Custos

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LeseIgel

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16. März 2013

Halb Zwölf, niedergeschlagen lässt er den Kopf hängen.
Das Skript dauert länger als ich erwartet hatte. Gut das morgen erst Sonntag ist. Richtig schön aus…
Ein Kratzen am Fenster unterbricht seine Gedanken. Neugierig geht er rüber zum Fenster, macht die Vorhänge zur Seite und schaut prompt in die leuchtenden Augen eines weißen Hundes. Er hält sich mit den Vorderpfoten am Sims fest. Als der Hund den jungen Mann am Fenster sieht, begrüßt er ihn mit einem lauten Kläffen und wandert schwanzwedelnd zur Eingangstür.
Was zum? Will er etwa rein? Ich lass doch keinen wildfremden Hund in mein Haus!
Kopfschüttelnd wandert er wieder zurück ins Büro. Dort angekommen vertieft er sich wieder in sein Drehbuch, was ihm sein Chef kurz vor Feierabend in die Hände gedrückt hat.
„Kai, das Script ist fantastisch! Das nehmen wir für den Dreh nächsten Mittwoch. Schaffen sie es bis Montag das Script voll auszuarbeiten?\"
Natürlich habe ich ja gesagt. Wie oft hat man denn schon so eine Chance? Es ist zwar nur eine Serie, aber hey, wer kann schon von sich behaupten, dass seine Story im Fernsehen lief? Also muss ich da wohl oder übel durch. Auch wenn ich mir so wieder einmal das Wochenende versaut habe.

Knapp eine halbe Stunde später verlangt die Natur ihren Tribut. Er schlendert wieder durch den Flur und erneut erklingt das Kratzen.
Er ist immer noch da?, wundert er sich.
Am Fenster angekommen sieht er den Hund wieder zu seiner Tür wandern. Gerade als er sich kopfschütteln wieder abwenden wollte, kommt ihm ein Gedanke.
Verdammt, ich kann ihn doch nicht die Nacht da hocken lassen. Es schneit und draußen sind es locker minus zehn Grad. Scheiße, er erfriert da draußen noch.
Fluchend geht Kai zur Tür, schaut durch den Sucher und öffnet sie daraufhin. Ehe sie auch nur zehn Zentimeter weit offen ist, drückt sich der Labrador bereits hindurch und stürmt in die Wohnung. Prompt schüttelt er sich und schleudert sowohl den Schnee, als auch die bereits getauten Flocken durch den Flur. Vergebens versucht Kai sich davor zu schützen.
„Ich wusste es so was von\", gibt er resigniert von sich, während er sein Gesicht von den Tropfen befreit. Nun ein wenig trockener, springt der Labradormischling ihn an und schleckt ihn freudig das Gesicht ab.
„Was zum? Wow, wow. Haha, ist ja gut, ist ja gut. Beruhig dich.“
Nach einigem hin und her lässt er von ihm ab, sein Schwanz wedelt immer noch.
„Na du bist ja ein aufgewecktes Kerlchen.“
Freudig beginnt er an ihm herum zu schnüffeln. Dabei entdeckt Kai das dunkle Halsband unter dem langen Fell. Vorsichtig greift er danach, nicht das der Labrador sauer darauf reagiert. Aber dem Hund ist es egal, die neuen Gerüche sind interessanter.
„Kein Name und keine Anschrift. Bestimmt bist du gechipt. Also erfahr ich wohl erst übermorgen wer du bist. Mh, du bist bestimmt hundemüde. Ha! Wortwitz.“
Fragend betrachtet der Mischling ihn.
\"Pff, Banause. Nun gut, dann zimmer ich dir mal ein Bettchen.\"
Ein kleines Liedchen summend wandert er hinüber zum Schrank, greift sich ein paar alte Laken und bastelt ein provisorisches Hundebett zusammen.
„So, na komm, mach es dir bequem.“
Ein kurzes Schnüffeln und es wurde als langweilig abgestempelt.
„Gefällt es dir etwa nicht? Ach, oder brauchst du erstmal noch einen Gute-Nacht-Snack?“
Ein lautes Bellen kommt als Antwort.
„Na das hätt ich mir auch denken können“ stellt er fest.

Ernsthaft? Nur noch der Braten ist da? Tatsächlich, der Rest ist allesamt noch eingefroren. Den wollt ich doch morgen essen. Mutters guter Sonntagsbraten.
„Du hast nicht zufällig Hunger auf ein paar Kartoffeln?“, fragt er hoffnungsvoll.
Verwirrt blickt der Labrador ihn mit großen Augen an. Geschlagen lässt er die Schultern hängen und überlässt dem Hund seine Mahlzeit.
„Ich hasse es einen auf Gutmensch zu machen“, flucht er.
Einmal kurz aufgewärmt und der Hund macht sich wie ein Berserker über den Braten her.
„Na da hat aber wer einen guten Appetit.“
Wieder im Büro und weiter geht die Arbeit. Kurz bevor Kai eine neue Seite öffnen kann knarrt die Tür.
„Bist schon fertig? Du bist ja echt fix…oh.“
Der Hund hat seine Schnauze auf seinen Schoß gelegt. Seine Ohren hängen schlapp herab.
„Mh, traurig? Wir finden schon raus wem du gehörst und dann kommst du wieder zurück zu deinem Frauchen oder Herrchen\", versucht er ihn aufzumuntern.
Sanft krault Kai ihm den Nacken, während er weiterarbeitet.
Knapp zwei Stunden benötigt er um den ersten Teil der Serie zu beenden. Ausgezerrt streckt er sich und dabei schreckt der Hund hoch.
„Oh sorry, hab ich dich aufgeweckt? Komm, ich bin fertig. Zeit zum Schlafen gehen.“
Er führt ihn hinüber zu dem provisorischen Bettchen und fein artig macht es sich der Hund darauf bequem.
„Na geht doch, musst nur müde genug sein, was?“, freut er sich. „Naja, oder vollgestopft genug.\"

