Carmilla- eine Kurzgeschichte

Anonyma

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Freundlich rief das kleine Mädchen die schwarze Katze mit dem wunderschönen langen und dichten Fell zu sich: „Miezi, miezi! Komm mal her!“ „Ich bitte Sie, Fräulein Maria!“, predigte ihre Gouvernante, „Sie sollten sich nicht mit solch streunenden Katzen beschäftigen. Wer weiß, welche Krankheiten diese hier überträgt.“ Maria lächelte leicht: „Seien Sie nicht albern Martha. Sie ist doch ganz lieb und so süß! Können wir sie nicht behalten?“ Martha rümpfte abfällig die Nase, als sie sah, wie die Katze genüsslich der Streicheleinheiten erfreute. „Nun kommen Sie bitte von diesem Schmutzfink weg!“, sie zog ihren Schützling außerhalb der Reichweite der Katze, die unberührt davon an Ort und Stelle blieb. Sie blickte den beiden Frauen hinterher und folgte ihnen unauffällig auf ihrem Weg durch die Koblenzer Straßen. Schließlich verschwanden sie in einer großen und vornehmen Villa nahe dem in der Sonne glänzenden Rhein. Ihr neues Opfer hatte sie sich bereits ausgesucht. Sie leckte sich die Pfote und streichelte damit über ihr luchsgleiches Ohr. Ihr langes, schwarzes Fell wurde vom Wind zerzaust, sodass sie mit der Körperpflege geflissentlich fortfuhr und sich schon die Einrichtung und das wohlige Leben in ihrem neuen zu Hause ausmalte.
Eine Woche später gewährte ihr die junge Dame des Hauses ständigen heimlichen Einlass in die Villa. Sie schlief heimlich im Bett des Mädchens und wenn es morgen wurde, schickte Maria die Katze wieder fort. So lief es einige Wochen. Bis die strenge Gouvernante auf dieses Treiben aufmerksam wurde. Mit vielen Tränen, Bitten und Betteln bei den Eltern durfte das kleine Fräulein ihre neue Begleiterin behalten und taufte sie auf den Namen Teresa von Avila - nach einer Mystikerin des 16. Jahrhunderts, für die sie viel Hochachtung empfand und die eine Art Idol für sie war. Für Maria war ihre Katze Teresa ein Geschenk des Himmels, eine Freundin, die ihr immer zuhörte und immer bei ihr war. Sie schien sie auf eigenartige Weise zu verstehen. Sie hatte ein ruhiges, einnehmendes Wesen, kuschelte und spielte gerne, wie alle Katzen es eben tun - dennoch war sie manchmal anders, vor allem nachts. Manchmal war Maria der Meinung, Teresa würde rote Augen haben oder gar keine Katzenpupillen, sondern menschliche. Doch sie sagte sich, dass sei nur Einbildung. In der Nacht werden einem schließlich oft Streiche der Fantasie gespielt.
Mit den Monaten und Jahren fühlte sich Maria jeden Morgen müder. Sie kam kaum aus dem Bett, es wurde so schlimm, dass sie manchmal einfach weiterschlief, sie niemand wach bekam und sie somit bis in den späten Nachmittag hinein schlief. Sie nahm stark ab. Als sie 14 war, wog sie nur noch 48 Kilogramm. Ihre Eltern waren besorgt, so wie das ganze Haus. Schließlich kam sie mit 16 gar nicht mehr aus dem Bett, war blass und kränklich. Sonnenlicht mochte sie nicht. Man ließ Ärzte kommen, die jedoch keinen Rat wussten, da offensichtlich alles in Ordnung war. Sie rieten zu regelmäßigem Aderlass. Am besten ging es Maria, wenn Teresa bei ihr war, die sich fast gar nicht mehr aus dem Zimmer bewegte. Die Gouvernante stellte fest, dass es dem Fräulein schlechter ginge, seit sie vor 8 Jahren die Katze ins Haus geholt hätte.
Man versuchte Teresa loszuwerden, doch die musste nur jammern und sich zu Maria ins Zimmer flüchten, die allen unter Androhung von Essensverweigerung verbot der armen Katze auch nur ein Haar zu krümmen. Daraufhin ordneten die Eltern dem Hauspersonal an, Teresa vergiftetes Futter zu geben. Die Katze rührte jedoch keines davon an. Da sie auch sonst nie das Haus verließ - und so gut wie nie Teresas Zimmer - fragte man sich, was sie überhaupt zu sich nahm und die wildesten Ängste machten sich breit, die in Windeseile eigenartige Gerüchte über die Villa der Familie von Alten-Bockum streuten.
