Brunftzeit oder Die schönste Frau der Welt

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Markus Veith

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Was habe ich hier verloren? Diese Kneipe ist wie eins dieser Suchbilder, in dem man nach Fehlern sucht. Der Gedanke, daß alles um mich herum bloß eine Kopie von der Wahrheit sein könnte, beruhigt mich ein wenig. Neun Fehler sollen es sein. Zwei habe ich schon gefunden. Das eine ist mein leeres Bier. Das andere bin ich. Meine Archillesferse befindet sich direkt über dem Nasenbein.
Und wie das mit diesen Suchbildern ist, findet man die meisten Fehler immer sehr schnell. Vier davon stehen am Tresen. Die gespielte Leichtigkeit ihrer Maskulin überkochenden Hormonkonservendosen treibt mir schon die ganze Zeit die Tränen in die Augen.
Dieter sagt, Frauen sähen für ihn dann erst richtig gut aus, wenn sie einmal "Ex" sind. Man bräuchte ihnen dann nicht mehr Namen und Adresse ab- oder aufzuschwatzen. Sei sehr praktisch. Aber, so sagt er weiter, obwohl ihm keiner mehr zuhört, sie, also die, die dann "Ex-" sei, habe ja schließlich ihr Chance gehabt, nicht wahr?
Kurt sagt unglaublich doppeldeutig, daß eine Schwalbe noch keinen Sommer mache - wobei er "eine" vertont wie ein Dreißig-Mann-Orchester - und bestellt die nächste Runde. Aber für den Fall, daß mal ein Fuchs vorbeikäme, habe er schließlich immer seine Flinte parat. "Ho-ho-ho!" lacht man pflichtbewußt mir.
Eugen schnappt sich seine Wodga-Batida-Irgendwas-Neige und mit dem heute zum zigsten mal wiederholten Argument, das gäbe ordentlich Tinte auf'm Füller, bekleistert er sich damit die Mageninnenwände.
"Ja, aber wenn man nicht weiß, wem man schreiben soll" mault Klaus, der schon den ganzen Abend mit einer Fresse bis zur Trittablage neben sich hängt.
Der Kellner sieht mich mal wieder nicht. Eine Verbraucherin Mitte-Ende dreißig mit springfidelen Plateauturnschuhen und quietschbunter, durchsichtiger Aufblas-Unterwäsche spielt Dame auf seinem durchschwitzt gefüllten Hemd. Ihre Püppchen verlieren.
Am Tisch nebenan jammern kleinere Ich-kann-nix-bin-nix-sehe- Scheiße-aus-kriege-Keine-ab-Probleme die genervte Beisitzerin voll. "Weißt du, ich kann nichts dazu. Ich bin bei der Geburt am Schamlippenpiercing meiner Mutter hängengeblieben."
Auch die schönste Frau der Welt ist hier. Die schönste Frau der Welt vergißt unsere Vergangenheit. Unsere gemeinsame Vergangenheit ging gerade eben zu Ende und dauerte zwei Augenblicke und einen kurzen Blitz lang, den ein Nebelhauch von Lächeln verschleierte.
Der Kellner kommt und ich seufze ihn an. Er beschuldigt meinen Deckel, ich hätte zuviel getrunken und bestraft ihn mit einer Extraportion Kreuzen und Strichen. Ich bestelle mir schon jetzt ein weiteres und zusätzlich das nächste Bier. Dann stopfe ich mir eine Pfeife.
Pfeifen haben eine bemerkenswerte, wenn auch widersprüchliche Wirkung auf Frauen. Die einen Frauen mögen es sehr, Pfeifenraucher in ihrer Nähe zu haben, weil der Rauch wie Süßigkeiten duftet. Den anderen stinkt's. Manche sagen, eigentlich würden sie rauchende Männer ja nicht mögen, aber seltsamerweise dürfen die meisten Pfeifen in ihrer Nähe oftmals bleiben. Das ist durchaus von Vorteil. Das bringt weiter. Manchmal. Wo denken Sie hin? Ich rauche doch nicht, weil es mir schmeckt. Das ist wie mit dem Trinken. Ich bin einfach lieber besoffen.