Leichtes Gezwitscher weckt Kai aus seinem ruhigen Schlaf. Noch schlaftrunken schwingt er seine Beine herum und wäre fast auf den Hund getreten, der urplötzlich vor seinem Bett liegt.
„Was zum? Was machst du denn hier?“, fragt er ihn verwundert.
Verwirrt beobachtet er wie der Hund langsam aufwacht und sich erst einmal genüsslich streckt.
„Tz, du hast echt die Ruhe weg.“
Freudig dreht sich der Hund zu ihm herum und hechelt ihn an.
„Na von mir aus.“
Er tätschelt ihm kurz den Kopf, ehe er sich träge in Richtung Bad aufmacht. Frisch gewaschen und in neue Klamotten gehüllt, bereitet Kai, für sich und seinen neuen Hausgast, ein Frühstück vor. Da er mit dem Script noch nicht fertig war, setzt er sich trübselig wieder an seinen Schreibtisch.
Was für ein tolles Wochenende. Naja, wenigstens hab ich jetzt ein wenig Gesellschaft, denkt er sich, während er sanft dem Hund den Nacken krault.

Nach knapp zwei Stunden beginnt der Rüde hin und her zu laufen.
„Was ist denn?“, wundert er sich ehe er begreift.
„Ach du musst mal raus? Stimmt, das hab ich ganz vergessen. Nun gut, die Arbeit kann auch einen Moment lang warten.“
Freudig springt der Labrador auf und ab, als er erkennt was Kai vorhat. Sobald er die Tür geöffnet hat, ist er bereits hindurch gehuscht. Draußen wird Kai sofort vom freudigen Kläffen des Hundes begrüßt.
„Ok, dann mal los.“
Grinsend folgt er den Hund in Richtung Park.

Um Acht machen sie auf. Hätt ich vorher anrufen sollen? Mh, ne wohl kaum. Glaub nicht, dass man da nen Termin brauch.
Er schaut hinüber zu den kleinen Mischling. Ganz gelassen ruht er da im Fußraum vom Beifahrer.
Gut das mir mein Chef heute freigegeben hat nachdem er das Script bekommen hat. So kann ich mir hierfür Zeit lassen. Das Drehbuch war viel schneller fertig, als ich es erwartet hatte. Ob das an ihm lag? Vielleicht. Der Tag gestern war schon genial, soviel Spaß hatte ich schon länger nicht mehr. Mh, irgendwie schade dass es nur für einen Tag war. Vielleicht wenn er doch keinen Besitzer hat? Ach, sinnlos darüber nachzudenken.
Vorsichtig parkt er ein, steigt aus und wandert rüber zur Beifahrertür.
„So, hopp, hopp. Raus mit dir!“
Der Labrador reagiert sofort und hüpft aus den Wagen. Draußen sieht sich um und wird panisch. Vollkommen außer Rand und Band kratzt er an der Seitentür. Er will weg.
„Was zum...? Hey, hör auf damit!“
Schnell greift Kai sich den Mischling und hebt ihn hoch.
„Was ist denn mit dir auf einmal los?“, wundert er sich.
Als er versucht mit dem Hund, unter dem Arm, die Straße rüber zum Tierheim zu überqueren, dreht er vollkommen durch. Er windet sich wie ein Irrer. Notgedrungen lässt Kai ihn los. Sofort rennt der Rüde zurück zum Auto und versteckt sich hinter einen der Reifen. Vorsichtig geht Kai zurück, kniet sich vor dem verängstigen Hund hin und hält ihm seine Hand hin. Er schleckt dran.
„Mich magst du also noch. Nur das Tierheim nicht? Warst du etwa schon einmal hier?“
Natürlich bekommt er keine Antwort. Seufzend holt er sein Handy raus und ruft bei der Auskunft an, die ihn direkt mit dem Tierheim verbindet. Eine Dame meldet sich.
„Friedrich, Guten Morgen. Ich hab hier einen Streuner gefunden. Glaube es ist ein Labradormischling oder so. Er ist ein Männchen und hat schneeweißes Fell. Ich hatte eigentlich vor ihn bei ihnen abzuliefern, aber irgendwie will er nicht. Ich steh grad auf der anderen Straßenseite und er weigert sich partout die Straße zu überqueren.“
„Einen Moment bitte.“
„Oh, Ok?“, stutzt er.
Einige Zeit später erklingt die Stimme einer anderen Frau.
„Hallo, mein Name ist Elisabeth, Annita hat mich bereits in Bilde gesetzt. Ein schneeweißer Labrador sagen sie? Trägt er ein schwarz-rotes Halsband?“
„Richtig. Kennen sie ihn?\", wundert er sich.
„Ja, er war einige Monate hier. Können wir uns gleich treffen? Dann kann ich es ihnen erklären. Eine Straße weiter ist ein kleines Café. Können sie dort auf mich warten? Dahinten ist er bestimmt ruhiger.“
„Gut, ok. Hab mir heute eh freigenommen. Bis gleich dann.“
„Ja bis gleich.“
Aufgelegt. Seltsam, seltsam. Was hat es nur mit dir auf sich?, fragt er sich während er langsam die Straße hinunterwandert. Scheu folgt ihm der Mischling.

