Charlotte lernt fliegen

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knychen

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Charlotte lernt fliegen
Das kleine Mädchen lässt ihre rote Buddelschippe sinken und starrt gebannt zur Steganlage des Strandbades. Soeben hatte sie die entscheidende Idee.
Vor einigen Minuten noch wühlte sie eher lustlos im moddrigen Ufersand, dann wurden ihre Gedanken abgelenkt von ein paar einsam am blauen Himmel dahinschwebenden Wölkchen. Sie sahen genauso aus wie die Wolken, auf denen Heidi immer in der geliebten Zeichentrickserie schwebt. Jaa, das müsste man können. Fliegen wie Heidi oder Nils Holgerson. Beim Nachdenken über das „Wie“ fielen ihr die großen Kinder ein, die mit viel Gekreische und offensichtlichem Spaß immer und immer wieder von dem Turm ins Wasser sprangen.
Von diesem Turm, der am Ende des Holzsteges so herrlich in der Sonne glänzt.
Manchmal sah es aus, als ob sie einen Augenblick in der Luft schwebten.
Das Mädchen steht nun am Strand, reckt ihr Bäuchlein heraus und streicht sich ein paar blonde Haarsträhnen aus dem Gesicht.
Ein kurzer Blick zum mit geschlossenen Augen daliegenden Papa, dann läuft sie los.
Niemand achtet auf sie, niemand ruft: „Bleib stehen, da darfst du nicht alleine hin!“ Die großen Kinder sind auch nicht mehr am Turm, sie spielen hinten auf der Wiese Fußball.
Langsam geht sie über die alten Holzbretter des Steges. Sie duften nach etwas, dass sie nicht kennt, aber es riecht gut. Am äußersten Ende angekommen bleibt sie stehen, legt den Kopf in den Nacken und schaut nach oben.
Die Leiter sieht nicht viel höher aus als die von ihrem Bett. Nochmals wandert ihr Blick zur Wiese, aber Papa beachtet sie überhaupt nicht. Keiner beachtet sie.
Sie legt beide Hände auf die Stufen vor ihrem Gesicht und setzt den linken Fuß auf die unterste Sprosse. Das kühle und noch nasse Metall hat viele kleine Löcher, die kitzeln an der Fußsohle. Unsicher noch, dann Selbstvertrauen fassend, beginnt sie mit dem Aufstieg.
Nach jeder Stufe streicht sie mit der unbewussten Bewegung, die sie von ihren langhaarigen Eltern übernommen hat, ihr Blickfeld frei und zählt. Als es nur noch vier Stufen sind, lächelt sie. Ab hier kann sie rückwärts zählen.
Vier Jahre wird sie, wenn sie wieder Geburtstag hat. Jetzt ist sie drei. Sie hält Daumen, Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand hoch, wie um sich zu vergewissern. Dann steigt sie weiter.
Oben angekommen, kneift sie einen Moment die Augen zusammen, weil die Sonne blendet. Bei der ersten Berührung des Sprungbrettes zögert sie. Dieser kleine schmale Weg, der sich nun vor ihr auftut, glitzert und ist kratzig. Auf so was ist sie noch nie gelaufen.
Sich links und rechts am Geländer festhaltend, tastet sie sich Schritt für Schritt nach vorn.
Plötzlich spürt sie Bewegungen unter sich. Immer wenn sie einen Fuß aufgesetzt hat, wackelt das glitzernde Brett. Einige Schritte weiter merkt sie, dass sie es ist, die diese Bewegungen verursacht.
Das Geländer ist nun zu Ende, der Weg noch nicht. Sie schaut das erste Mal abwärts und erschrickt. Das Wasser schimmert grün ganz tief unter ihr. Die ständigen Bewegungen der sanften Wellen und das gespiegelte Sonnenlicht machen es ihr unmöglich, einen festen Punkt zu fixieren. Ihr wird schwindlig, aber das weiß sie nicht.
Nach weiteren drei Schritten verzichtet sie darauf, bis zum Ende des Sprungbrettes zu gehen, zu schwierig ist es ihr geworden, dass Gleichgewicht zu halten. Einmal noch reißt sie den Blick vom Wasser unter ihr und nimmt mit einem kurzen Rundblick in sich auf wie groß der See ist; die Segelboote, die roten Bojen, die das Strandbad begrenzen, die Wellen eines Motorbootes, dass brummend hinter der nächsten Landzunge verschwindet.
Dann nimmt sie all ihren Mut zusammen.