Andere adlige Familien mieden Besuche dort und auch sonst wurde die Familie kaum noch zu gesellschaftlichen Anlässen eingeladen. Im Hause selber sorgte man sich und erfuhr diese Abweisungen als Unverfrorenheiten. „Mir reicht’s! Ich werde sie umbringen!“, sagte der Vater aufgebracht eines Abend - wie ein Löwe vor dem Kamin auf- und ablaufend. „Das kannst du nicht“, meinte die Mutter, ihre Stickarbeit beiseite legend. „Doch“, brauste er auf, „ich werde einfach heute Nacht in ihr Zimmer schleichen, die Katze holen und sie totschlagen!“ Entsetzt sah die Mutter ihn an: „Aber Mariechen liebt ihre Teresa so sehr, du würdest ihr das Herz brechen. Dann stirbt sie noch daran…und du wärst schuld!“ Der Vater winkte entnervt ab. Er hatte keine Lust seine gesellschaftliche Stellung wegen dieser absurden Gerüchte zu verlieren. Die Gouvernante wollte auch schon kündigen und die Bediensteten tuschelten verängstigt miteinander.
Er ging in sein Arbeitszimmer und wartete bis kurz nach Mitternacht. In der Villa war es ganz still. Schließlich verließ er das Zimmer, ging kurz raus auf den Hof um im Arbeitsschuppen einen Sack zu holen und ging dann wieder ins Haus. Langsam und achtsam schritt er die halbdunklen Treppen zum 2. Stock empor. Unterwegs nahm er noch eine kleine Statuette der Göttin Minerva von einer Anrichte im Flur des 1. Stockes mit. Falls sie nicht in den Sack wollte, würde er das „verdammte Vieh“ damit erschlagen. „Mistvieh“, nuschelte er und hielt die Statuette so fest in der Hand, dass die Adern hervortraten. Oben blieb er vor der Tür seiner Tochter stehen und atmete einmal ruhig ein und aus. Sie würde gesund werden und über den Verlust des Tieres hinwegkommen.
Leise und bedächtig öffnete er die Tür und schaute nur durch einen Spalt hinein. Die Vorhänge waren alle - bis auf zwei - zugezogen. Marias Bett lag im Halbdunkel. Das Mondlicht fiel ins Zimmer und beleuchtete einen Teil ihres Himmelbettes. Der Vater stutzte. Am Bett seiner Tochter saß jemand. Er öffnete die Tür weiter, um mehr sehen zu können, blieb aber mit dem Körper dennoch dahinter. Sein Herz kroch ihm in den Hals und Blut pulsierte in seinen Ohren. Die Gestalt beugte sich über Maria, strich ihr die Haare sanft aus dem Gesicht und vom Hals. Dann beugte sie sich leicht über sie und gab ihr einen Kuss auf den Nacken. Der Vater erschauderte zutiefst und seine Armhärchen stellten sich auf. Das war kein Kuss, er konnte ein saugendes Trinkgeräusch hören. Seine Tochter stöhnte lustvoll umnebelt im Schlaf auf. Was ging hier vor sich? Die Gestalt löste sich vorsichtig von Maria und streichelte ihr sanft über die Wange, dann blickte sie zur Tür. Rote Augen. Sie schimmerten leicht im Dunkeln. Das einzige, was der Vater genau sehen konnte. Er begann zu zittern. Der Teufel war hier im Haus! Sie waren alle verflucht! Er ließ die Statuette los, sie knallte laut auf den Parkettboden und zerbrach in große Teile. Er strauchelte rückwärts und stand schnell mit dem Rücken an der getäfelten dunklen Wand. Die Gestalt hatte sich von Marias Bett gelöst und er erkannte nun, dass es eine Frau war. Ihre langen, hellblonden, lockigen Haare glimmerten im Mondlicht. Er sah wie sie mit ihren schlanken, kreideweißen Fingern Blut von ihrem Mund wischte und gelassen ableckte. Sie lächelte ihn, ja genau ihn, direkt an. Eine herablassende Freude spiegelte sich in ihrem wunderschönen Gesicht wieder. Wovor fürchtest du dich?, hörte er eine lockende, weiche Stimme in seinem Kopf. Was war das? Er war noch verängstigter als zuvor und Starr vor Schreck. Sein Puls raste, seine Hände waren eiskalt und verschwitzt. Komm doch zu mir, flüsterte die Stimme. Die betörenden Augen der Frau lockten ihn zu ihr. Sein Gehirn setzte aus. Wer bist du?, fragte er halb-betäubt in seinen Gedanken. Carmilla, antwortete ihm die Stimme mit einem spöttischen süffisanten Lachen. Er war wie gebannt und folgte ihrer süßen Stimme und den rot-schimmernden Augen ins Zimmer. Die Tür ging hinter ihm leise zu und schloss sich scheinbar selber ab.
