Darias Welt

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Manic Peter

Mitglied
Die Sommer in meinem Land sind launisch. Das Wetter tastet sich durch die verschiedenen Stimmen unserer seelischen Partitur. Nicht selten wird dabei ein Akkord gespielt, dessen Klang sich traurig mit den milchigen Nebelschaden durchmischt und noch minutenlang wahrzunehmen ist. An einem solchen Tag, an dem die Menschen geduckt an einem vorbeihuschen, nur an als graue Schatten zu erkennen, wartete ich unter dem Dachvorsprung eines alten Stadthauses auf ein gnädiges Ende der meist kurzen, aber intensiven Regengüsse. Es war kein bestimmtes Stadthaus, unter dessen Dachvorsprung ich Schutz fand, es war eines unter vielen, ich hätte mich kaum daran erinnert, wäre meine Lebensgeschichte in seinen normalen Bahnen weiterverlaufen.
Die Regengüsse hörten auf, wie sie gekommen waren, augenblicklich und ohne Mitteilung, ohne Fahrplan, dafür verdunstete das Nass auf dem nun abgekühlten aber nicht kühlen Asphalt und liess Nebelschwaden hochsteigen, die mir das Hemd durchtränkten. Als ich mich von der Hauswand schon lösen wollte, um im Strom der nun wieder aufrecht gehenden Gestalten meinen angestammten Platz einzunehmen, hörte ich ein leises Seufzen neben mir, einer geflüsterten Bitte nicht unähnlich. Ich hatte die Person, die wohl schon eine Zeitlang neben mir gestanden haben musste, nicht bemerkt, so erschrak ich im ersten Augenblick, denn ich wähnte mich alleine in meiner geschützten Welt unter dem Dachvorsprung.
«Hallo, ich heisse Daria», sagte die Gestalt, die ich nun der sanften Stimme wegen als weibliches Wesen zu erkennen glaubte. Ich war es nicht gewohnt, derart angesprochen zu werden, und obwohl ich mich nochmals umsah, konnte ich sonst keine Personen entdecken, die sich mit uns in diesen Unterschlupf geflüchtet hätten. Ich sagte ihr also meinen Namen, obwohl mir das ziemlich sinnlos erschien, denn wir waren auf keiner Insel wie Robinson, die Welt um uns herum erwachte zu neuem Leben und eine Fortsetzung der Zivilisation schien mir durchaus gewährleistet. Hätte ich aber in irgend einer Weise geahnt, wie oft unsere Wege in der nächsten Zeit sich noch kreuzen und wieder auseinander führen sollten, ich hätte die Gelegenheit genutzt, ihr nicht nur meinen Namen, sondern meine ganze bisherige Existenz zu erklären. Ich hätte nicht aufgehört zu reden, bis ein gnädiger Engel vom Himmel gestiegen wäre und mir den Mund mit einem Zauber verschlossen hätte. Aber ich schwieg. Ich schwieg hartnäckig, und als sie feststellen konnte, dass ich nicht geneigt war, mehr von mir preiszugeben, schritt sie in den Nebel und verschwand, als wäre sie ein flüchtiger Gedanke, der, einmal vorübergehuscht, einem mit dem besten Willen nicht mehr in den Sinn kommen will.
Unser zweites Zusammentreffen geschah in einer Bar, in der ein Pianist weinte vor Rührung oder Schmerz. Wir waren alle in vornehmer Kleidung, die dem Anlass gerecht werden sollte, als wir mit unseren bis zum Rand gefüllten Gläsern beinahe zusammenstiessen. Sie hielt sich den Hand vor den Mund, um nicht laut loszulachen, und ich wollte meine Stimme schon zu einer Frage erheben, als ich bemerkte, dass durch den abrupten Halt, der diesen Zusammenstoss verhindert hatte, der Inhalt meines schmalen Champagnerglases sich über mein Hemd ergossen hatte.