Das Café war leicht zu finden. Zum Glück hatte die Kellnerin Mitleid mit dem Kleinen. Draußen ist es immer noch schweinekalt. Wenigstens hat er sich beruhigt.
Er blickt hinab auf den Hund zwischen seinen Füßen. Der Labrador schaut hoch und zuckt zusammen, als er eine Frau das Café betreten sieht.
Sofort ruckt Kais Kopf hoch und er runzelt die Stirn.
Jünger als ich bei ihrem Namen erwartet hätte. Keine 30.
Sanft legt er dem Mischling seine Hand auf die Schulter und flüstert ihm „Keine Angst. Ich bin ja da“ zu, woraufhin sich der Labrador merklich entspannt.

„Elisabeth?“
„Ja genau, guten Tag Herr Friedrich“
„Nennen sie mich doch Kai, setz dich“, sagt er, während er auf den gegenüberliegenden Stuhl zeigt.
„Vielen Dank. Ah da ist er ja. Ja, er ist es wirklich.“
„Kennst du seine Besitzer?“
„Nicht persönlich. Ein Polizist hat ihn bei uns abgeliefert.“
„Ein Polizist? Kannst du mir das näher erklären? Hat das mit seiner, naja, Panikattacke zu tun?“
„So hat er sich schon solange benommen wie wir ihn kennen. Um ehrlich zu sein bin ich ziemlich überrascht, dass er jetzt so gelassen dort liegt. Als er bei uns war hat er sich von allen zurückgezogen. Er hat zwar etwas gegessen, aber das war es auch schon. Mehrmals hat er versucht wegzulaufen. Wir haben es nur mit Mühe geschafft ihn wieder einzufangen. Bis vor einem Monat, da hat er es dann geschafft.“
„Das versteh ich nicht so richtig. Ich mein ich kenn einige Leute, die bei euch Tiere adoptiert hatten und habe nie von solchen Fällen gehört. Warum wollte er weglaufen?“
„Vermutlich wollte er zu ihr.“
„Ihr?“, fragt Kai verwundert nach.
„Seine ehemalige Besitzerin.\", erklärt Elisabeth. „Der Polizist hatte mir gesagt, dass sie ihn nur mit äußerster Mühe von ihr losbekommen konnten. Er ist dann regelrecht Amok auf dem Rücksitz des Streifenwagens gelaufen. Er wollte unbedingt zu ihr zurück.“
Kai legt den Kopf schief und hakt nach. „Warum hat man ihr ihn denn weggenommen.“
„Hat man nicht. Das Mädchen war 14 als sie ihn bekommen hatte, das war vor knapp 6 Jahren. Sie hat ihn von ihrer Mutter geschenkt bekommen. Kurz darauf ist sie an Krebs verstorben. Der Vater hat danach komplett abgebaut und sich dem Suff hingegeben. Am Heiligabend des darauffolgenden Jahres ist es dann vollkommen eskaliert. Sie haben sich wohl wegen irgendeiner Kleinigkeit gestritten, ein Zettel oder so und er ist ausgerastet. Hat das Mädchen Grün und Blau geschlagen.“
„Na frohe Weihnachten.“ antwortet er zynisch darauf. Sie schüttelt nur ihren Kopf.
„Wäre er nicht dazwischen gegangen“, sie zeigt auf den kleinen Mischling, „dann wär es vielleicht sogar noch schlimmer geworden. Der Labrador ist dem Vater an die Kehle gegangen. Das Mädchen ist daraufhin mit ihm von zu Hause weggerannt. Sie ist bei der WG von irgend so einem Junkie untergekommen, den sie vom Schulhof kannte. Sie hatte wohl schon vorher einiges angestellt, aber dort ist es dann richtig mit ihr bergab gegangen. Sie wurde öfters wegen kleineren Diebstählen und Drogenbesitz festgenommen. Keine Ahnung warum das Jugendamt da nicht eingegriffen hat. Auf jeden Fall hing sie regelmäßig mit irgendwelchen üblen Typen in der Bahnhofsunterführung in der Nordstadt rum.\"
„Die Große, die unter dem Nordbahnhof entlang geht?\"
Sie nickt. „Genau.\"
\"Mh, ich hab da früher in der Gegend gewohnt und musste auch immer da lang um meinen Zug zu erwischen. Da waren wirklich einige sehr komische Leute unterwegs. Da hat sie sich hingetraut?\"
„Ja, aber wohl auch nur weil er immer dabei war.\", erneut zeigt sie auf den Labrador, der sich inzwischen wieder enger an Kai gekauert hat.
\"Egal wo sie hingegangen ist, er war dabei. Es gab wohl auch einige Male, wo er Leute angegriffen hat, die versucht haben sich an ihr zu vergreifen. Aber bis die Polizei da war, waren schon alle wieder verschwunden. Der Bahnhof ist wohl zu irgendetwas wie ihrem Zuhause geworden. Entweder war sie in der Unterführung oder oben am Bahnhof und hat um Geld gebettelt. Von dem Geld, was sie so zusammengekratzt hat, hat sie sich dann Alk besorgt und sich mit den Leuten, da auf dem Bahnhof, die Kante gegeben. Vor knapp drei Monaten ist sie dann auf dem Rückweg zur Unterführung, auf der Treppe nach unten, gestolpert und mit dem Kopf zuerst aufgekommen.\"
„Also ist sie?“ fragt er erschrocken nach.
„Ja. Ein Anwohner ist auf sie aufmerksam geworden, nachdem er dem lauten Geheul des Hundes gefolgt ist. Die Polizei hat erst später herausgefunden, dass da noch andere mit ihr unterwegs waren. Die Feiglinge sind einfach abgehauen nachdem sie gestürzt ist. Aber sie ist wohl wirklich nur gestolpert. Kein Wunder bei den fast zwei Promille, die sie intus hatte.“
„Die Arme. Das ist ja schrecklich.\"
Kai sieht sich den Hund zwischen seinen Beinen an. Traurig erwidert er den Blick, als ob er die Geschichte eben verstanden hat.