„Hilfe!!“
Ich setze mich auf.
Ungefähr zehn Meter vor mir steht eine ältere Frau im noch älteren Einteiler am Ufer und zeigt wild mit dem Zeigefinger stochernd zum Sprungturm.
„Da ist grad ein ganz kleines Kind runtergefallen!“
Die Blicke aller Badegäste, die ihr Rufen gehört haben, wandern zum Turm. An der Oberfläche des Wassers zeigen auseinanderlaufende Kreise an, dass zumindest jemand heruntergesprungen ist.
Rufe werden laut.
„Luisa?!“
„Cora?!
„Max?!
Dazwischen höre ich mich: „Charlotte?!“
Ein Rennen in Richtung Ufer bricht aus, auch ich bin wie gelähmt und renne trotzdem.
Wieder klatscht jemand seitlich vom Turm ins Wasser, diesmal der Bademeister.
Ich sehe mich um. Alle die eben noch Namen rufend angerannt kamen, haben nun ein Kind auf dem Arm und schauen mich vorwurfsvoll an. Ich stehe allein und rufe.
In mir bricht etwas zusammen.
Wie kann das Herz, das doch nur ein gut durchkonstruierter Muskel ist, einen solchen Schmerz aussenden?
Der Bademeister taucht auf und hält meine mehr hustende als brüllende Tochter zur Hälfte aus dem Wasser.
Im gleichen Augenblick bin ich an der Leiter und nehme ihm das Kind ab.
Ich drücke sie an mich, küsse sie, streichele ihren Hinterkopf. Sie will etwas sagen, kann aber nur die Augen verdrehen und ein bisschen Wasser herauswürgen.
Der Bademeister schaut mich an, ich ihn. Ich will mich bedanken, aber er sagt: „Entschuldigung, ich hab den Steg nur einen kurzen Moment aus den Augen gelassen.“ Er beschämt mich, denn ich wollte mich entschuldigen.
„Wollen Sie einen Arzt rufen?“
„Nein, ich glaube, es ist alles in Ordnung.“
Lotte sagt mit dünner Stimme: „Papa, ich kann fliegen!“ und kann schon wieder strahlen.
„Ja mein Schatz, ich weiß, aber erst mal lernst du schwimmen, OK?“
„Oteh“ antwortet sie „aber nicht im tiefen Wasser.“
Ich überlege kurz, ob ich meiner Freundin vom Abenteuer unserer Tochter erzähle, beschließe dann aber, dass diese Sache für immer das süße Geheimnis von Lotte und mir bleiben soll.
Und insgeheim bin ich schon ein bisschen stolz aufs Kind.
 

GabiSils

Mitglied
Hallo kny,

eine ganz reizende Geschichte, sehr glaubwürdig und einfach schön. Danke!
Sie würde sehr gut in ein Kinderbuch passen, auch stilistisch.

Gabi
 

knychen

Mitglied
Hallo GabiSils,
schön, daß Dir die Geschichte gefallen hat, aber die beste Kritik hatte ich schon weg, bevor die Story gepostet war.
Meine Freundin mußte unter dem Vorwand der Korrekturlesung ran und fragte hinterher mit einem ganz ängstlichen Gesichtsausdruck: "Das ist doch nicht wirklich passiert, oder?"
Sowas macht mir Freude.
Aber sie hatte es natürlich leichter, weil sie die Gesichter zu den Figuren kennt und deswegen ist mir Deine Kritik genausoviel wert.
Gruß knychen
 



 
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