Die Frau ließ ihn sich auf ein mit königsblauem Samt bezogenes Kanapee setzen mit direktem Blick auf das Bett. Seine Augen waren halb geöffnet, als würde er mit offenen Augen schlafen. Carmilla beugte sich über Maria und labte sich noch an ihr, bis ihr Lebenslicht erlosch. Wenigstens hatte sie einen schönen Traum gehabt, bevor sie im Schlaf starb: Das Mädchen hatte davon geträumt mit dem hübschen Bäckersknecht, der im Laden in der Nähe der Liebfrauenkirche arbeitete, verheiratet zu werden. Carmilla holte aus einem Versteck in dem untersten Schubfach einer Kommode einen Dolch hervor. Damit ging sie zum Vater und drückte ihn diesen in die Hand. Führ es für mich zu Ende, flüsterte sie ihm sanft zu. Er nickte, stand mechanisch auf und ging zum Bett seiner Tochter. Völlig in Trance holte er mit dem Messer aus und stach ihr in die Brust. Als er sah wie das dünne und wenige Blut ihr Nachthemd besudelte, verfiel er in einen Rausch und stach immer und immer wieder zu. Bis ihre Brust beinahe völlig zerstochen war und die Blutlache ein wenig größer wurde. Trink, befahl sie ihm. Er ließ das Messer fallen und presste seine Lippen auf die Wunden seiner Tochter. Das noch warme, nach Metall schmeckende Blut rann ihm die Kehle hinab. Er trank solange bis er sich neben das Bett erbrach. Jetzt schlaf ein und wenn du aufwachst, wirst du dich an nichts erinnern. Er sackte zusammen, mit dem Oberkörper auf dem Bett, die Füße in seinem eigenen Erbrochenem. Carmilla öffnete gelassen und ungerührt das Fenster, die klare Nachtluft umarmte sie. Ihre Augen glimmten rot auf, sie erhob sich lautlos in die Lüfte und ihr Körper löste sich in tausend kleine Fledermäuse auf. Sie flogen auf und davon.
Das Familiendrama um die Familie von Alten-Bockum war für mehrere Monate ein gefundenes Fressen für die Presse und sämtliche Flugblätter. Der Vater hatte sich nachts ans Bett seiner kränklichen Tochter geschlichen, sie erstochen und danach ihr Blut getrunken. Ein entsetzter Aufschrei ging nicht nur durch die deutschen Lande, sondern auch durch angrenzende europäische Nachbarländer. Man vermutete, dass der Vater vom Teufel besessen sein müsse. Da er sich aber an nichts erinnern konnte und keine Anzeichen einer Besessenheit zeigte, unterstellte man ihm einen Teufelspakt und sperrte ihn in der Festung Ehrenbreitstein bis zur Verhandlung ein. Im Verlauf des Prozesses wurden immer mehr Beweise für seine Schuld - die eh außer Frage stand - und für seine Verbindung mit dem Bösen angeführt. Obwohl die von Alten-Bockums eine eigentlich angesehene adlige Familie waren, gab es keinen Anwalt, der den Vater vertreten wollte. Schließlich verurteilte man ihn zur Verbrennung auf dem Scheiterhaufen.
 

flammarion

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Hallo Anonyma, herzlich Willkommen in der Leselupe!

Schön, dass Du den Weg zu uns gefunden hast. Wir sind gespannt auf Deine weiteren Werke und freuen uns auf einen konstruktiven Austausch mit Dir.