„Was passiert jetzt mit ihm?“, fragt er Elisabeth.
„Ich könnte ihn mitnehmen. Aber ich glaube nicht, dass er bei uns glücklich wird.“
Stille.
„Könnte ich ihn dann nehmen?“, bricht Kai das Schweigen.
„Bist du dir da sicher?\"
„Ich wollte mir sowieso irgendwann mal einen Hund zulegen und nachdem wir gestern den Tag zusammen verbracht haben\", er stockt. „Ich weiß nicht. Er ist echt klasse und er hat sich überhaupt nicht so verhalten wie du es beschrieben hast. Ist das nicht ein gutes Zeichen?“
„Ja, an deiner Seite wirkt er wirklich verändert. Falls es dir wirklich ernst ist, würden wir dir gerne bei den Formalitäten helfen.“
„Das ist es und danke. Ach ja, wie heißt er eigentlich?“
„Das ist so eine Sache. Der Polizist wusste selbst nicht wie er heißt. Du müsstest dir wohl einen neuen Namen für ihn ausdenken.“
„Mh,\" er überlegt kurz. „Wie wäre es mit Custos?“
Der Labrador springt hoch und wedelt freudig mit dem Schwanz.
„Ihm gefällt wohl der Name. Aber wo hast du denn diesen ungewöhnlichen Namen her?“ fragt sie ihn verwundert.
„Eine gute Frage. Der Name für einen Hund ist bei mir irgendwann mal hängen geblieben. Wenn ich das noch wüsste…“

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23. Dezember 2008

Ach das gibt’s doch nicht! Schon wieder zu spät.
Schnell stürmt er durch die Unterführung und hetzt die lange Treppe auf der anderen Seite wieder nach oben. Als er seinen Zug entdeckt füllt sich sein Herz zuerst mit Freude, bis er sieht wie die vorderen Türen sich zu schließen beginnen. Sofort sprintet er los und schlüpft gerade noch rechtzeitig durch die letzte Tür seiner Bahn. Erschöpft von dem plötzlichen Sprint setzt er sich neben ein Mädchen, ohne es weiter zu beachten. Bis es an seinen Füßen auf einmal nießt.
„Was zum?“, schreckt er hoch.
Ein kleiner weißer Welpe schnüffelt an seinen nassen Schuhen.
„Ach dich hab ich ja gar nicht bemerkt. Wer bist du denn?“
„Das ist mein kleiner Custos. Meine Mum hat ihn mir geschenkt.“
Er blickt auf und sieht das Mädchen neben ihm zum ersten Mal.
Wow, ist die schön
„Oh, öhm. Hi, ich heiße Kai!“ stammelt er vor sich hin.
„Hi Kai, ich bin Anna und wie ich eben bereits sagte, der kleine Wonneproppen da unten ist Custos.“
„Custos? Komischer Name, wie bist du denn darauf gekommen?“
„Hab ich aus unserem Lateinunterricht“, strahlt sie. „Custos bedeutet so viel wie Wächter oder Beschützer. Ein passender Name nicht wahr?“
Er schaut runter auf den Kleinen, der sich gerade an seinem Schnürsenkel vergreift.
„Ein Beschützer bist du also. Na dann pass mal schön auf dein Frauchen auf.“
Der Zwerg lässt von seiner Beute ab, schaut hoch und gibt ein kurzes Kläffen als Antwort.
„Ha! Ein schlaues Kerlchen“, freut er sich.
„Jap, das ist mein Custos.“
Der Junge schaut raus auf die Gleise.
„Die nächste muss ich schon wieder raus\", gibt er betrübt von sich.
„Wir beide fahren noch drei Stationen weiter.“
„Mhm.“
Seinen ganzen Mut zusammennehmend versucht er etwas, was er bisher noch nie gewagt hat.
„Also ähm, ich bin nicht besonders gut darin. Aber, naja, hättest du vielleicht Lust dich morgen noch einmal mit zu treffen?“
„Morgen?“, wundert Anna sich.
„Ja, also, es muss nicht unbedingt morgen sein. Übermorgen ginge auch.“
„Morgen ist doch Heiligabend?“, gibt sie kichernd von sich.
„Oh Shit. Äh ich meine, ja stimmt, da hast du recht, das hab ich irgendwie vergessen. Dann, ja ich weiß.“
Schnell zieht er einen Notizblock aus seiner Tasche und kritzelt seine Nummer darauf.
„Hier, meine Nummer. Also, wenn der Feiertagsstress für dich vorbei ist, dann kannst du mich ja anrufen. Dann können wir einen Termin ausmachen für unser D..., ähm Treffen. Ok?“
„Gut ok, so machen wir es\", lächelt sie ihn an, woraufhin Kai jedes Blut im Leib hoch ins Gesicht schießt.
„Fantastisch. Also ich muss dann. Du rufst mich an, ok?“, fragt er noch einmal nach, während er aufsteht und rückwärts in Richtung Tür geht.
„Ja, das mach ich. Auf jeden Fall. Bis dann!“
„Gut, bis dann!“, ruft Kai noch schnell beim Aussteigen.
„Na Custos. Da haben wir doch einen süßen Jungen kennen gelernt, nicht wahr?“
Der Kleine wedelt freudig mit dem Schwanz und kläfft seine Zustimmung.

