Bufo bufo

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Plejadus

Mitglied
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Irgendwo huscht ein Reh.
Es ist dunkel, und ich muss auf die andere Seite. Meine Stirnlampe - ein Chinaprodukt, gefüllt mit 3 AAA-Batterien aus Bangladesch. Ich befunzele das Unterholz, dahinter steigt die Böschung auf bis zur Leitplanke, jenseits der Standstreifen, dann: drei Fahrspuren je Richtung - dazwischen ein schmaler Grünsteifen, auch umplankt – und noch eine Standspur. Leitplanke.
Keine Übergänge weit und breit, der Verkehr schießt hochfrequent dahin und mein Rucksack wiegt knapp elf Kilo, obwohl ich sogar die Waschanleitungsfahnen aus den Klamotten geschnitten habe.

Ich muss rüber.

Am Fuße der Böschung verschluckt ein dunkler Fleck, der aussieht wie ein liegendes Ei, mein fernöstliches Lichtspiel.
Was mag das sein?
Ich taste mich durchs Gestrüpp dem Schatten zu und staune. Ein Tunnel. Ganz offensichtlich eine Röhre ans andere Ufer. Ein Plasikschild neben dem Loch gibt bekannt:

Gestiftet von den Kirchheimer Krötenfreunden e.V. zur Erleichterung der Wanderung von Bufo bufo zu seinen Teichgründen.
Herzlichst
Kirchheimer Krötenfreunde


Mein Glück scheint hier darin zu bestehen, dass die Kirchheimer Krötenfreunde einen relativ großzügigen Lösungsweg gestiftet haben, vielleicht mussten hier Spendengelder regelrecht verbrannt werden, da deren Aufkommen die Projektkosten unangemessen überstiegen? Schwalle von Wanderkröten vermochten hier bequem und nebeneinander in erstaunlich breiter Reihung die Autobahn zu unterqueren. Möglich auch, dass man seitens der Krötenfreunde in evolutionärer Weitsicht bereits umfänglichere Mutationen eingeplant hatte.
In robbendem Bewegungsmodus scheint mir der gebotene Durchmesser ausreichend zu sein, den Versuch zu wagen. Ich nehme mir den Rucksack von den Schultern und schiebe ihn voraus in die rundlich-ovale Öffnung, das liegende Ei. Der Plan: ihn jeweils ein Stück nach vorn bugsieren und hinterher zu robben.
Ehe ich nachschlüpfe, muss ich mich für die Position meine Arme entscheiden. Voraus oder seitlich?
Meiner Einschätzung nach kann die einmal getroffene Entscheidung im Tunnel nicht mehr revidiert werden, mangels Spielraums.
Meine Wahl verwirft die Kopfstoß-Methode zum Vortrieb des Rucksacks, und so dringe ich gestreckter Arme voraus in das Bauwerk amphibiophiler Naturtiefbauer.
Da eine Winkelstellung der Beine nur in geringen Maße in Betracht kommt, erscheint die Durchführung klassischer Bundeswehr-Grundausbildungsfortbewegung wirklichkeitsfremd.
Ich erlange dennoch einen gewissen Vortrieb, der sich hauptsächlich auf seitlich wechselnde, insgesamt rhythmische, ruckende Bewegungen stützt. Hinzu kommt das Schieben mit den Füßen sowie der Versuch, mich am Rucksack, sofern dieser (auch ob seines sonst gern gesehenen, abgespeckten Eigengewichtes) stabil und ortsfest in der Röhre klemmt, vornwärts zu ziehen, was meist scheitert, da dem Sack diese Zugrichtung fremd ist.

Ich lege eine Pause ein.

Eine Erkenntnis reift heran, wie in einem Ei, die Erkenntnis, dass aus verschiedenen, vermutlich vor allem physikalischen Gründen nicht daran zu denken ist, den Vorgang abzubrechen und umzukehren. Genauso wenig, wie die unterdessen eher Dunkelheit spendenden Energiespeicher aus Bangladesch auszutauschen, da sich die Ersatzbatterien auf der mir abgewandten Seite des Rucksacks befinden.
Eine halbe Stunde später. Ich wähne mich unter dem Grünstreifen. Es besteht eigentlich kein objektiver Grund, der diese Spekulation mit Sinn unterfütterte; es ist – ein Gefühl, welches, wie ich mir vorstelle, meinem Wesen nach nah an der pessimistischen Seite des Vermutungsrahmens verortet ist.
Das Wenige, was gesichert scheint, ist, dass der Rucksack dem Ziel um einige Dezimeter näher ist, als die neurobiologische Illusion, die ihn bugsiert. Und jenes Bugsieren gerät mir nach jedem Male schwerer.
Zunächst schiebe ich diesen Umstand auf mählich erlöschende Kräfte, doch nun eine Bekanntgabe:


Die Stiftung Kirchheimer Krötenfreunde e.V. bedauert es, versäumt zu haben, bekanntzugeben, dass die Unterführung für unsere teichahnenden Freunde aufgrund der im Verlaufe nachlassenden Spendenbereitschaft sich dazu veranlasst sehen musste, den westlichen Teil des Durchlasses um einige unbedeutende Zentimeter geringer zu gestalten, wodurch sich in der Summe ein kaum messbarer, konischer Charakter der Gesamtführung ergibt.
Herzlichst
Kirchheimer Krötenfreunde


Ich erreiche meinen Rucksack nicht mehr. Er ist ein Stückchen weiter, sehen kann ich ihn nicht. Ich weiß aber, dass er da ist, samt Wasserflasche, Batterien, Mobilfunkgerät, Nussfruchtmischung.
Seitliche Ruckbewegungen sind fast nur noch gedanklich möglich, es sind vielleicht noch Zuckungen, die allerdings keine Verlagerung mehr ermöglichen. Ebenso wenig das schiebende Pressen der Fußspitzen: Ich stecke fest. Wie ein Korken.
Es ist möglich, dass ich infolge von Dehydratation oder Muskel- und Fettabbau wieder ein wenig Spielraum dazugewinnen werde. Irgendwann. Aber es ist nicht wahrscheinlich, dass ich mich noch diesseits der Bewusstlosigkeit daran werde erfreuen können.
Vielleicht kommen Kröten...freunde. Sie werden mir aber nicht helfen, sondern mich hassen, da sie gezwungen sind, ihren Weg über eine sechsspurige Autobahn zu nehmen. Wenige werden es auf den Grünstreifen schaffen.
Nur die Mutationen.
 

