Checkliste des Todes

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Michi war mein bester Freund. Sonst hatte er aber keine weiteren Fehler. Außer dem, dass wir uns meist nur unverabredet über den Weg liefen. Heute hatten wir wieder so eine »Unverabredung«. Eine lange Liste in seinen Händen hatte ihm die Sicht auf mich zufällig Vorbeikommenden versperrt und so musste ich ihn durch ein Räuspern auf mich aufmerksam machen

„Krächz, ähem“, gab ich vornehm von mir, aber Michi blickte nur kurz auf und kritzelte sofort etwas auf seiner Liste herum.

„So, auch das ist somit abgehakt“. Er winkte mir bedeutungsschwer zu und fuchtelte immer noch mit seiner Liste herum.

„Jetzt dort hinüber“ wies er mich plötzlich an und wir hirschten zwischen den geparkten Autos über die Strasse. Zielstrebig stürzte er sich auf ein im Café sitzendes Mädchen, fasste ihm um die Taille und küsste es herzhaft. Die solcherart Beglückte sah Michi empört an und ließ seine Wange eine nicht weniger herzhafte Bekanntschaft mit ihrer Hand machen. Es platschte auf Michis Wange, dass sie nachher so schamhaft leuchtete wie das Rotlicht einer Ampel, das eine unbekleidete Glühbirne gesehen hatte.

Ich verfolgte die Szene völlig baff, aber während die junge Dame wutschnaubend aus dem Café trottete, war Michi schon wieder damit beschäftigt, in seiner Liste herumzukritzeln.

„Willst Du mich nicht aufklären?“, fragte ich neugierig. „Was soll denn das Ganze?“

„Ja ja, gleich!“ Er wiegelte ab, bedeutete mir zu schweigen und tätschelte der in diesem Moment vorbeieilenden Kellnerin an den Po. Nachdem auch seine andere Wange nicht wenig überraschend in die Hand nun dieser Frauensperson gelaufen war, und wir daraufhin auf die Strasse geschmissen worden waren, kritzelte Michi erneut in seiner Liste und sah mich anschließend glücklich an. Sofort wurden seine Augen aber wieder so grau wie ein drei Tage alter Kaffee.

„Lass mich erzählen: Gestern sitze ich doch im Kaffeehaus, da hinten, im Central und stell Dir vor, an meinem Nebentisch sitzt ein anderer Gast. Plötzlich ein Japsen, ein Gurgeln, er greift sich ans Herz, fällt um. Tot. Hat ihn doch glatt der Schlag getroffen.“

In Michis Augen war das Entsetzen unverkennbar.

„Bedauernswert. Armer Mann. Aber was hat das mit Dir zu tun?“

„Na stell dir vor! Direkt neben mir trifft ihn der Schlag. Wie leicht hätt’ der mich treffen können.“

„Ja schon, aber…“

„…aber, aber. Stell dir weiters vor, es trifft mich vielleicht einmal wirklich der Schlag. Dann lieg ich tot da und denke mir: ‚Michi: was hast Du gemacht in Deinem Leben?’“ Michi rieb sich zuerst links, dann rechts an der Nase, dann schnippte er mit den Fingern und rief: „Und da hatte ich einen Einfall. Ich musste mir eine Checkliste machen, was ich noch alles vor meinem Tod erledigen muss. Sobald ich die dann durch bin, kann ich beruhigt abkratzen und muss mir keine Vorwürfe machen.“

Seine Logik war berauschend. „Deshalb diese Liste, in der du immer herumkritzelst?“

„Genau.“ Er hielt mir sie mir hin. „Schau da. In der Liste habe ich zwanzig Einträge, davon habe ich neunzehn schon abgehakt.“ Er rutschte mit seinen Fingern ans untere Ende des Blattes.

„Das sind die letzten Einträge, du hast sie soeben miterlebt. Dich unverabredet treffen, ein Mädchen küssen, eine Frau begreifen.“

„Na da ist dir ja mehr gelungen, als Sigmund Freud. Der hat am Ende seines Lebens gesagt, er hätte die Frauen nie verstanden.“

„Wie wahr. Ach ja, da ist das nächste Ziel…“

Ein ausgefressenes Schosshündchen keuchte auf ihn zu und sofort beugte Michi sich hinab, um es zu streicheln.