Um Dir den Einstieg zu erleichtern, haben wir im 'Forum Lupanum' (unsere Plauderecke) einen Beitrag eingestellt, der sich in besonderem Maße an neue Mitglieder richtet. http://www.leselupe.de/lw/titel-Leitfaden-fuer-neue-Mitglieder-119339.htm

Ganz besonders wollen wir Dir auch die Seite mit den häufig gestellten Fragen ans Herz legen. http://www.leselupe.de/lw/service.php?action=faq


Viele Grüße von flammarion

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Freundlich rief das kleine Mädchen die schwarze Katze mit dem wunderschönen, langen und dichten Fell zu sich: „Miezi, miezi! Komm mal her!“ „Ich bitte Sie, Fräulein Maria!“, predigte ihre Gouvernante, „Sie sollten sich nicht mit solch streunenden Katzen beschäftigen. Wer weiß, welche Krankheiten diese hier überträgt.“ Maria lächelte leicht: „Seien Sie nicht albern Martha. Sie ist doch ganz lieb und so süß! Können wir sie nicht behalten?“ Martha rümpfte abfällig die Nase, als sie sah, wie sich die Katze genüsslich der Streicheleinheiten erfreute. „Nun kommen Sie bitte von diesem Schmutzfink weg!“, sie zog ihren Schützling außerhalb der Reichweite der Katze, die unberührt davon an Ort und Stelle blieb. Sie blickte den beiden Frauen hinterher und folgte ihnen unauffällig auf ihrem Weg durch die Koblenzer Straßen. Schließlich verschwanden sie in einer großen und vornehmen Villa nahe dem in der Sonne glänzenden Rhein. Ihr neues Opfer hatte sie sich bereits ausgesucht. Sie leckte sich die Pfote und streichelte damit über ihr luchsgleiches Ohr. Ihr langes, schwarzes Fell wurde vom Wind zerzaust, sodass sie mit der Körperpflege geflissentlich fortfuhr und sich schon die Einrichtung und das wohlige Leben in ihrem neuen zu Hause ausmalte.
Eine Woche später gewährte ihr die junge Dame des Hauses ständigen heimlichen Einlass in die Villa. Sie schlief heimlich im Bett des Mädchens und wenn es morgen wurde, schickte Maria die Katze wieder fort. So lief es einige Wochen. Bis die strenge Gouvernante auf dieses Treiben aufmerksam wurde. Mit vielen Tränen, Bitten und Betteln bei den Eltern durfte das kleine Fräulein ihre neue Begleiterin behalten und taufte sie auf den Namen Teresa von Avila - nach einer Mystikerin des 16. Jahrhunderts, für die sie viel Hochachtung empfand und die eine Art Idol für sie war. Für Maria war ihre Katze Teresa ein Geschenk des Himmels, eine Freundin, die ihr immer zuhörte und immer bei ihr war. Sie schien sie auf eigenartige Weise zu verstehen. Sie hatte ein ruhiges, einnehmendes Wesen, kuschelte und spielte gerne, wie alle Katzen es eben tun - dennoch war sie manchmal anders, vor allem nachts. Manchmal war Maria der Meinung, Teresa würde rote Augen haben oder gar keine Katzenpupillen, sondern menschliche. Doch sie sagte sich, dass sei nur Einbildung. In der Nacht werden einem schließlich oft Streiche der Fantasie gespielt.
Mit den Monaten und Jahren fühlte sich Maria jeden Morgen müder. Sie kam kaum aus dem Bett, es wurde so schlimm, dass sie manchmal einfach weiterschlief, sie niemand wach bekam und sie somit bis in den späten Nachmittag hinein schlief. Sie nahm stark ab. Als sie 14 war, wog sie nur noch 48 Kilogramm. Ihre Eltern waren besorgt, so wie das ganze Haus. Schließlich kam sie mit 16 gar nicht mehr aus dem Bett, war blass und kränklich. Sonnenlicht mochte sie nicht. Man ließ Ärzte kommen, die jedoch keinen Rat wussten, da offensichtlich alles in Ordnung war. Sie rieten zu regelmäßigem Aderlass. Am besten ging es Maria, wenn Teresa bei ihr war, die sich fast gar nicht mehr aus dem Zimmer bewegte. Die Gouvernante stellte fest, dass es dem Fräulein schlechter ginge, seit sie vor 8 Jahren die Katze ins Haus geholt hätte.