Silbenstaub

Mitglied
Hallo Plejadus,
deine Geschichte hat mir sehr gut gefallen! Bei der nächsten Reise werde ich auch die Waschanleitungsfahnen herausschneiden. Übrigens gibt es ja auch Eichhörnchenbrücken, Seile über vielbefahrene breite Straßen, und Biberausstiegshilfen aus Flüssen. Da kann auch ne Menge passieren….
LG Silbenstaub
 

Plejadus

Mitglied
Hallo Silbenstaub,
wenn man jetzt nicht eifersüchtige Gestirne heimliche Lyrikfortbildungsseminare belegen!
Von Eichhörnchenbrücken habe ich genauso wenig gehört wie von Ausstiegshilfsapperaturen für Biber, was deren Existenz geradezu beweist. Genauso möglicherweise, wie die jener Mietrollatoren für orientierungsferne Waschbären, von welchen Du vermutlich nur am Rande Kenntnis hast.
Aber das ist ja gerade das Findige am geistigen Abtausch.
Harmonielle Grüße
- Plej.
 

Plejadus

Mitglied
Das erweitert einmal mehr mein Weltbild, vielen Dank.
Man ist in der Hauptstadt offenbar um die Inklusion der ja naturgemäß körperlich und seelisch behinderten Tierwelt bemüht. Wiederholt schlüpft Berlin hier in die Vorreiterrolle und versprüht Tierweltgeltung.
Vielleicht sollte man noch einen Wildschwein-Lifter ins Auge fassen, damit die gut gelaunten Schnitzeljäger besser an die Eicheln kommen?
 

Silbenstaub

Mitglied
Hej, Waschbärenrollatoren, zur Miete, versteht sich, und Wildschweinlifter-das sind alles sehr gute Ideen, die man ev. dem Wildtierbeauftragten des Landes Berlin zur Kenntnis bringen sollte bzw. direkt dem NABU Berlin, Zitat von dessen Homepage:
„…Dann wenden Sie sich an die Wildtierberatung des NABU Berlin!
Telefon: 030 - 54 71 28 91 Mo bis Do von 9 bis 17 Uhr Fr von 9 bis 15 Uhr
Achtung - Wenn der geschaltete Anrufbeantworter nicht gleich anspringt und trotzdem ein Freizeichen ertönt, wird gerade auf allen Leitungen gesprochen - Bitte haben Sie etwas Geduld!
oder per E-Mail: wildtiere@nabu-berlin.de
Achtung! Bei großem Andrang sowie an Wochenende und Feiertagen ist ein Anrufbeantworter geschaltet. Die Nachrichten werden dann so bald als möglich abgehört und bearbeitet…“

Ich vermute, die erwähnte Überlastung entsteht durch die zahlreichen Hilfs- und Auskunftsanfragen der Waschbären, Wildschweine und Eichhörnchen. Wohin sollen sie sich auch wenden?

Aber nun bin ich abgeschweift, geht es doch schließlich um Kröten, Mutationen und das Scheitern der menschlichen Existenz.
Gruß Silbenstaub
 

Plejadus

Mitglied
Das Scheitern der menschlichen Existenz, Silbenstaub, ist ein Wölkchen Silbenstaub, gemessen an - na ja gut, der Satz ist fertig.
Das 'Abschweifen von etwas' war schon immer die Sorte Instabilität, die die Gesamtexistenz überhaupt erst - gut, der auch.
Dem Tier zu helfen - und erst dann dem Menschen, das sollte auch und gerade uns, die wir -
Hm - ich glaube, es hat heute keinen Zweck mehr.
Nichtsdestotrotz bleibt ein Dank des
- Plej.
 

ThomasQu

Mitglied
Hallo Plejadus,

habe deine Geschichte gerade zum zweiten Mal gelesen.
Ich bekomme schon Zustände, wenn ich mir Dokus über Höhlengänger und –taucher anschaue. Aber deine Geschichte ist noch schlimmer. Mir stellen sich beim Lesen wirklich die Zähne quer, obwohl ich eigentlich nicht wissentlich unter Klaustrophobie leide.
Der Text ist eine Mischung aus Horror, Komik und Spannung. Das einzige, was ihm abgeht und was ich dir ankreide, ist die flüssige Lesbarkeit, zu oft bin ich ins Stocken geraten.

Grüße und Kompliment,

Thomas
 

Plejadus

Mitglied
Guten morgen Thomas,
vielen Dank für die summarisch doch freundliche Besprechung meiner chronisch konischen Krötentunnelgeschichte.
Vielleicht ist die Stockungsdichte im Lesefluß auch als ein Tribut an das Thema zu betrachten. Jedenfalls kicke ich mir diese Vorlage höchstselbst zu, um mich herauszureden.
Sonst endete ich womöglich noch in einem Prozess selbstkriticher Geißelung; und eigentlich hat mich das Bauwerk der Kirchheimer Krötenfreunde bereits hinreichend blamiert.
Gruß
- Plej
 



 
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