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Viele verfluchen das Vergessen. Dabei ist es der einzige Wächter, der zwischen uns und dem Was-hätte-sein-können steht. -Unbekannt
 

LeseIgel

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16. März 2013

Halb Zwölf, niedergeschlagen lässt er den Kopf hängen.
Das Skript dauert länger als ich erwartet hatte. Gut das morgen erst Sonntag ist. Richtig schön aus…
Ein Kratzen am Fenster unterbricht seine Gedanken. Neugierig geht er rüber zum Fenster, macht die Vorhänge zur Seite und schaut prompt in die leuchtenden Augen eines weißen Hundes. Er hält sich mit den Vorderpfoten am Sims fest. Als der Hund den jungen Mann am Fenster sieht, begrüßt er ihn mit einem lauten Kläffen und wandert schwanzwedelnd zur Eingangstür.
Was zum? Will er etwa rein? Ich lass doch keinen wildfremden Hund in mein Haus!
Kopfschüttelnd wandert er wieder zurück ins Büro. Dort angekommen vertieft er sich wieder in sein Drehbuch, was ihm sein Chef kurz vor Feierabend in die Hände gedrückt hat.
„Kai, das Script ist fantastisch! Das nehmen wir für den Dreh nächsten Mittwoch. Schaffen sie es bis Montag das Script voll auszuarbeiten?"
Natürlich habe ich ja gesagt. Wie oft hat man denn schon so eine Chance? Es ist zwar nur eine Serie, aber hey, wer kann schon von sich behaupten, dass seine Story im Fernsehen lief? Also muss ich da wohl oder übel durch. Auch wenn ich mir so wieder einmal das Wochenende versaut habe.

Knapp eine halbe Stunde später verlangt die Natur ihren Tribut. Er schlendert wieder durch den Flur und erneut erklingt das Kratzen.
Er ist immer noch da?, wundert er sich.
Am Fenster angekommen sieht er den Hund wieder zu seiner Tür wandern. Gerade als er sich kopfschüttelnd wieder abwenden wollte, kommt ihm ein Gedanke: Verdammt, ich kann ihn doch nicht die Nacht da hocken lassen. Es schneit und draußen sind es locker minus zehn Grad. Scheiße, er erfriert da draußen noch.
Fluchend geht Kai zur Tür, schaut durch den Sucher und öffnet sie daraufhin. Ehe sie auch nur zehn Zentimeter weit offen ist, drückt sich der Labrador bereits hindurch und stürmt in die Wohnung. Prompt schüttelt er sich und schleudert sowohl den Schnee, als auch die bereits getauten Flocken durch den Flur. Vergebens versucht Kai sich davor zu schützen.
„Ich wusste es so was von", gibt er resigniert von sich, während er sein Gesicht von den Tropfen befreit.
Nun ein wenig trockener, springt der Labradormischling ihn an und schleckt ihn freudig das Gesicht ab.
„Was zum? Wow, wow. Haha, ist ja gut, ist ja gut. Beruhig dich.“
Nach einigem hin und her lässt er von ihm ab, sein Schwanz wedelt immer noch.
„Na du bist ja ein aufgewecktes Kerlchen.“
Freudig beginnt er an ihm herum zu schnüffeln. Dabei entdeckt Kai das dunkle Halsband unter dem langen Fell. Vorsichtig greift er danach, nicht das der Labrador sauer darauf reagiert. Aber dem Hund ist es egal, die neuen Gerüche sind interessanter.
„Kein Name und keine Anschrift. Bestimmt bist du gechipt. Also erfahr ich wohl erst übermorgen wer du bist. Mh, du bist bestimmt hundemüde. Ha! Wortwitz.“
Fragend betrachtet der Mischling ihn.
"Pff, Banause. Nun gut, dann zimmere ich dir mal ein Bettchen."
Ein kleines Liedchen summend wandert er hinüber zum Schrank, greift sich ein paar alte Laken und bastelt ein provisorisches Hundebett zusammen.
„So, na komm, mach es dir bequem.“
Ein kurzes Schnüffeln und es wurde als langweilig abgestempelt.
„Gefällt es dir etwa nicht? Ach, oder brauchst du erstmal noch einen Gute-Nacht-Snack?“
Ein lautes Bellen kommt als Antwort.
„Na das hätt ich mir auch denken können“ stellt er fest.

Ernsthaft? Nur noch der Braten ist da? Tatsächlich, der Rest ist allesamt noch eingefroren. Den wollt ich doch morgen essen. Mutters guter Sonntagsbraten.
„Du hast nicht zufällig Hunger auf ein paar Kartoffeln?“, fragt er hoffnungsvoll.
Verwirrt blickt der Labrador ihn mit großen Augen an.
Geschlagen lässt er die Schultern hängen und überlässt dem Hund seine Mahlzeit. „Ich hasse es einen auf Gutmensch zu machen“, flucht er.
Einmal kurz aufgewärmt und der Hund macht sich wie ein Berserker über den Braten her.
„Na da hat aber wer einen guten Appetit.“

Wieder im Büro und weiter geht die Arbeit. Kurz bevor Kai eine neue Seite öffnen kann knarrt die Tür.
„Bist schon fertig? Du bist ja echt fix…oh.“
Der Hund hat seine Schnauze auf seinen Schoß gelegt. Seine Ohren hängen schlapp herab.
„Mh, traurig? Wir finden schon raus wem du gehörst und dann kommst du wieder zurück zu deinem Frauchen oder Herrchen", versucht er ihn aufzumuntern. Sanft krault Kai ihm den Nacken, während er weiterarbeitet.

