DAS VORURTEIL - Eine Geschichte zum Weiterschreiben

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Das Vorurteil

Eine Geschichte zum Weiterschreiben

Das Vorurteil war es leid, ständig benutzt und dann verleugnet zu werden. Deshalb wollte es seinem freudlosen Leben ein Ende setzen. Das konnte es aber nicht allein. Und so surfte es im Internet und fand heraus, dass am anderen Ufer des Atlantiks ein Mann namens Crowley lebt und dieser ihm wahrscheinlich helfen könne. Sie begannen einen Chat.
„Mister Vorurteil“, fragte Crowley, „woher wissen Sie, wer ich bin? Niemand sieht mein Gesicht, wenn ich meinen Beruf ausübe, und niemand hört meine Stimme. Mein Gesicht ist dann verhüllt, und ich spreche kein Wort.“
„Ich will Sie ja nur um Hilfe bitten, Mister Crowley. Ganz diskret. Niemand sonst sollte davon wissen. Im Internet befindet sich auch kein Hinweis auf Ihren Beruf, allein eine kleine Anzeige in einem winzigen Fenster, das sich plötzlich öffnet, wenn man unter „Sterbehilfe“ sucht. Und die suche ich. Alles andere interessiert mich nicht mehr.“
„Da muss sich einer einen bösen Scherz erlaubt haben, Mister Vorurteil. Eine solche Anzeige habe ich nicht gesetzt. Warum um Gottes Willen kommen Sie zu mir? Ich führe keine Privataufträge aus. Das gehört zu unserem Berufsethos. Hier in den Vereinigten Staaten geht alles sehr genau nach Law and Order. Wir sind ein zivilisiertes Land, das kein Unrecht zulässt. Gewiss, es gibt Bestrebungen, meinen Beruf abzuschaffen. Man behauptet, durch meine Tätigkeit sei noch niemand von einem Mord abgehalten worden. Aber das lässt sich nicht beweisen.“
„Lieben Sie Ihren Beruf, Mister Crowley?“
„Lieben Sie etwa Ihren Beruf, Mister Vorurteil?“
„Nein.“
„Sehen Sie, wenigstens darin sind wir uns einig - über eine so große Entfernung. Dennoch kann ich Ihnen nicht helfen. Vergessen Sie mich bitte!“
Damit verschwand Mister Crowley vom Bildschirm. Das Vorurteil war sehr enttäuscht. Rat- und ziellos ging es durch die Straßen, bis es noch dunkler wurde, als es schon war. Durstig geworden, betrat es seine Stammkneipe und wurde mit lautem „Hallo!“ begrüßt. Diesmal antwortete das Vorurteil nicht auf die freudige Begrüßung, mit der es hier jedes Mal empfangen wurde.
Am Tresen standen zwei unbekannte Soldaten, und das Vorurteil setzte sich neben sie auf einen Hocker. Es bestellte ein alkoholfreies Pils. Diese beiden Soldaten, dachte es, können mir helfen. Es waren ein Feldwebel und ein Unteroffizier, Berufssoldaten, wie sich bald herausstellte, Männer, die schon nach den ersten Worten, die sie mit dem Vorurteil wechselten, keinen Zweifel daran ließen, dass sie Fachleute waren.
Das Vorurteil wurde zusehends munter, als es die beiden Soldaten von ihrem letzten Einsatz in Bosnien erzählen hörte und sah, wie sie sich darüber freuten, dass „es nun bald auch im Irak losgehen“ werde. Es war sogar so etwas wie Heiterkeit auf seinem Gesicht.
„Es macht euch also nichts aus“, hakte das Vorurteil nach, „Menschen zu töten.“
„Nö, wenn es sein muss.“ Die Antwort des Unteroffiziers.
Der Feldwebel, bedächtiger: „Na ja, das erste Mal ist mir das nicht leicht gefallen – nachher, als ich die Leichen gesehen habe.“
Das Vorurteil sah sich bereits am Ziel und sagte ohne Umschweife: „Ihr könnt mir helfen! Ich bin das Leben leid.“
„Du bist verrückt!“, platzte es aus dem Feldwebel heraus. „Oder bist du krank? Krank im Kopf oder wo? Denkst du etwa, wir sind Killer?“ Und zum Unteroffizier: „Was, Fritz, sind wir Mörder?“ Und wieder zum Vorurteil: „Wer bist du eigentlich?“
Das Vorurteil hatte auf einmal die Sprache verloren, bezahlte, ohne sein Glas ausgetrunken zu haben, das Bier und verließ eilig die Kneipe. Die übrigen Gäste, fast alle Stammgäste hier und dem Vorurteil sehr zugetan, waren glücklicherweise so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass sie nichts von dem Gespräch mitbekommen hatten.