Auch die schönste Frau der Welt mag Pfeifen. Sie erschnuppert den Tisch an dem ich sitze und schickt mir ein Lächeln, daß mich dazu bringen könnte, die Kneipe in eine Räucherkammer zu verwandeln, wenn mir dabei nicht vorher die Zunge abnikotiniert werden würde.
Um zu imponieren mache ich Kunststücke mit meinen Rauchkringeln. Ich staple sie um die Kerze. Ich hänge sie an den Leuchter. Ich lasse sie auf der Nase der schönsten Frau der Welt tanzen. Ich habe lange dafür geübt. - Gut Ring will Weile haben.
Die schönste Frau der Welt probiert derweil von anderen Tellern und ißt dabei mit den Fingern. Ich gehe mutig zu ihr und biete ihr freundlich meinen Finger zum Ablutschen an. Dazu empfehle ich einen Drink auf meine Kosten.
Kurz darauf entdecke ich den achten Fehler. Mittelfinger sind im gestrecktem Zustand besonders lang und gemein. Meinem Verstand platzt der Kragenknopf ab und rollt demütig unter meinen Tisch zurück.
Ein weiterer Fehler taucht auf. Ein Typ mit Zigarre.
Eine Begegnung zwischen zwei Pfeifenrauchern ist oftmals sehr angenehm. Pfeifenraucher sind wie Entenfahrer. Man hat dasselbe Übel. Man kennt sich also irgendwie. Man begegnet dem anderen sofort mit einem gewissen Mitleid. Dies ist nicht so, wenn Pfeifen- und Zigarrenraucher ihre Dunstkreise vermischen. Und in diesem speziellen Falle entsteht sowieso dicke Luft. Mein süßlicher Odem aus meinem geschwungenen Kirschenholz entzündet sich fast an den Ausdünstungen von diesem Stinkbolzen.
Vielleicht bin ich fehlerhaft, aber sein Doppelfehler ist nicht nur, daß schon seine Arme Probleme haben, durch die Tür zu kommen, sondern in erster Linie, daß die schönste Frau der Welt ihn offenbar kennt. (Dumm nur, daß ich mich nicht traue, ihm diese Fehler auch laut anzurechnen.) Sie kennt ihn anscheinend sogar recht gut. Viel zu gut. Nicht zu fassen, daß sie sich zu so etwas hinaufbegibt. Er läßt sie seinen Zigarrenatem schmecken. Der Qualm zieht durch ihre Nase ab. - Bäh! - Wie geschmacklos. Raucht der mir einfach meine Liebhaberschaft weg. Jetzt kann sie mich nicht mehr riechen. Das stinkt mir.
Wetten, daß der jeden Abend eine andere hat?
Wetten, daß der eine für jeden Finger hat, aber er auch die Finger braucht, um sie zu zählen?
Wetten, daß er Buchstaben doof findet?
Wetten, daß der Typ im Stehen pinkelt? Männer wie er beherrschen die Methode, mit der gar nichts danebenspritzen kann.
Wetten, daß er ET damals nur einmal geguckt hat?
Wetten, daß er früher Samantha Fox Klasse fand? (Na ja, gut, ich auch. Aber das gehört doch hier nicht zur Sache.)
Wetten, daß er genauso redet wie der Malboro-Man "Malboro-Country" sagt?
Pfeife würde auch gar nicht zu ihm passen. Weiß doch jeder, daß Pfeifen was mit Intellekt zu tun haben. Und Intellekt würde in seine Muskeln passen, wie Camilla ins britische Königshaus. Ach, ist doch wahr ...
Ich schaue weg. Ich kann das nicht sehen. Ohne Skrupel nimmt der Riese das geheiligte Eiland ein. Der Zwerg verkriecht sich im Boden und muß tatenlos zusehen, wie der Riese aus dem schönen Eiland einen Raubtaubentummelplatz macht und die Straßen mit Honig teert und mit Süßholz pflastert.
