Chaos

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Löwengeist

Mitglied
Nach langem Hin und Her hatte er sich nun doch dazu entschlossen, die heißersehnte CD seiner
Lieblingsgruppe zu kaufen.
Einkaufen, wie lange mochte es her sein, als er noch unbeschwert durch die Regale des Kaufhauses
schlendern konnte ? Er wusste es nicht mehr.
Alles hatte er in diesem Moment vergessen. Unbändige Angst quälte ihn und ließ ihn erstarren.
Nochnichteinmal fünf Minuten waren vergangen, seitdem er die Musikabteilung betreten hatte.
Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn und er begann am ganzen Leib zu zittern.
Nervös blickte er um sich und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen; Warum fiel ihm alles
nur so schwer ? Er hatte das Gefühl, bohrende Blicke auf sich zu spüren und
es war ihm nicht möglich, ihnen zu entgehen.
"Guten Tag, kann ich ihnen helfen ?" Er zuckte wie unter einem Peitschenhieb zusammen ! Das hatte
er doch unter allen Umständen vermeiden wollen, was jetzt ? Er starrte in das Gesicht der jungen
Verkäuferin und leckte sich nervös über die Lippen.
"N-n-n-nein", stammelte er, "schon schon gut, nur eine CD...".
Damit flüchtete er in den nächsten Gang, wo sich niemand sonst aufhielt. Er versuchte sich wieder
zu fangen und die Kontrolle über sein Denken zurückzuerlangen.
Ganz ruhig, sagte er zu sich selbst, immer wieder, dabei machte er einige tiefe Atemzüge
und schloss die Augen. Eine kleine Weile später hatte er sich gefasst. Er konzentrierte
sich wieder auf sein eigentliches Anliegen und machte sich vorsichtig auf den Weg durch die Regale.
Nach kurzer Zeit hatte er die gewünschte CD gefunden, nahm sie aus der Halterung und zwang
sich, ruhig zu einer der drei geöffneten Kassen zu gehen. Zwei Kunden waren noch vor ihm, also
hatte er noch Zeit. Warum hatte er nur solche Angst vor den Menschen ? Mit den Jahren war es immer
schlimmer geworden. Es kostete ihn Tage des Überwindens, bevor er auch nur einen Schritt außer
der Reihe aus der Wohnung tat.
Er hasste es, morgens zur Schule zu gehen, diese Angst zu spüren und nichts dagegen tun zu können.
Aber am Meisten hasste er sich selbst dafür, diese Gedanken überhaupt zu haben.
In seiner klasse war er schon lange zum Außenseiter abgestempelt, man mied ihn, aber hinter
seinem Rücken wurde geredet und oft glaubte er, im Vorbeigehen zynische Bemerkungen aus den
Mündern seiner Mitschüler zu hören. Wenn seine Angst ihn wiedereinmal zu erdrücken schien, ging
er einfach nicht hin, er schwänzte den Unterricht. Ja, das hatte er schon oft gemacht, und
seine Noten ließen dementsprechend auch zu wünschen übrig. Und auch das hasste er. Warum
konnte er nicht einfach normal sein ?
"Legen sie bitte die Ware auf das Band", hörte er die Kassiererin sagen. Es dauerte einen Moment,
bis er begriffen hatte, daß er gemeint war. Eine Hitzewelle überflutete ihn und schnell tat er,
was die Frau von ihm verlangte. Blos schnell raus hier, dachte er, als er mit zitternden
Händen das geforderte Geld aus dem Portemonnaie nahm und der Kassiererin reichte.
Schnell steckte er das Wechselgeld in die Jackentasche, nahm die CD vom Band und lief in Richtung
Ausgang. Daß er dabei eine junge Frau, die einen Kinderwagen schob, unsanft anrempelte,
merkte er nichteinmal. Er wollte nur so schnell wie möglich nachhause zurück, in sein schützdendes
Zimmer.
Dort angekommen, dachte er nach. Er wusste, er hatte ein Problem, genauergenommen waren es viele
Probleme, die ihm fast den Verstand raubten. Wie sollte er mit ihnen umgehen ? Mit wem sollte
er darüber reden ? Seine Eltern verstanden ihn ja doch nicht, außerdem müssten sie doch sehen,
daß es ihm nicht gut ging. Aber nein, sie waren nur mit sich selbst beschäftigt und stritten oft.
Sicherlich war er daran schuld, schließlich war er ein Nichts, der blos faul in seinem
Zimmer hockte und die Tage nutzlos verstreichen ließ. Nein, er würde nichts davon sagen, es
hatte ja doch keinen Sinn, er konnte einfach nicht reden. Was sollte sich denn auch ändern ?
Seine Eltern würden ihn wahrscheinlich zu einem Psychologen bringen, wenn sie davon erfuhren, und
das wollte er auf keinen Fall, schließlich war er nicht blöd. Er war nur anders als die anderen,
das war es, nur anders....
 



 
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