«Du siehst aus wie damals im Regen», bemerkte sie mit einer Vertrautheit, die einen zufälligen Zuhörer zu der Annahme hätte verleiten müssen, wir wären gute Bekannte, wenn nicht gar Freunde. Ich wusste nicht, wie ich ausgesehen hatte, damals unter dem Dachvorsprung, als mir das Hemd am Körper klebte, ich wusste aber sofort, wem diese Stimme gehörte, die zu mir bisher nur die Sätze «Hallo, ich heisse Daria» und «Du siehst aus wie damals im Regen» gesprochen hatte. Ein Mann, der wohl hinter ihr gegangen war, betupfte mich nun mit einer Serviette oder einem Taschentuch, obwohl ich höflich ablehnte, und Daria stellte mich ihm mit meinem Vornamen vor, was ihn zu einem Stirnerunzeln verleitete, nein, er kenne mich noch nicht. So hatten Daria und ich unsere erste Gemeinsamkeit, unser erstes Geheimnis, das nur auf zwei Zufälligkeiten beruhte und nichts mit unseren Biographien zu tun hatte, die uns ohnehin gänzlich unbekannt waren. Im Stehen noch verwickelte mich der Mann, der mich nun glücklicherweise nicht mehr betupfte, in ein Gespräch, wohl in der Annahme, einen alten Bekannten seiner Begleiterin vor sich zu haben. Die Männer meiner Gruppe schielten zu uns herüber, ihre Blicke tasteten fragend die beiden Fremden ab, mit denen ich mich scheinbar zwanglos amüsierte. Dann nahm mich Daria unvermittelt bei der Hand und führte mich in einen Saal, wo andere Musik gegeben wurde und die Leute dazu tanzten. Während dem folgenden Tanz vergass ich Zeit und Raum, was dem tatsächlichen Universum unserer Beziehung wohl sehr nahe kam, doch als ich für kurze Zeit die Augen schloss und mich im freien Fall wähnte, löste sie sich von mir und ich konnte sie den ganzen Abend nicht mehr auffinden.
Ich muss eingestehen, dass ich in der Folge nicht versuchte, ihren Familiennamen ausfindig zu machen oder mich sonst wie in ihre Welt einzumischen. In Wahrheit hatte ich fast keine Erinnerungen an die zwei kurzen Begegnungen. Sie schienen mir wie das flammende Licht einer Sequenz aus einem Traum, der sich plötzlich ohne Vorwarnung an die Oberfläche unseres Bewusstseins bringt. Und doch war unsere dritte Begegnung so unvermeidbar, wie alle Erinnerungen unvermeidbar irgendwann wieder angespült werden. Daria trug einen Sonnenhut, wie hätte ich sie erkennen können, es war nicht mehr im selben Sommer, als das Wetter uns den ersten Streich unserer Begegnung spielte. Auf einem Platz, auf dem ein Markt abgehalten wurde und der nach Jasmin roch, obwohl ich nirgendwo eine solche Pflanze entdecken konnte, besah sie sich mit viel Geduld die Früchte, die feilgeboten wurden und scheinbar darauf warteten, von Damen in Sommerhüten gekauft zu werden. Ich erkannte sie nicht, obwohl sie direkt neben mir stand, aber es war der vorausgedachte Gang unserer Geschichte, dass sie mich mit Sätzen überraschen sollte wie «wunderbar, dieses Obst, findest Du nicht?», und dass mich diese Sätze in eine Zeit versetzen, die entgegen der unerschütterlichen Weltzeit zu laufen schien. Wir bummelten über den Markt, Arm in Arm, als hätten wir nie etwas anderes gemacht, lachten über die Gaukler, diese Weltreisenden, die ich beneidete ob ihrer Ungebundenheit. Als wir uns zum Abendessen in ein Restaurant begaben, spürte ich zum ersten Mal dieses Gefühl, ein kurzes Aussetzen meines Herzschlages, als ich mir ausmalte, dass dieser Teil meiner Wirklichkeit gar nicht geschehen könne. Ich sah verstohlen zu diesem Wesen hinüber, das ich noch nie mit Tiefe betrachtet hatte, und Daria senkte den Blick, aber schon erhellte eine Idee ihre Züge, sie lachte hell und frage mich: «Magst Du mich noch ein Stück begleiten?» Und da mir die letzten Stunden angesichts der Zeitspanne unserer Bekanntschaft schon mehr als eine Ewigkeit vorgekommen waren, konnte ich mir kaum vorstellen, irgend etwas anderes vorzuhaben in meinem Leben, also begleitete ich Daria durch die Gassen, bevor sie mich, an eine Mauer lehnend, zärtlich küsste. Und noch während ich mich von ihrer Wärme umhüllt wähnte, verschwand sie hinter der nächsten engen Ecke der dunklen Gassen, fortgeweht, ein sommerlicher Abendwind, nach dem man sich vergebens zurücksehnt.
