C.T.

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brain

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Es war das erste Mal für Marcy.
Unsicher betrat sie den Raum, in dem die Untersuchung stattfinden sollte. Alles wirkte kalt und steril und roch nach Krankenhaus. Sogar der nette Pfleger, der bei ihr war und ihr die Prozedur erklärte, die auf sie zukam, der aber irgendwie neben der Spur zu sein schien. „Du brauchst wirklich keine Angst zu haben“, sagte er mit betont beruhigender Stimme. Sein Atem roch nach Kaugummis und Zigaretten und seine Augen wirkten müde. „Du musst dich nur auf den Tisch legen und die Maschine macht den Rest. Das ist so ähnlich wie beim Röntgen.“ Der Computertomograph, der in der Mitte des Raumes stand, erschreckte das zwölfjährige Mädchen. Er war Furcht einflößend groß. Stählern und glänzend hockte er an der Wand und aus seinem Maul, in dem man nur Schwärze erkennen konnte, klaffte eine bleierne Zunge, die wohl der Tisch war, von dem der Pfleger gesprochen hatte. Die Maschine wartete auf sie, zumindest kam es Marcy so vor. Ihr Dad saß draußen im Flur. Sie hätte sich gewünscht, dass er bei ihr geblieben wäre, doch er war seiner Tochter noch nie eine allzu große Stütze gewesen, seit ihre Mom an Krebs gestorben war und mehr als alles andere wünschte sie sich, nicht hier sein zu müssen, das alles vergessen zu können. Marcys Mom war auch in diesem Raum gewesen, vor langer Zeit. Damals hatte Marcy zusammen mit ihrem Dad im Flur auf sie gewartet, gewartet und gewartet, dem Dröhnen der Maschine lauschend, in der ihre Mom lag. Diese Untersuchungen waren regelmäßig durchgeführt worden. Zur Nachsorge, wie es hieß, falls sich wieder etwas rührte. Jetzt hatten sie alle Angst, dass sich in Marcy etwas gerührt hatte, etwas ganz und gar Schlechtes. Sie begriff, dass man ihr im Grunde nur helfen wollte, doch sie hatte Angst, diesen Weg beschreiten zu müssen. Sie verstand längst nicht alles, was um sie herum vorging, doch sie verstand, dass ihre Mom diesen Weg damals gegangen und nicht zurückgekommen war. „Bösartig“, hatten die Ärzte es genannt, als sie mit ihrem Dad über die Untersuchungsergebnisse gesprochen hatten und Marcy hatte nicht verstehen können, dass etwas an ihrer Mom bösartig sein sollte. Das war jetzt drei Jahre her. Ihre Mom war wenig später gestorben und als Marcy das Wort aufgeschnappt hatte, das ihr Dad gebraucht hatte, als er seine Schwester angerufen hatte, um ihr vom Tod seiner Frau zu erzählen, hatte sie es ebenfalls nicht verstanden: Tumor. Das klang für sie irgendwie schlecht und schleimig und sie hatte sich gefragt, was das Ganze mit ihrer Mom zu tun haben sollte. Ihr Dad hatte ihr erzählt, dass ihre Mom jetzt ein Engel sei und über sie wachte und auch wenn man sie nicht sehen konnte, immer bei ihnen war. Auch das hatte Marcy nicht verstanden, aber so war die Welt nun mal anscheinend. Sie war voll von Erklärungen, welche die meisten Menschen nicht verstanden, ganz zu schweigen von den Kindern, denen man natürlich nicht erklären konnte, was man selbst nicht verstand und trotzdem suchten die Erwachsenen Trost in ihnen. Man versteckte die Wahrheit hinter Begriffen, wie „sanft entschlafen“, „von uns gegangen“ oder schlicht und einfach „hat es hinter sich“. Ein Junge aus ihrer Klasse, hatte sogar mal über einen tödlich verunglückten Motorradfahrer gesagt: „bei dem isses schief gegangen.