Am nächsten Tag kaufte sich das Vorurteil eine Zeitung nach der anderen, durchsuchte, ohne recht zu wissen, was es suchte, im Anzeigenteil die Rubrik Verschiedenes durch und stieß auf ein merkwürdiges Angebot. Es lautete: „Führe jeden Auftrag aus - preisgünstig und diskret.“ Darunter eine Handynummer. Das Vorurteil rief sofort an, und man einigte sich schnell auf einen Treff- und Zeitpunkt.
Bei einer Parkbank hinter dem Rathaus trafen sie sich, das Vorurteil und ein Mann unbestimmten Alters in dunkelgrauem Trenchcoat mit Sonnenbrille und Schlapphut. Dieser gab sich als Gelegenheitsarbeiter aus. Das Vorurteil kam sofort zur Sache: „Wie du es machst, ist mir egal“, sagte es. „Es muss aber kurz und schmerzlos sein. Kannst du das?“
Dem Mann in dunkelgrauem Trenchcoat, Sonnenbrille und Schlapphut schien diese Frage nicht sehr zu gefallen. Er antwortete barsch: „Hältst du mich etwa für einen Stümper?!“
„So habe ich es nicht gemeint. Ich wollte dich nur bitten…“
Er schnitt ihm das Wort ab, der Mann im Trenchcoat, mit Sonnenbrille und so weiter. Schrie es an: „Glaubst du, mir macht das Spaß?!“
Seinem Chef, vermute ich, meldete er per Handy: „Die Person ist nicht die gesuchte.“ Packte das Vorurteil wie einen nassen Sack und brachte es zu einem Psychologen.
„Dieser Typ hier“, sagte er zum Psychologen, „ist nicht ganz normal.“
Der Psychologe hörte sich die Leidensgeschichte des Vorurteils an und befand: „Mit Ihrer Libido stimmt etwas nicht.“
Das Vorurteil war verdutzt. Es verstand nicht, was der Psychologe meinte und bat ihn, es ihm zu erklären. Dieser antwortete ihm:
„Sie können nicht lieben, und Sie werden nicht geliebt. Man missbraucht Sie für eigene Zwecke.“
Das Vorurteil verlor die Fassung: „Ich will doch nur ein Vorurteil sein, ein gutes Vorurteil“, sagte es und war dem Weinen nah. „Und man macht mich zu einem schlechten.“
„Dann s e i e n Sie doch ein gutes Vorurteil!“ war die ermutigende Antwort des Psychologen. „Ich schicke Sie jetzt zu einem Philosophen. Der wird Ihnen besser als ich sagen können, was mit Ihnen los ist.“
Er schrieb eine Adresse auf einen Zettel, griff zum Telefon und sprach mit einem Professor Sowieso ein paar Worte.
Den Zettel in der Hand, fragte sich das Vorurteil bis zur Vorstadt durch, wo der Philosoph in einem alten Stadtturm wohnte. Der Philosoph, ein Mann mit großem, spiegelblankem Eierkopf, schwarzem, buschigem Schnäuzer und ungewöhnlich tiefen Stirnfalten, dieser Mann endlich konnte dem Vorurteil sagen, woran es litt:
„Ganz einfach, lieber Freund“, sagte er, „Sie sind eine multiple Persönlichkeit. Es überrascht mich etwas, dass der Psychologe dies nicht erkannt hat. Wenn jemand gegenüber einem anderen von Ihnen behauptet, Sie seien ein schlechter Typ, man sollte niemals auf Sie hören, denn alles, was Sie sagen, sei falsch, und der Andere, der Sie nicht kennt, behauptet dasselbe gegenüber einem Dritten, der sie ebenfalls nicht kennt: was ist das? Es ist dasselbe, als wenn jemand gegenüber einem anderen von Ihnen behauptet, Sie seien ein guter Typ, man sollte auf jeden Fall Ihren Rat suchen, denn alles, was Sie sagen, ist sehr weise, und dieser Andere, der Sie auch nicht kennt, behauptet, Sie seien ein guter Typ, man sollte auf jeden Fall Ihren Rat suchen, denn alles, was Sie sagen, ist sehr weise. Kapiert? Ich will es einfacher sagen: Sie, lieber Freund, sind alles, was vor mir gedacht worden ist, wenn ich es mir ungeprüft zu Eigen mache. Vieles davon lässt sich nicht überprüfen. So gesehen, beruht ein großer Teil unseres Wissens auf – Vorurteilen.“
Darauf das Vorurteil: „Dann bin ich zum Sterben wohl schon zu alt.“


Damit ist diese Geschichte noch nicht zu Ende. Schreibt sie weiter!
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Nachwort: Zu dieser Geschichte bin ich durch eine Diskussion über Vorurteile auf meinem "Zeitfragenforum" angeregt worden. Siehe unter "Unschlüssig" und "Aus ZEN-buddhistischer Sicht", sowie unter "Philosophie" auf meiner HP.
 



 
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