Nach dieser letzten Begegnung war nun etwas in mir erwacht, das nebst Sehnsucht auch eine Art Bitterkeit in sich trug. So sicher ich nun wusste, dass ich sie irgendwo auf dieser Welt wieder treffen würde, so sicher war ich mir auch, dass diese Treffen nie länger dauern würden als die Zeit, die wir brauchten, um die banalen Handlungen, die ein Wiedersehen mit sich bringen, zu erfüllen. Wie die gusseisernen Glockenschläger auf einem venezianischen Turm, welche zu jeder Stunde die selben Kreise vollführen, so würden auch wir jeweils die selben Phrasen wiederholen, uns die selben Episoden wieder erzählen. So nahm ich mir vor, der nächsten Begegnung einen anderen Verlauf aufzuzwingen. Aber so sicher wie sich das Schicksal die Weichen seiner Geschichten durch den Zufall stellen lässt, um ja nicht in den Verdacht der Berechenbarkeit zu geraten, so sicher hätte ich sein sollen, dass die vierte Begegnung die für mich bis anhin verwirrendste sein würde. Wir trafen uns ausgerechnet bei einem Ausflug, den ein Bekannter für Geschäftsfreunde organisiert hatte und für dessen erfolgreichen Verlauf ich meinem Bekannten Hilfe angeboten hatte. Ich konnte nicht ahnen, dass einer dieser Geschäftsfreunde der Mann war, der mir einige Monate zuvor mit seinem Taschentuch die Champagnerflecken vom Hemd getupft hatte. Er begrüsste mich, erfreut darüber, ein bekanntes Gesicht unter den mehr als zwanzig Frauen und Männern zu entdecken, die sich diesen Anlass teilten. Unter den Gästen befand sich auch Daria. Weil ich sie in Begleitung wähnte, traute ich mich nicht, sie an unsere letzte Begegnung in den dunklen Gassen zu erinnern, weder mit Worten, noch mit Blicken. Da auch sie mit keiner Geste auf dieses Geschehnis aufmerksam machte, schien diese vierte Begegnung für mich zur Enttäuschung zu geraten. Doch gegen Abend, wir hatten alle schon reichlich getafelt, führte uns ein kurzer Spaziergang einem von aussen dunklen weil nicht einsehbaren Wald entlang. Ich spürte, wie mich jemand bei der Hand nahm und mich in Richtung dieser vermeintlich undurchdringbaren Büsche zog. Ich hatte nicht bemerkt, dass Daria hinter mir gegangen war, aber ich liess mich trotz meiner Überraschung leicht von ihr entführen. Wie wundersam mir diese Welt nun vorkam, wie seltsam unwirklich dieser Wald, wie er roch, ein wilder Kosmos, turmhoche knorrige Bäume, die kaum ein Licht durchscheinen liessen. Nun gingen wir nicht mehr, sondern rannten, rannten durch die Büsche, die nach mir schlugen und an meinem Haar zerrten. Ich begann zu lachen, ein kannibalisches, ungestümes Lachen, das mehr dem eines vorzeitlichen Monstrums glich als einem menschlichen Wesen, und nun hörte ich auch Daria von Ferne lachen, es klang weitaus angenehmer und heller als das meine, keinem plötzlichen Urinstinkt folgend. Wir rannten weit, kein Weg war zu erkennen, dann erschöpfte sich mein Atem, ich musste nach Luft ringen und hechelte wie ein erschöpfter Hund. Daria blieb stehen und betrachtete mich verwundert, wie einen seltsam fremden Gegen-stand, der nicht in die unsere physikalische Welt einzuordnen ist. Dann lehnte sie sich an einen Baum und küsste mich wiederum zärtlich. Aber diesen Kuss konnte ich nicht erwidern, einerseits fehlte mir der Atem, andererseits war ich gewappnet. Ich hatte nicht vor, sie wieder so einfach entwischen zu lassen. Denn nun loderte ein Feuer in mir, das mein Blut erhitzte und mein Herz zu sprengen drohte, und was anfangs nur als eine Episode, der niemals ein Denkmal errichtet werden sollte, begonnen hatte, brannte nun wie ein Cocktail aus Glückseeligkeit und Verzweiflung und verätzte mir die Kehle. Inzwischen hatte es eingenachtet und mich befiel eine Art geisterhafter Panik. «Daria», platzte es aus mir heraus, «geh jetzt nicht! Ich liebe Dich!» Und noch während ich meine Worte hörte, wusste ich um ihrer Torheit. Nie hatten wir unsere Gedanken ausgetauscht, hatten Pläne geschmiedet, wussten nicht einmal unsere Familiennamen, geschweige denn unsere Adressen. Wie zur Bestätigung meiner Überlegungen löste sie sich sanft von mir, bedachte mich mit einem milden Lächeln und verschwand zwischen den dichten Sträuchern des dunklen Waldes, als wäre sie ein Reh, das behende jedem Verfolger entkommt.

