Da wo die Verrückten wohnen - die andere Weihnachtsgeschichte

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Da wo die Verrückten wohnen

Ich wohne in einer kleinen Stadt. Es ist schön hier. Aber es gibt viele Verrückte. Ich saß bei Frau Meier im Wohnzimmer und die hat es mir erzählt. Sie weiß es ganz genau, denn ihr Mann hat da gearbeitet, wo die Verrückten sind. „Mein Mann, Gott hab ihn selig“ sagt sie immer und schaut dann auf das Foto von ihrem Mann. Ihr Mann lacht auf dem Bild. Er trägt einen grünen Anzug und stützt sich auf ein langes Gewehr. Sein Fuß steht auf dem Kopf eines Wildschweins. Das schaut ein bisschen traurig, weil es tot ist. Frau Meier weint immer ein bisschen, wenn sie von ihrem Mann erzählt.

Ich weiß, wo die Verrückten wohnen. Man hat ihnen ein Haus gebaut. Das muss aber schon lange her sein. Solche Häuser werden heute nicht mehr gebaut. Es ist groß und grau, mit Betonplatten rundherum. Die Fensterrahmen sind aus grauem Metall.

Mama sagt immer, wenn ich mein Zimmer nicht aufräume oder mein Essen nicht aufesse oder meine Hausaufgaben nicht mache, dann lande ich irgendwann bei den Verrückten. Meine Klassenkameraden hören das von ihren Eltern aber auch immer.

Ich glaube, dass die Verrückten sehr gefährlich sind. Dass sie Leute umgebracht haben und vielleicht auch aufgegessen haben und dass sie ihre Augen immer ganz komisch verdrehen und manchmal Spucke vom Kinn runterläuft. Ich habe mal ein Buch gelesen, da haben sie auch Menschen gegessen, Kannibalen waren das. Ich glaube bei den Verrückten gibt es auch Kannibalen.

Ich habe mal den alten Herrn Schmidt gefragt. Der wohnt in einem kleinen Haus am Ende der Straße. Herr Schmidt ist viel rumgekommen. Er war Soldat und er hat mir Fotos gezeigt, ohne Farbe. Da war der Herr Schmidt noch ganz jung. Er lacht auf dem Bild. Er hat eine graue Uniform an und eine Mütze auf. Er stützt sich auf ein langes Gewehr. „Wir waren damals richtige Kerle“, sagt Herr Schmidt immer. „Heute sind das doch alles Weicheier und Schwuchteln.“ Ich weiß nicht genau, was eine Schwuchtel ist, aber der Torben, das ist der Enkel vom Herrn Schmidt, der hat mal gesagt, ich sei eine alte Schwuchtel. Der Herr Schmidt spricht viel über Sachen, die ich nicht verstehe, da kommen dann immer Worte wie Emanzen, Homos oder Toleranz vor. Toleranz ist so ein Wort, da sagt er immer „Hö, Hö“. Manchmal schreit er dann auch und verdreht die Augen. Aber ob die Verrückten Kannibalen sind, konnte er mir nicht genau sagen. „Würde mich aber nicht wundern“, knurrte er.

Ich habe die Verrückten noch nie gesehen. Ich glaube die sind immer in dem grauen Betonhaus. Manchmal sieht man, dass sich etwas hinter den Fenstern bewegt. Sie laufen dann im Kreis. Einer liegt immer auf dem Bett. Manchmal sieht man auch Leute mit weißen Kitteln. Vor den Büros hängen keine Gardinen. Da stehen grüne Pflanzen im Zimmer und manchmal hängt da eine Lichterkette, wenn Advent ist.

Jetzt ist wieder Advent und bald ist Weihnachten. Das ist für mich fast schöner als Geburtstag. Mit Mama backe ich Plätzchen. Wir haben auch schon einen Baum, der wird mit Kerzen und silbernen Kugeln geschmückt und wir gehen in die Kirche, weil ich im Krippenspiel mitmache. Ich bin dieses Jahr der Engel. Den Text kann ich schon auswendig: „Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren.“ Das nennt man die Frohe Botschaft hat der Pfarrer gesagt.

Neulich kam ein Bus mit Menschen in die Stadt, die eine ganz dunkle Hautfarbe hatten. Unser Pfarrer sagte, das seien Flüchtlinge aus Ländern in denen Krieg ist. Die Leute wurden dann in der alten Kaserne untergebracht. Einige aus der Stadt gingen hin und brachten den Leuten was zu Essen und Kleidung. Ich habe Mama gefragt, ob wir da auch was hinbringen können. Sie sagte aber, dass sei Schwachsinn, weil die hätten sowieso schon alles und sie würde die Kleidung lieber bei Ebay versteigern, da bekäme sie noch Geld und davon könnte sie mir Geschenke kaufen. Ich bin doch ein bisschen froh, dass wir unsere Sachen nicht verschenkt haben. Ich wünsche mir nämlich eine Wii und die ist ganz schön teuer.
Gestern Abend sind ganz viele aus der Stadt zu der Kaserne gegangen. Die hatten Plakate in der Hand, auf denen standen so Sachen wie „Wir sind das Volk“ und „eine Anstalt ist genug“. Der Herr Bertram war ganz vorne und der hatte ein Megaphon in der Hand. Das ist ein tolles Ding. Da spricht man ganz normal rein und es kommt ganz laut raus. Der Herr Bertram hat geschrien, die Leute sollen zurück gehen, wo sie herkommen. Ich habe ihn gefragt, wo die denn herkommen. „Die kommen aus dem Boguffenland. Die gehören hier nicht hin. Die nehmen uns die Arbeitsplätze weg und die Frauen und außerdem klauen die.“ Der Herr Bertram hat ganz wütend geschaut und immer wieder in sein Mikrophon geschrien und ihm lief beim Schreien auch ein bisschen Spucke aus dem Mund. Da habe ich natürlich auch ein bisschen Angst bekommen. Dann kam der Bürgermeister und hat gesagt, er könne die Leute ja verstehen, aber es gäbe Gesetze und so und ihm seien auch die Hände gebunden. Die Leute haben dann aber noch mehr vor der Kaserne rumgeschrien und Bier getrunken. Heute Morgen kam ein Bus und hat die Leute aus der Kaserne wieder weggebracht. „Jetzt haben wir wieder Ruhe“, hat Mutter geseufzt. Eine Anstalt mit Verrückten sei schon schlimm genug.

Ich habe in meinem Kinderatlas nachgeschaut, wo das Boguffenland ist, aber ich habe es nicht gefunden. Mama weiß auch nicht, wo das ist. Ich weiß aber wo die Türkei ist, denn da fahren wir im Sommer hin. Da ist es ganz warm hat Mama gesagt und die Leute da sind ganz gastfreundlich. Da freue ich mich drauf. Ob die da auch Weihnachten feiern?
 
P

Pagina

Gast
Hallo, Schreibensdochauf: vielen Dank für diese gut gelungene, "irre" Geschichte!
"Wir behandeln die Falschen. Unser Problem sind die Normalen."
Leider nicht von mir, sondern Titel des sehr empfehlenswerten Buches von Manfred Lütz.
Herzliche Grüsse, Pagina
 



 
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