit einer leichten Drehung seiner Pranken um vielleicht zwei Nummern kleiner. Automatisch standen meine Arme ab wie die Flügel eines Pinguines. Diese aufgezwungene Körperhaltung toppte er noch, indem er mich ganz dicht an sich zog und meinen ansonsten festen Standpunkt auf die Fußspitzen verlagerte. Das ließ mich schwanken, aber nur äußerlich. Innerlich war ich immer noch der festen Meinung, mit einem von mir in aller Eile neu geplanten Wortspiel die Lacher auf meine Seite zu ziehen.
Allerdings wäre mir Unterstützung aus der Meditationsecke ganz lieb gewesen.
Zeus war nun am Zuge.
„Hör mal, du halbe Handvoll Hetenscheiße, ich weiß ja nicht, aus welcher Provinz du kommst, aber den Paragrafen gibt’s schon lange nicht mehr und jetzt ist’s wohl besser, wenn ihr hier verschwindet.“
In diesem Moment befiel mich ein Schluckauf. Wahrscheinlich war das Becks zu kalt gewesen. Es ist dann nicht so, dass ich in regelmäßigen Abständen „hick“ sage, es kommt eher unkontrolliert und macht eigentlich gar kein Geräusch, sondern unterbricht nur kurz meine Rede.
Im Grunde genommen hatte ich Swannie jetzt dort, wo ich ihn hinhaben wollte, nämlich auf der falschen Fährte.
„He Großer“ sagte ich „i-hg-ch meinte doch nich DE-hg-EN Parajrafen, Ick dach-hg-te doch nur, weil du Swan-hg-nie heißt, an det Di-hg-ing mit die Tiere. Dieset Sodomiest-hg-stück.“
Swannie hob mich hoch.
„DU-SAGST-MIST-STÜCK-ZU-MIR?“ vergewisserte er sich mit Unglauben in der Stimme und schüttelte mich ein wenig durch. Das deutliche Grollen in seiner Bartwolke und die ersten Tröpfchen, die mein Gesicht dabei trafen, zeigten mir, dass ein schweres Gewitter in seinem schwarzen Anzug steckte.
„SO!“ Mit einem harten Geräusch stellte Herr Neubert seine Bierflasche auf den Tisch. Seine Reinkarnation zu einem gesprächsbereiten und ganz normalen Großstadtmenschen schien abgeschlossen. Fünf Augenpaare wandten sich ihm zu. Aus meinem Blick flackerte die Bitte um Unterstützung.
Herr Neubert zeigte mit dem Zeigefinger seiner Rechten auf Swannie und sagte genau das Richtige - nur leider am falschen Ort und zur falschen Zeit: „Hey, Schwester“, sagte er „jib dir keene Mühe, meen Kumpel tanzt nicht mit unrasierten Mädchen.“
’Netter Versuch, Neubi’ wollte ich noch sagen, aber ich bekam ein Knie in die Schrittgegend gerammt und gleich darauf eine große Hand in den Nacken. Solchermaßen auf Koffergröße zusammengestaucht, klemmte sich Zeus meine Person als handliches Paket unter den Arm und ging seelenruhig auf den Ausgang zu.
Ich wehrte mich nicht; wozu unnötig provozieren, man war ja schließlich kein Selbststeller. Herr Neubert schien ähnlich zu denken, als er von den zwei anderen Bärtigen liebevoll hinter uns her geschleift wurde. Ich hörte nur ein halbherziges: „Hey, mach mich nich wütend.“
Draußen ging es rechts um die Ecke und nach einigen Metern in eine dunkle Toreinfahrt, deren Gittertür hinter uns mit einem widerlichen Geräusch geschlossen wurde.
Dann gab es Dresche.
Erst als irgendjemand gegen eine der Mülltonnen flog und durch das Scheppern Hausbewohner gestört wurden, ging auf dem Innenhof das Licht an. Die Vier ließen von uns ab, Batman beugte sich über mich und zischte: „Der 175 ist schon seit ’94 gestrichen und der die Sodomie betreffende 175b seit 1969. Das war der Sommer der Liebe.“ Er trat noch mal zu und dann war Ruhe.
„Scheiße Mann,“ stöhnte Herr Neubert aus der dunklen Ecke am Gitter „wat war’n dit für’ne Aktion?“
„Schwer zu saren. Humorloset Jesindel det, vor allem der Typ mit der Lederburka. Wir hatten ein Tierschutzproblem. Is mir zu umständlich, det allet zu erklären, vielleicht andermal“, stöhnte ich zurück. „Haste wat Ernstet abjekricht?“
„Weeß ick nich, ick kann hier nüscht sehen.“
Wir ächzten uns in die Senkrechte oder das, was wir dafür hielten und betrachteten uns im Strassenlicht.
„Komm,“ sagte ich „wir nehm’ uns ’n Jummi und fahrn nach Hause. War doch ’n schöna Abend, wa?“
„Mmmhh...“
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
hm,

kraftvoller tagebucheintrag. über welche stelle dieses tragischen geschehens sollte man lachen können?
fragend guckt
 

knychen

Mitglied
kannste fragend gucken. kann nix dafür, dass das leben die beste satire ist. und nu sei mal nicht so zickig wegen der albernen meinungsverschiedenheit bei "advent".
gruß knychen
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
ja,

das leben ist die beste satire. bloß - worauf? ich konnte bei deiner geschichte nicht mal andeutungsweise schmunzeln, obwohl sie richtig gut geschrieben ist.
ich bin nicht zickig. jetzt schmunzle ich.
lg
 

knychen

Mitglied
was soll ich machen?
etwa meine geschichte erklären?
nö.
und danke für die einladung, aber aus den mitgeteilten gründen kann ich solche sachen nur kurzfristig entscheiden. mein privatleben lebt von zurufen.
gruß knychen
 



 
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