Man versuchte Teresa loszuwerden, doch die musste nur jammern und sich zu Maria ins Zimmer flüchten, die allen unter Androhung von Essensverweigerung verbot der armen Katze auch nur ein Haar zu krümmen. Daraufhin ordneten die Eltern dem Hauspersonal an, Teresa vergiftetes Futter zu geben. Die Katze rührte jedoch keines davon an. Da sie auch sonst nie das Haus verließ - und so gut wie nie Teresas Zimmer - fragte man sich, was sie überhaupt zu sich nahm und die wildesten Ängste machten sich breit, die in Windeseile eigenartige Gerüchte über die Villa der Familie von Alten-Bockum streuten.
Andere adlige Familien mieden Besuche dort und auch sonst wurde die Familie kaum noch zu gesellschaftlichen Anlässen eingeladen. Im Hause selber sorgte man sich und erfuhr diese Abweisungen als Unverfrorenheiten. „Mir reicht’s! Ich werde sie umbringen!“, sagte der Vater aufgebracht eines Abend - wie ein Löwe vor dem Kamin auf- und ablaufend. „Das kannst du nicht“, meinte die Mutter, ihre Stickarbeit beiseite legend. „Doch“, brauste er auf, „ich werde einfach heute Nacht in ihr Zimmer schleichen, die Katze holen und sie totschlagen!“ Entsetzt sah die Mutter ihn an: „Aber Mariechen liebt ihre Teresa so sehr, du würdest ihr das Herz brechen. Dann stirbt sie noch daran…und du wärst schuld!“ Der Vater winkte entnervt ab. Er hatte keine Lust seine gesellschaftliche Stellung wegen dieser absurden Gerüchte zu verlieren. Die Gouvernante wollte auch schon kündigen und die Bediensteten tuschelten verängstigt miteinander.
Er ging in sein Arbeitszimmer und wartete bis kurz nach Mitternacht. In der Villa war es ganz still. Schließlich verließ er das Zimmer, ging kurz raus auf den Hof um im Arbeitsschuppen einen Sack zu holen und ging dann wieder ins Haus. Langsam und achtsam schritt er die halbdunklen Treppen zum 2. Stock empor. Unterwegs nahm er noch eine kleine Statuette der Göttin Minerva von einer Anrichte im Flur des 1. Stockes mit. Falls sie nicht in den Sack wollte, würde er das „verdammte Vieh“ damit erschlagen. „Mistvieh“, nuschelte er und hielt die Statuette so fest in der Hand, dass die Adern hervortraten. Oben blieb er vor der Tür seiner Tochter stehen und atmete einmal ruhig ein und aus. Sie würde gesund werden und über den Verlust des Tieres hinwegkommen.
Leise und bedächtig öffnete er die Tür und schaute nur durch einen Spalt hinein. Die Vorhänge waren alle - bis auf zwei - zugezogen. Marias Bett lag im Halbdunkel. Das Mondlicht fiel ins Zimmer und beleuchtete einen Teil ihres Himmelbettes. Der Vater stutzte. Am Bett seiner Tochter saß jemand. Er öffnete die Tür weiter, um mehr sehen zu können, blieb aber mit dem Körper dennoch dahinter. Sein Herz kroch ihm in den Hals und Blut pulsierte in seinen Ohren. Die Gestalt beugte sich über Maria, strich ihr die Haare sanft aus dem Gesicht und vom Hals. Dann beugte sie sich leicht über sie und gab ihr einen Kuss auf den Nacken. Der Vater erschauderte zutiefst und seine Armhärchen stellten sich auf. Das war kein Kuss, er konnte ein saugendes Trinkgeräusch hören. Seine Tochter stöhnte lustvoll umnebelt im Schlaf auf. Was ging hier vor sich? Die Gestalt löste sich vorsichtig von Maria und streichelte ihr sanft über die Wange, dann blickte sie zur Tür. Rote Augen. Sie schimmerten leicht im Dunkeln. Das einzige, was der Vater genau sehen konnte. Er begann zu zittern. Der Teufel war hier im Haus! Sie waren alle verflucht! Er ließ die Statuette los, sie knallte laut auf den Parkettboden und zerbrach in große Teile. Er strauchelte rückwärts und stand schnell mit dem Rücken an der getäfelten dunklen Wand. Die Gestalt hatte sich von Marias Bett gelöst und er erkannte nun, dass es eine Frau war. Ihre langen, hellblonden, lockigen Haare glimmerten im Mondlicht. Er sah wie sie mit ihren schlanken, kreideweißen Fingern Blut von ihrem Mund wischte und gelassen ableckte. Sie lächelte ihn, ja genau ihn, direkt an. Eine herablassende Freude spiegelte sich in ihrem wunderschönen Gesicht wieder. Wovor fürchtest du dich?, hörte er eine lockende, weiche Stimme in seinem Kopf. Was war das? Er war noch verängstigter als zuvor und Starr vor Schreck. Sein Puls raste, seine Hände waren eiskalt und verschwitzt. Komm doch zu mir, flüsterte die Stimme. Die betörenden Augen der Frau lockten ihn zu sich. Sein Gehirn setzte aus. Wer bist du?, fragte er halb-betäubt in seinen Gedanken. Carmilla, antwortete ihm die Stimme mit einem spöttischen süffisanten Lachen. Er war wie gebannt und folgte ihrer süßen Stimme und den rot-schimmernden Augen ins Zimmer. Die Tür ging hinter ihm leise zu und schloss sich scheinbar selber ab.