Ich spiele heimlich mit dem Gedanken, den nächsten, der reinkommt um eine Adoption anzubetteln, da lassen sich plötzlich Turbulenzen in der Schönwetterfront feststellen. Das Schiff der Anti-Förder-Aktion zieht die Schilde hoch, als das feindliche Raumschiff faser-ige Finger einsetzt. Nein, Scotty, lassen Sie die Fernbedienung vom Beamer mal schön in Ruhe. Wir mischen uns nicht ein. Das können die ganz alleine kaputt machen.
Die schönste Frau der Welt wechselt in einen anderen Orbit, doch der Nahkampfgrapscher folgt ihr. Käpt'n, oh, Käpt'n! Die Wetterturbulenzen werden immer schlimmer. Da zieht ein Glaswassersturm auf und jetzt -
Ooouuuh! Sie hat ihn tief getroffen. Hoch ins Tief getroffen. Mit dem Knie. Nicht fest, aber gezielt. Der Ärmste hat sich glatt die Zigarre abgebissen. Jetzt hat er das Großmaul voller Tabakfranzen, aber da er den Mund zum Keuchen braucht, kommt er nicht zum Spucken.
Daraufhin passiert lange nichts. Ungefähr drei Bierdeckelkreuze lang ist die schönste Frau der Welt allein. Jedoch ist dies eigentlich kein Wunder. Sie hat nun ein unsichtbares Schild auf der Stirne kleben, das aber jeder hier lesen kann.
Im Aufenthalt des Gefahrenbereichs des Tiefladers ist besser nicht zu begatten.
Das Verbotene reizt zwar, aber junge Hirsche wittern, wann ihr Gerudel in Gefahr ist.
Aber da - oh, Himmel! - kommt sie plötzlich auf mich zu. Quer durch den Raum. Wie eine Erscheinung aus einer anderen Welt. Ich weiß gar nicht, wie mir geschieht. Bestimmt ist dies auch ein Fehler. Bestimmt muß sie nur mal wohin, oder so.
Aber dann sitzt sie mir gegenüber. Sie sagt: "Hallo." Sagt es einfach so, als ob es nichts anderes zu sagen gäbe. Die Zeit bekommt Schwierigkeiten. Sie windet sich mit zähen Brustschwimmzügen durch die Sekunden wie durch ein Becken Karamel.
"Sag doch was", sagt sie. "Jemand wie ich hat es nicht verdient, angeschwiegen zu werden."
Mir muß etwas einfallen! Schleunigst! Ich gebe ihr erstmal recht. Das ist immer gut. Aber was nun? Diese Frau. Gütiger Himmel! Sie sieht aus wie Lara Croft. Ich weiß gar nicht wo ich hinschauen soll. Ständig klicken meine Augen zwischen bestimmt computeranimierten, vakuumverpackten Ballermännern hin und her. Wie gern ließe ich sie nach meinem Joystick tanzen. In meinem Maschinenraum pfeifen die glühenden Kessel und der Maschinist wirf das verschwitzte Handtuch.
"Deine Stimme ... deine Stimme ...", stammle ich, "... weißt du, du hörst dich an wie Gabi von TKKG." Und da bricht das Eis, und da schmelzen die Pole, und da jubilieren die Sterne, und da lachen alle Kehlen im Chor. Da findet eins zum anderen, weil es gar nicht mehr anders sein kann. Die ganze Zeit war einmal bis jetzt. Hier hat sie nun Überholverbot.
Ich zwitschere wie ein Vögelchen. Ich balze wie ein Täuberich. Ich schlawenzel herum, als hätte ich in meinem Leben nie etwas anderes gemacht. Ich bin die perfekte Mischung aus Leonardo di Caprio, Heiner Lauterbach und Gerhard Schröder. Ich lasse sogar einige Lieblingsschwiegersohn-Anteile von Peter Alexander erkennen. Ich dichte und rezitiere schnell erfundene Weisheiten. Ich mache Witze und lache laut über sie. Ich bin unschlagbar charmant und glaube, gut zu riechen. Ich bin nicht billig. Ich bin preiswert. Ich bin die gute Partie auf jeder Party. Meine Lieblingsfilme habe ich nie gesehen, aber sie stimmen mit den ihren überein. Ich klinge schlau und gebildet und sage nichts von den Comics, die bei mir daheim auf der Toilette liegen. Ich mache mir 'nen Schlitz ins Ohr und koch' mich langsam aus. Ich mache das sehr gut, wie ich mich finde. Sie hält mich für einen Studierenden. Dabei fallen mir die Worte durch den Tisch und zertrampeln mir die Füße.