Knapp zwei Stunden benötigt er um den ersten Teil der Serie zu beenden. Ausgezerrt streckt er sich und dabei schreckt der Hund hoch.
„Oh sorry, hab ich dich aufgeweckt? Komm, ich bin fertig. Zeit zum Schlafen gehen.“
Er führt ihn hinüber zu dem provisorischen Bettchen und fein artig macht es sich der Hund darauf bequem.
„Na geht doch, musst nur müde genug sein, was?“, freut er sich. „Naja, oder vollgestopft genug."

Leichtes Gezwitscher weckt Kai aus seinem ruhigen Schlaf. Noch schlaftrunken schwingt er seine Beine herum und wäre fast auf den Hund getreten, der urplötzlich vor seinem Bett liegt.
„Was zum? Was machst du denn hier?“, fragt er ihn verwundert.
Verwirrt beobachtet er wie der Hund langsam aufwacht und sich erst einmal genüsslich streckt.
„Tz, du hast echt die Ruhe weg.“
Freudig dreht sich der Hund zu ihm herum und hechelt ihn an.
„Na von mir aus.“ Er tätschelt ihm kurz den Kopf, ehe er sich träge in Richtung Bad aufmacht.

Frisch gewaschen und in neue Klamotten gehüllt, bereitet Kai, für sich und seinen neuen Hausgast, ein Frühstück vor. Da er mit dem Script noch nicht fertig war, setzt er sich trübselig wieder an seinen Schreibtisch.
Was für ein tolles Wochenende. Naja, wenigstens hab ich jetzt ein wenig Gesellschaft, denkt er sich, während er sanft dem Hund den Nacken krault.
Nach knapp zwei Stunden beginnt der Rüde hin und her zu laufen.
„Was ist denn?“, wundert er sich ehe er begreift. „Ach du musst mal raus? Stimmt, das hab ich ganz vergessen. Nun gut, die Arbeit kann auch einen Moment lang warten.“
Freudig springt der Labrador auf und ab, als er erkennt was Kai vorhat. Sobald er die Tür geöffnet hat, ist er bereits hindurchgehuscht. Draußen wird Kai sofort vom freudigen Kläffen des Hundes begrüßt.
„Ok, dann mal los.“ Grinsend folgt er den Hund in Richtung Park.

Um Acht machen sie auf. Hätt ich vorher anrufen sollen? Mh, ne wohl kaum. Glaub nicht, dass man da nen Termin brauch. Er schaut hinüber zu den kleinen Mischling. Ganz gelassen ruht er da im Fußraum vom Beifahrer.
Gut das mir mein Chef heute freigegeben hat nachdem er das Script bekommen hat. So kann ich mir hierfür Zeit lassen. Das Drehbuch war viel schneller fertig, als ich es erwartet hatte. Ob das an ihm lag? Vielleicht. Der Tag gestern war schon genial, soviel Spaß hatte ich schon länger nicht mehr. Mh, irgendwie schade dass es nur für einen Tag war. Vielleicht wenn er doch keinen Besitzer hat? Ach, sinnlos darüber nachzudenken.
Vorsichtig parkt er ein, steigt aus und wandert rüber zur Beifahrertür. „So, hopp, hopp. Raus mit dir!“
Der Labrador reagiert sofort und hüpft aus den Wagen. Draußen sieht sich um und wird panisch. Vollkommen außer Rand und Band kratzt er an der Seitentür. Er will weg.
„Was zum...? Hey, hör auf damit!“ Schnell greift Kai sich den Mischling und hebt ihn hoch. „Was ist denn mit dir auf einmal los?“, wundert er sich.
Als er versucht mit dem Hund, unter dem Arm, die Straße rüber zum Tierheim zu überqueren, dreht er vollkommen durch. Er windet sich wie ein Irrer. Notgedrungen lässt Kai ihn los. Sofort rennt der Rüde zurück zum Auto und versteckt sich hinter einen der Reifen. Vorsichtig geht Kai zurück, kniet sich vor dem verängstigen Hund hin und hält ihm seine Hand hin. Er schleckt dran.
„Mich magst du also noch. Nur das Tierheim nicht? Warst du etwa schon einmal hier?“
Natürlich bekommt er keine Antwort. Seufzend holt er sein Handy raus und ruft bei der Auskunft an, die ihn direkt mit dem Tierheim verbindet. Eine Dame meldet sich.
„Friedrich, Guten Morgen. Ich hab hier einen Streuner gefunden. Glaube es ist ein Labradormischling oder so. Er ist ein Männchen und hat schneeweißes Fell. Ich hatte eigentlich vor ihn bei ihnen abzuliefern, aber irgendwie will er nicht. Ich steh grad auf der anderen Straßenseite und er weigert sich partout die Straße zu überqueren.“
„Einen Moment bitte.“
„Oh, Ok?“, stutzt er.
Einige Zeit später erklingt die Stimme einer anderen Frau.
„Hallo, mein Name ist Elisabeth, Annita hat mich bereits in Bilde gesetzt. Ein schneeweißer Labrador sagen sie? Trägt er ein schwarz-rotes Halsband?“
„Richtig. Kennen sie ihn?", wundert er sich.
„Ja, er war einige Monate hier. Können wir uns gleich treffen? Dann kann ich es ihnen erklären. Eine Straße weiter ist ein kleines Café. Können sie dort auf mich warten? Dahinten ist er bestimmt ruhiger.“
„Gut, ok. Hab mir heute eh freigenommen. Bis gleich dann.“
„Ja bis gleich.“
Aufgelegt. Seltsam, seltsam. Was hat es nur mit dir auf sich?, fragt er sich während er langsam die Straße hinunterwandert. Scheu folgt ihm der Mischling.