“ Als Marcy vor der Maschine stand, dachte sie an all diese Ausdrücke und hatte Angst, vor sich zu haben, was so viele „hinter sich hatten“, auch wenn sie nicht wusste, was das sein sollte. „Bösartig“, kam ihr mehrmals in den Sinn. Langsam aber sicher bekam sie Angst vor dem Ding, auf das der Pfleger nun zuging. Er hatte eine dünne Leinendecke auf die Bleizunge der Maschine gelegt und nahm das Mädchen nun bei der Hand. „Na, dann wollen wir mal“, sagte er mehr zu sich als zu der Kleinen, die bibberte wie Espenlaub. „Und keine Angst, wenn´s losgeht, da fängt das Gerät an richtig Krach zu machen, aber das ist ganz normal.“ Er versuchte sich an einem Lächeln, aber ein Gähnen zerschnitt es, sodass es wie eine Grimasse wirkte. Geübt half er dem Mädchen auf die Bahre, stützte es zwischen den Schulterblättern und ließ es sanft auf die Decke nieder, die er über den Bleitisch gelegt hatte. Marcy konnte im ersten Moment kaum atmen, so kalt war die Unterlage, auf der sie lag. Hinter ihr klaffte der Schlund der Maschine, dunkel und hungrig. Der Atem des Pflegers schlug ihr ins Gesicht, als er ihr über die Stirn strich und sagte: „Keine Angst, dauert nicht lange.“ Er wollte gerade den Raum verlassen, als das Mädchen fragte: „Und...was ist...wenn was schief geht?“ Der Pfleger blickte sie erstaunt an, als hätte sie ihm eine unlösbare Rechenaufgabe gestellt. Er wollte gähnen, zwang sich aber es zu lassen. „Da geht nichts schief. Wir machen das andauernd hier.“ Er zwinkerte ihr kurz verschwörerisch zu. „Vertrau mir.“ Dann verschwand er durch die Tür, durch die sie den Raum betreten hatten und erschien hinter dem Fenster zum Kontrollraum, der an den Untersuchungsraum angrenzte. Von hier aus konnte er alles sehen. Seit fast sechsunddreißig Stunden war er auf den Beinen und auch wenn er alles sah, konnte er trotzdem nicht alles überblicken. Die Müdigkeit fraß ihn auf. Wenn er nicht bald in sein Bett fallen konnte, würde er sich ein paar Stunden frei nehmen und auf einem der Ersatzbetten für die Patienten schlafen, die im Lager standen.
Er betätigte ein paar Knöpfe und langsam glitt die Bleizunge ins Innere der Maschine, zusammen mit Marcy, die auf ihr lag. Es wurde dunkel um sie herum...und dann begann der Krach, von dem der Pfleger gesprochen hatte. Alles vibrierte. Es war ein Gefühl, als müsste einem der Schädel zerspringen. Es klang fast wie ein Motorrad, nur viel, viel lauter.
Der Pfleger sah sich die errechneten Werte an. Auf einem kleinen Bildschirm konnte er in Marcys Kopf sehen. Schicht für Schicht wurde er von der Maschine abgetastet, als ob man einen Blumenkohl in hauchdünne Scheiben schnitt. Man konnte die Stellen mit dem Weichgewebe sehen, welche sich bei angezeigter Nervenaktivität rot hervortaten. Die Knochen waren weiß. Dazwischen lagen orangefarbene Variationen, die in Gelb und Ocker übergingen. Nach was die Ärzte Ausschau hielten, hätte Schwarz sein sollen, doch bisher sah alles gut aus. Nach ungefähr einer Dreiviertelstunde war die Untersuchung vorbei. Das Bild auf dem Monitor erlosch, der Bildschirm wurde schwarz. Wieder betätigte der Pfleger ein paar Knöpfe und der Computertomograph streckte ihm die Zunge heraus und jetzt war es der Pfleger, dem die Luft wegblieb, als er in den Tomographenraum blickte. Der Leinenüberwurf, der auf dem Tisch gelegen hatte, war verschwunden. Das Mädchen auch.
 



 
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