„Na, du Rinnsaldampfer? Wohl ein paar Würste zuviel in deinem Knackwurstfriedhof beerdigt?“ sprach er zu dem Hündchen. Ich bewunderte Michis angeborene Fähigkeit, mit Tieren umzugehen und immer den richtigen Ton zu treffen. Er kraulte das Hündchen hinter dem Kopf, während dieses versuchte, ihm die Hand zu schlecken. Michi kicherte, zog die Hand zurück und hakte den letzten Punkt auf seiner Liste ab.

„Geschafft!!!“ Er hob triumphierend die Arme in die Höhe und tanzte im Kreis. „Die Liste ist fertig! Die Liste ist fertig! Auch der letzte Punkt: ‚Kraule einen Hund’ ist erledigt. Juhuuu!“

So sehr Michis Freude verständlich war, so sehr war das Hündchen erschreckt. Zuerst die Enttäuschung keine Knackwurst angeboten zu bekommen, und nun dieses merkwürdige Verhalten. Kein Wunder, dass der Schreck dem Hündchen in die Hosen fuhr. Michi, in seiner Freude das nicht bemerkend, stieg in den verkörperlichten Schrecken.

„Punkt 21 erledigt“, wies ich ihn hin, „du bist hineingelatscht.“

„Punkt 21? Es gibt keinen Punkt 21 in meiner Liste.“ Er sah verärgert auf seine Schuhsohle. Er wollte den Schuldigen finden, aber der war schon längst um die Ecke zur nächsten Laterne gekeucht.

Während Michi seinen Schuh am Straßenrand zu reinigen versuchte, zerschellte ein Blumentopf unmittelbar neben ihm. In Michis Gesicht bildeten sich Sorgenfalten. „Hast du das gesehen? Fast hätt’s mich erwischt. Meine Liste ist abgearbeitet, und nun gleich zwei Nahtoderlebnisse. Zuerst eine heimtückische Bioattacke und nun Blumentopftiefflieger. Vielleicht will er mich abmurksen!“

„Wer denn?“

„Na ER…“ Michi deutete noch immer zitternd mit dem Daumen nach oben.

„Er da oben? Geh, du glaubst doch nicht etwa, dass der Pospischil aus dem 5. Stock dir an den Kragen will?“

„Nicht der Pospischil. ER!“ Geduckt reckte Michi den Blick zum Himmel. „Verstehst du nicht? Kaum ist die Checkliste abgearbeitet, versucht Er dich zu holen. Zuerst steige ich wo rein, jetzt dieser Blumentopf haarscharf an mir vorbei. Schnell, ich muss eine neue Liste anfertigen. Bück dich!“ befahl er und legte die Liste auf meinen Rücken. Er setzte seinen Bleistift an und … dieser brach ab. Nun war in Michis Augen die reinste Panik zu sehen.

„Rasch, da drüben ist ein Kaffeehaus, die haben sicher was zu schreiben.“ Michi zog mich mit sich Richtung Strasse. Kaum waren wir vom Gehsteig herunter getreten, sah ich es aus den Augenwinkeln blitzen, erstarrte mit Michi an der Hand, und gerade rechtzeitig bremste sich Auto einen Millimeter vor uns ein. Es kann aber auch bedeutend weniger gewesen sein.

Der Fahrer warf uns Begriffe an den Kopf, die ich so in diesem Zusammenhang noch nie gehört hatte. Sich mit dem Mittelfinger an die Stirn tippend entschuldigte sich Michi und erfolgreich überquerten wir die Strasse. Er riss die Tür des Kaffeehauses auf, zerrte den nächst besten Ober am Anzug und bat flehentlich: „Bitte einen Kugelschreiber, einen Füllfeder, einen Bleistift, bitte! Oder zumindest einen Hammer und Meisel.“

Der Ober sah ihn herabschätzend an, zog einen Kugelschreiber hervor und sagte quälend langsam: „Zuerst die Bestellung, dann der Kugelschreiber.“

„2 Melange, 3 Stück Gugelhupf, 3,5 Mineralwasser, aber schnell“, winselte Michi.