Das Café war leicht zu finden. Zum Glück hatte die Kellnerin Mitleid mit dem Kleinen. Draußen ist es immer noch schweinekalt. Wenigstens hat er sich beruhigt. Er blickt hinab auf den Hund zwischen seinen Füßen.
Der Labrador schaut hoch und zuckt zusammen, als er eine Frau das Café betreten sieht.
Sofort ruckt Kais Kopf hoch und er runzelt die Stirn. Jünger als ich bei ihrem Namen erwartet hätte. Keine 30.
Sanft legt er dem Mischling seine Hand auf die Schulter und flüstert ihm „Keine Angst. Ich bin ja da“ zu, woraufhin sich der Labrador merklich entspannt.
„Elisabeth?“
„Ja genau, guten Tag Herr Friedrich“
„Nennen sie mich doch Kai, setz dich“, sagt er, während er auf den gegenüberliegenden Stuhl zeigt.
„Vielen Dank. Ah da ist er ja. Ja, er ist es wirklich.“
„Kennst du seine Besitzer?“
„Nicht persönlich. Ein Polizist hat ihn bei uns abgeliefert.“
„Ein Polizist? Kannst du mir das näher erklären? Hat das mit seiner, naja, Panikattacke zu tun?“
„So hat er sich schon solange benommen wie wir ihn kennen. Um ehrlich zu sein bin ich ziemlich überrascht, dass er jetzt so gelassen dort liegt. Als er bei uns war hat er sich von allen zurückgezogen. Er hat zwar etwas gegessen, aber das war es auch schon. Mehrmals hat er versucht wegzulaufen. Wir haben es nur mit Mühe geschafft ihn wieder einzufangen. Bis vor einem Monat, da hat er es dann geschafft.“
„Das versteh ich nicht so richtig. Ich mein ich kenn einige Leute, die bei euch Tiere adoptiert hatten und habe nie von solchen Fällen gehört. Warum wollte er weglaufen?“
„Vermutlich wollte er zu ihr.“
„Ihr?“, fragt Kai verwundert nach.
„Seine ehemalige Besitzerin.", erklärt Elisabeth. „Der Polizist hatte mir gesagt, dass sie ihn nur mit äußerster Mühe von ihr losbekommen konnten. Er ist dann regelrecht Amok auf dem Rücksitz des Streifenwagens gelaufen. Er wollte unbedingt zu ihr zurück.“
Kai legt den Kopf schief und hakt nach. „Warum hat man ihr ihn denn weggenommen.“
„Hat man nicht. Das Mädchen war 14 als sie ihn bekommen hatte, das war vor knapp 6 Jahren. Sie hat ihn von ihrer Mutter geschenkt bekommen. Kurz darauf ist sie an Krebs verstorben. Der Vater hat danach komplett abgebaut und sich dem Suff hingegeben. Am Heiligabend des darauffolgenden Jahres ist es dann vollkommen eskaliert. Sie haben sich wohl wegen irgendeiner Kleinigkeit gestritten, ein Zettel oder so und er ist ausgerastet. Hat das Mädchen Grün und Blau geschlagen.“
„Na frohe Weihnachten.“ antwortet er zynisch darauf. Sie schüttelt nur ihren Kopf.
„Wäre er nicht dazwischen gegangen“, sie zeigt auf den kleinen Mischling, „dann wär es vielleicht sogar noch schlimmer geworden. Der Labrador ist dem Vater an die Kehle gegangen. Das Mädchen ist daraufhin mit ihm von zu Hause weggerannt. Sie ist bei der WG von irgend so einem Junkie untergekommen, den sie vom Schulhof kannte. Sie hatte wohl schon vorher einiges angestellt, aber dort ist es dann richtig mit ihr bergab gegangen. Sie wurde öfters wegen kleineren Diebstählen und Drogenbesitz festgenommen. Keine Ahnung warum das Jugendamt da nicht eingegriffen hat. Auf jeden Fall hing sie regelmäßig mit irgendwelchen üblen Typen in der Bahnhofsunterführung in der Nordstadt rum."
„Die Große, die unter dem Nordbahnhof entlang geht?"
Sie nickt. „Genau."
"Mh, ich hab da früher in der Gegend gewohnt und musste auch immer da lang um meinen Zug zu erwischen. Da waren wirklich einige sehr komische Leute unterwegs. Da hat sie sich hingetraut?"
„Ja, aber wohl auch nur weil er immer dabei war.", erneut zeigt sie auf den Labrador, der sich inzwischen wieder enger an Kai gekauert hat. "Egal wo sie hingegangen ist, er war dabei. Es gab wohl auch einige Male, wo er Leute angegriffen hat, die versucht haben sich an ihr zu vergreifen. Aber bis die Polizei da war, waren schon alle wieder verschwunden. Der Bahnhof ist wohl zu irgendetwas wie ihrem Zuhause geworden. Entweder war sie in der Unterführung oder oben am Bahnhof und hat um Geld gebettelt. Von dem Geld, was sie so zusammengekratzt hat, hat sie sich dann Alk besorgt und sich mit den Leuten, da auf dem Bahnhof, die Kante gegeben. Vor knapp drei Monaten ist sie dann auf dem Rückweg zur Unterführung, auf der Treppe nach unten, gestolpert und mit dem Kopf zuerst aufgekommen."
„Also ist sie?“ fragt er erschrocken nach.
„Ja. Ein Anwohner ist auf sie aufmerksam geworden, nachdem er dem lauten Geheul des Hundes gefolgt ist. Die Polizei hat erst später herausgefunden, dass da noch andere mit ihr unterwegs waren. Die Feiglinge sind einfach abgehauen nachdem sie gestürzt ist. Aber sie ist wohl wirklich nur gestolpert. Kein Wunder bei den fast zwei Promille, die sie intus hatte.“
„Die Arme. Das ist ja schrecklich."
Kai sieht sich den Hund zwischen seinen Beinen an. Traurig erwidert er den Blick, als ob er die Geschichte eben verstanden hat. „Was passiert jetzt mit ihm?“, fragt er Elisabeth.
„Ich könnte ihn mitnehmen. Aber ich glaube nicht, dass er bei uns glücklich wird.“

Stille.

