DIE PIROUETTE

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nisavi

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Es war einer von diesen Wintertagen, an denen sie im Dunklen die Wohnung verließ und erst zurückkehrte, wenn die Sonne längst untergegangen war.
Endlich hatte sie Dienstschluss. Endlich konnte sie nach Hause fahren.

Als ihr Blick bei einem Überholmanöver zufällig den Rückspiegel streifte, erschrak sie.
Dieses Gesicht! Es war grau. Knittrig wie Altpapier. Schwarze Schatten verliefen unter müden, nur halb geöffneten Augen.
Allein die zusammengepressten Lippen schienen die fahlen Züge davor zu bewahren, sich völlig aufzulösen.

Einmal mehr hielt sie dem eigenen Blick nicht länger stand.

Wie so oft sehnte sie sich danach, in den Abend oder die Nacht zu fließen. Völlig widerstandslos würde sie sich davontragen lassen. Irgendwohin. Ohne Spuren zu hinterlassen. Ganz leise.
Doch immer wieder gab es ein Weckerklingeln. Einen Morgen, der sie in einen vorhersehbaren Alltag trieb, in ein unbarmherzig ausgeleuchtetes Büro. Grell geschminkte Kolleginnen hackten dort mit hohen Absätzen Gerüchte und Boshaftigkeiten in die Laminatböden der Zimmer.
Die Abteilungsleiter lächelten süßlich, wenn sie ihre Frühstück aus sorgfältig gefalteter Aluminiumfolie nahmen und mit wohlüberlegten Bemerkungen die Arbeit anderer kritisierten.
Der Chef, ein kleiner Mann mit Sandmannbärtchen, benutzte ein teures Rasierwasser, das ihr Übelkeit verursachte.

Die Ampel schaltete auf rot.

Sie trat auf die Bremsen und nahm aus den Augenwinkeln ein Mädchen wahr, das neben der Autoschlange herlief.
Plötzlich, völlig unvermittelt, blieb die Kleine stehen. Sie nahm die Hände aus den Anoraktaschen, stellte sich auf die Zehenspitzen und hob wie in Zeitlupe anmutig beide Arme über den Kopf. Die Fingerspitzen berührten sich.
Der Verkehrslärm schien zu verstummen. Die Luft roch nach Frost und Schnee. Häuserfronten verschwammen im Schein der Straßenlaternen zu einem wässrigen Grau.
Wie eine Spieluhrenfigur drehte sich das Kind völlig selbstvergessen um sich selbst.
Dann, so als wäre nichts gewesen, hüpfte es mit unregelmäßigen Schritten weiter und verschwand hinter einer Häuserecke.

Der Fahrer im Auto hinter ihr hupte ungeduldig. Sie sah im Rückspiegel sein wildes Gestikulieren.

Lächelnd gab sie Gas und fuhr weiter.
 
L

Larissa

Gast
Hallo Nisavi,

schön! Einfach schön, deine Begegnung mit der kleinen Pirouettentänzerin.
Es sind die kurzen, unvermuteten Glücksmomente, die uns aus dem Alltagstrott reißen und uns wieder lächeln lassen. Hat mir sehr gut gefallen!

Liebe Grüße
Larissa
 



 
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