Der Ober notierte sich alles in größter Gelassenheit, sprach „Sehr wohl, hamma gleich“, und überreichte nach einer unendlich lange scheinenden Bestellungsannahme den Kugelschreiber an Michi. Er stammelte hustend: „Dieser verdammte Rauch in dem Lokal bringt mich noch um. Schon wieder ein heimtückischer Versuch von IHM“, und setzte an, seine Liste zu erstellen.

Michi saß am Tisch, hielt inne. Totales geistiges Blackout. „Mir fällt nix ein. Was will ich noch erreichen, bevor ich sterbe?“ Er sah mich Hilfe suchend an. „Sag doch, was könnte ich noch erreichen wollen?“

„Von einem Blumentopf getroffen werden? Deine Schuhbänder endlich einmal richtig zusammenbinden? Nacktschneckenweitspuckweltmeister werden?“

„Du bist mir eine Hilfe!“ stöhnte er verzweifelt. „Ich hab’s! Wie wär’s mit ‚Gugelhupf essen’?“ Er sah mich freudig an, kritzelte auf seinem Papier und biss ein Stück vom gerade servierten Gugelhupf ab. Unvermittelt begann er zu röcheln und sein Gesicht wurde noch röter als von den vorher abbekommenen Watschen. Michi deutete auf den Kuchen, dann auf seinen Hals. Ich begriff blitzschnell, rührte meinen Kaffee um, zuckerte nach, nahm einen Schluck, probierte vom Gugelhupf und klopfte ihm für die Einladung dankend auf den Rücken. Der Kuchenkrümel lockerte sich und Michi konnte wieder frei atmen. Er schnaufte: „Siehst du, selbst vor einem Gugelhupfanschlag schreckt ER nicht zurück. Dafür ist dieser Punkt auf der Liste auch schon wieder durchgeführt. Es ist zum Verzweifeln!“.

Michi soff 3 Flaschen Mineralwasser auf einen Zug aus, um die Krümel aus der Kehle zu waschen. Die Kohlensäure tat sofort ihre bestialische Wirkung. Die anderen Gäste sahen angewidert zu ihm herüber.

„Rülpsweltmeister kannst du auch schon abhaken, du bist ja soeben dazu geworden.“ Aber Michi hörte nicht zu und kritzelte auf seiner Liste.

Ich las laut mit: „Strafzetteln in allen Bundesländern erhalten. Toilettenpapierwäscherei eröffnen. Ein guter Witzerzähler werden.“ Ich blinzelte Michi an. „Du willst wohl ewig leben?“

Nun war Michi in Fahrt gekommen. Sein geborgter Kugelschreiber huschte hurtig über die Zeilen, einen Punkt nach dem anderen schüttelte er aus dem Handgelenk. Schwitzend hielt er inne und lächelte mit sich zufrieden. „Na also, jetzt muss ER wohl ein bisserl warten, bis er mich holen kann.“

Sprach’s, stand auf und stolperte über die leeren Mineralwasserflaschen. Er fiel der Länge nach hin, seine Liste entglitt ihm und segelte auf einen alten Bekannten, das ausgefressene Schosshündchen von vorhin, zu. Dieses warf sich mit größtem Eifer auf die Checkliste und zerfledderte sie nach Kräften. Michis Augäpfel ploppten im Angesicht dessen wie Sektkorken aus den Augenhöhlen. Er erstarrte in der Bewegung und blieb ohnmächtig liegen.

Das Weitere ist rasch erzählt. Michi hat sich zwar schnell von diesem Vorfall erholt, dafür geht er seither jeden Tag in die Kirche und zündet demütig ein Kerzerl an. Manchmal allerdings wird Michi doch übermütig und dann pritschelt er absichtlich Wasser aus dem Weihwasserbecken auf den Boden, und testet, ob ER ihn ausrutschen lässt oder nicht. Michi ist eben ein knallharter Zocker…
 



 
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