„Könnte ich ihn dann nehmen?“, bricht Kai das Schweigen.
„Bist du dir da sicher?"
„Ich wollte mir sowieso irgendwann mal einen Hund zulegen und nachdem wir gestern den Tag zusammen verbracht haben", er stockt. „Ich weiß nicht. Er ist echt klasse und er hat sich überhaupt nicht so verhalten wie du es beschrieben hast. Ist das nicht ein gutes Zeichen?“
„Ja, an deiner Seite wirkt er wirklich verändert. Falls es dir wirklich ernst ist, würden wir dir gerne bei den Formalitäten helfen.“
„Das ist es und danke. Ach ja, wie heißt er eigentlich?“
„Nun ja, das ist so eine Sache. Der Polizist wusste selbst nicht wie er heißt. Du müsstest dir wohl einen neuen Namen für ihn ausdenken.“
„Mh," er überlegt kurz. „Wie wäre es mit Custos?“
Der Labrador springt hoch und wedelt freudig mit dem Schwanz.
„Ihm gefällt wohl der Name. Aber wo hast du denn diesen ungewöhnlichen Namen her?“ fragt sie ihn verwundert.
„Eine gute Frage. Der Name für einen Hund ist bei mir irgendwann mal hängen geblieben. Wenn ich das noch wüsste…“

23. Dezember 2008

Ach das gibt’s doch nicht! Schon wieder zu spät.
Schnell stürmt er durch die Unterführung und hetzt die lange Treppe auf der anderen Seite wieder nach oben. Als er seinen Zug entdeckt füllt sich sein Herz zuerst mit Freude, bis er sieht wie die vorderen Türen sich zu schließen beginnen. Sofort sprintet er los und schlüpft gerade noch rechtzeitig durch die letzte Tür seiner Bahn. Erschöpft von dem plötzlichen Sprint setzt er sich neben ein Mädchen, ohne es weiter zu beachten. Bis es an seinen Füßen auf einmal nießt.
„Was zum?“, schreckt er hoch.
Ein kleiner weißer Welpe schnüffelt an seinen nassen Schuhen.
„Ach dich hab ich ja gar nicht bemerkt. Wer bist du denn?“
„Das ist mein kleiner Custos. Meine Mum hat ihn mir geschenkt.“
Er blickt auf und sieht das Mädchen neben ihm zum ersten Mal. Wow, ist die schön
„Oh, öhm. Hi, ich heiße Kai!“ stammelt er vor sich hin.
„Hi Kai, ich bin Anna und wie ich eben bereits sagte, der kleine Wonneproppen da unten ist Custos.“
„Custos? Komischer Name, wie bist du denn darauf gekommen?“
„Hab ich aus unserem Lateinunterricht“, strahlt sie. „Custos bedeutet so viel wie Wächter oder Beschützer. Ein passender Name nicht wahr?“
Er schaut runter auf den Kleinen, der sich gerade an seinem Schnürsenkel vergreift. „Ein Beschützer bist du also. Na dann pass mal schön auf dein Frauchen auf.“
Der Zwerg lässt von seiner Beute ab, schaut hoch und gibt ein kurzes Kläffen als Antwort.
„Ha! Ein schlaues Kerlchen“, freut er sich.
„Jap, das ist mein Custos.“
Der Junge schaut raus auf die Gleise. „Die nächste muss ich schon wieder raus", gibt er betrübt von sich.
„Wir beide fahren noch drei Stationen weiter.“
„Mhm.“ Seinen ganzen Mut zusammennehmend versucht er etwas, was er bisher noch nie gewagt hat. „Also ähm, ich bin nicht besonders gut darin. Aber, naja, hättest du vielleicht Lust dich morgen noch einmal mit zu treffen?“
„Morgen?“, wundert Anna sich.
„Ja, also, es muss nicht unbedingt morgen sein. Übermorgen ginge auch.“
„Morgen ist doch Heiligabend?“, gibt sie kichernd von sich.
„Oh Shit. Äh ich meine, ja stimmt, da hast du recht, das hab ich irgendwie vergessen. Dann, ja ich weiß.“ Schnell zieht er einen Notizblock aus seiner Tasche und kritzelt seine Nummer darauf.
„Hier, meine Nummer. Also, wenn der Feiertagsstress für dich vorbei ist, dann kannst du mich ja anrufen. Dann können wir einen Termin ausmachen für unser D..., ähm Treffen. Ok?“
„Gut ok, so machen wir es", lächelt sie ihn an, woraufhin Kai jedes Blut im Leib hoch ins Gesicht schießt.
„Fantastisch. Also ich muss dann. Du rufst mich an, ok?“, fragt er noch einmal nach, während er aufsteht und rückwärts in Richtung Tür geht.
„Ja, das mach ich. Auf jeden Fall. Bis dann!“
„Gut, bis dann!“, ruft Kai noch schnell beim Aussteigen.
Kichernd dreht sich Anna wieder zu ihrem kleinen Fellknäul um. „Na Custos. Da haben wir doch einen süßen Jungen kennen gelernt, nicht wahr?“
Der Kleine wedelt freudig mit dem Schwanz und kläfft seine Zustimmung.

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Viele verfluchen das Vergessen. Dabei ist es der einzige Wächter, der zwischen uns und dem Was-hätte-sein-können steht. -Unbekannt
 



 
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