Das einzige, was mich ärgert, ist, daß ich spendabel bin, ohne daß ich es mir leisten kann. Dem kleinen Rosenverkäufer, der unseren Tisch besucht, verhelfe ich zu einem Lebensende in der Südsee. Alle seine roten Blüten tropfen in unsere Biere.
Näher und näher rücken wir aneinander. Die Luft zwischen uns knistert so, daß sie sich an ihr eine Zigarette anzündet. Dabei schaut sie mir so tief in die Augen, daß sie sicherlich die Innenwand meines Hinterkopfes sehen kann. Sie saugt an der Zigarette, so daß sich die weltschönsten Grübchen in den welthübschesten Mund stülpen. Und aus den weltsüßesten Nüstern quillt der blaue Dunst, wie ein durchsichtiges Märchenwesen. Es formt sich zu einem Amor, dann zu einer Nymphe, die mich an den Lippen herbeizieht. - Irgendwann können wir nicht mehr reden. Dafür ist kein Platz mehr. Die Welt versinkt in einem Kuß, wie er süßer und weicher noch nie und nimmer mehr wieder schmecken kann. Ein fließendes Ineinanderhineinziehen. Ein Ewigkeiten versprechendes Genießen. Ein zungenspitzengründliches Auskundschaften.
Mein mit ihr in dieser widerlichen Menschenfülle hockender Körper schickt zehn Botschafter aus, um der jungen Königin streichelnde Grüße zu überbringen. Sie loben die fruchtbaren Erhebungen und Täler ihres Landes und im Namen des jungen Prinzen bitten sie für ihn um Einkehr in ihr gastfreundliches Reich der Mitte. Dafür bieten sie ihr ein Geschenk. Eine Spezialität ihres Landes. Die vermutlich längste Praline der Welt. So lang, daß sie bald darauf kaum mehr ins Geschenkpapier paßt. Sorgfältig mit besten Zutaten abgeschmeckt. Zart und mundig zur Vollendung gebacken im Ofen der Liebe.
Doch plötzlich öffnet irgend jemand viel zu Weltliches, den ich nicht mehr unter Kontrolle habe, viel zu früh die Klappe und ich verbrenne mir den sabbernden Mund. "Boah, geil, ey", rutscht es aus mir heraus wie ein fremdes und nie gewolltes Embryo.
Sie läßt sofort von mir ab und gafft mich an, wie etwas, daß sich von oben auf ihre Nase abgeseilt hat. Sie wischt sich sogar den Mund ab. Dabei verrenkt sich ihr knallroter Lippenstift und ihr Mund hängt ihr wie der Kummerhaken eines beleidigten Clowns herunter.
Ich solle mich was schämen, beschimpft sie mich. Ich hätte eine erbärmliche Fäkalsprache. Ich frage sie, was dieser Scheiß denn nun soll. Dann verläßt sie wutschnaubend das Lokal. Jedoch ohne zu zahlen und natürlich nicht ohne vorher noch ein paar Edgar-Karten mitgehen zu lassen.
Ich bin wieder allein. Da kommt plötzlich der Zigarrenraucher zu mir, legt mir seinen Protein-Arm um die Schultern, stellt mir ein gefülltes Null-Komma-Fünf mit extra schöner Blume und einen Fußfehler hin und stößt mit mir an.
"Hey, Kumpel, schluck die Pille, solange sie nur bitter ist", rät er und die heiße Malboro-Country-Kartoffel rollt ihm im Mund herum. "Es sind ja noch viele schönste Frauen der Welt da."
Nichts ist wohltuender, als nach verlorener Schlacht ein bißchen gemeinsam im Selbstmitleidsumpf zu planschen und unzufrieden, aber einstimmig festzustellen, daß es wahre Liebe ja doch nur unter Männern gibt.
Wußte ich doch, daß da noch ein Fehler war. Jetzt habe ich alle. Doch dafür habe ich sie nicht mehr alle.
 



 
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