Die Frau ließ ihn sich auf ein mit königsblauem Samt bezogenes Kanapee setzen mit direktem Blick auf das Bett. Seine Augen waren halb geöffnet, als würde er mit offenen Augen schlafen. Carmilla beugte sich über Maria und labte sich noch an ihr, bis ihr Lebenslicht erlosch. Wenigstens hatte sie einen schönen Traum gehabt, bevor sie im Schlaf starb: Das Mädchen hatte davon geträumt mit dem hübschen Bäckersknecht, der im Laden in der Nähe der Liebfrauenkirche arbeitete, verheiratet zu werden. Carmilla holte aus einem Versteck in dem untersten Schubfach einer Kommode einen Dolch hervor. Damit ging sie zum Vater und drückte ihn diesen in die Hand. Führ es für mich zu Ende, flüsterte sie ihm sanft zu. Er nickte, stand mechanisch auf und ging zum Bett seiner Tochter. Völlig in Trance holte er mit dem Messer aus und stach ihr in die Brust. Als er sah wie das dünne und wenige Blut ihr Nachthemd besudelte, verfiel er in einen Rausch und stach immer und immer wieder zu. Bis ihre Brust beinahe völlig zerstochen war und die Blutlache ein wenig größer wurde. Trink, befahl sie ihm. Er ließ das Messer fallen und presste seine Lippen auf die Wunden seiner Tochter. Das noch warme, nach Metall schmeckende Blut rann ihm die Kehle hinab. Er trank solange bis er sich neben das Bett erbrach. Nun Schlaf und wenn du aufwachst, erinnerst du dich an nichts. Er sackte zusammen, mit dem Oberkörper auf dem Bett, die Knie in seinem eigenen Erbrochenem. Carmilla öffnete gelassen und ungerührt das Fenster, die klare Nachtluft umarmte sie. Ihre Augen glimmten rot auf, sie erhob sich lautlos in die Lüfte und ihr Körper löste sich in tausend kleine Fledermäuse auf. Sie flogen auf und davon.
Das Familiendrama um die Familie von Alten-Bockum war für mehrere Monate ein gefundenes Fressen für die Presse und sämtliche Flugblätter. Der Vater hatte sich nachts ans Bett seiner kränklichen Tochter geschlichen, sie erstochen und danach ihr Blut getrunken. Ein entsetzter Aufschrei ging nicht nur durch die deutschen Lande, sondern auch durch angrenzende europäische Nachbarländer. Man vermutete, dass der Vater vom Teufel besessen sein müsse. Da er sich aber an nichts erinnern konnte und keine Anzeichen einer Besessenheit zeigte, unterstellte man ihm einen Teufelspakt und sperrte ihn in der Festung Ehrenbreitstein bis zur Verhandlung ein. Im Verlauf des Prozesses wurden immer mehr Beweise für seine Schuld - die eh außer Frage stand - und für seine Verbindung mit dem Bösen angeführt. Obwohl die von Alten-Bockums eine eigentlich angesehene adlige Familie waren, gab es keinen Anwalt, der den Vater vertreten wollte. Schließlich verurteilte man ihn zur Verbrennung auf dem Scheiterhaufen.
 



 
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