In den nächsten Tagen sah ich ihr Gesicht bei all meinen Besorgungen, in allen Spiegeln, aus allen Schaufenstern blickte mir lächelnd aber stumm Daria entgegen. Ich hatte es noch am selben Abend gewagt, ihren Begleiter nach ihrem festen Aufenthaltsort zu fragen. Zu meinem Erstaunen aber konnte er mir keine solchen Angaben machen, er meinte nur, manchmal treffe er sie bei solchen Anlässen wie diesem hier.
Erst Tage später wurde mir bewusst, dass mir Darias Welt entglitten war. Wie die Gewissheit, dass unsere Zeit uns auch ohne unser Zutun davoneilt, so wusste ich, dass ich Daria nie mehr auf duftenden Marktplätzen antreffen würde. Und obwohl jeder dieser Plätze mein besonderes Interesse weckte, schwand die Hoffnung auf ein Wiedersehen mit jedem Tag, an dem ich ihre Worte neben mir zu hören glaubte und mich jedes Mal irrte. Bis ich langsam ihr Bild in mir verlor und nur noch den Klang ihres Namens durch den dampfenden Nebel hörte.
 

Silke_Honert

Mitglied
Ursprünglich veröffentlicht von Manic Peter
Lieber Peter,

alles in allem hat mich Deine Geschichte fasziniert, wenn ich mich auch frage, wie sie denn nun ist, die Welt von Daria. Denn darüber lässt Du den Leser leider im Dunkeln. Vermutlich ist es von Dir gewollt, dass Daria nicht greifbar und unwirklich bleibt, aber Du hättest Deiner Erzählung wesentlich mehr Substanz geben können, wenn Du nicht nur Darias Charakter sondern auch das Besondere an der Beziehung der beiden, in der Raum und Zeit keine Rolle spielt, herausgearbeitet hättest anstatt es bei flüchtigen Treffen zu belassen, in denen nicht einmal der Protagonist wirklich etwas über Darias Welt erfährt.

Deine Sprache ist eine ziemlich faszinierende Mischung aus Melancholie, Lakonie und Poesie, die mich überhaupt erst dazu bewogen hat, den Text bis zum Ende zu lesen. Allerdings hast Du an einigen Stellen sehr dick aufgetragen, was gar nicht nötig gewesen wäre, um die Stimmung der Geschichte rüberzubringen. Zum Beispiel erschlägt schon der erste Satz des Textes den Leser förmlich und hat keinen wirklichen Bezug zum Inhalt der Erzählung.

Fazit: Noch nicht der ganz große Wurf, aber ich finde Dich ziemlich begabt und freue mich auf weitere Texte dieser Art von Dir. Ich habe ein paar Korrekturen in Deinem Werk vorgenommen, die Du anbei findest. Übrigens, auch nach der neuen Rechtschreibung wird nicht alles mit „ss“ geschrieben…

Liebe Grüße

Silke



Die Sommer in meinem Land sind launisch. Das Wetter tastet sich durch die verschiedenen Stimmen unserer seelischen Partitur. Nicht selten wird dabei ein Akkord gespielt, dessen Klang sich traurig mit den milchigen Nebelschaden durchmischt und noch minutenlang wahrzunehmen ist.[blue]Das ist definitiv „too much“ Von welchem Land sprichst Du und welchen Bezug hat es zu Deiner Erzählung?[/blue] An einem solchen Tag, an dem die Menschen geduckt an einem vorbeihuschen [blue]und[/blue] nur an als graue Schatten zu erkennen [blue]sind,[/blue] wartete ich unter dem Dachvorsprung eines alten Stadthauses auf ein gnädiges Ende de[blue]s[/blue] meist kurzen, aber intensiven Regen[blue]gusses.[/blue] Es war kein bestimmtes Stadthaus, unter dessen Dachvorsprung ich Schutz fand, es war eines unter vielen, ich hätte mich kaum daran erinnert, wäre meine Lebensgeschichte in seinen normalen Bahnen weiterverlaufen. [blue]Das ist es, was ich mit fehlender Substanz meine: Spätestens ab hier warte ich auf eine grundlegende Änderung im Leben des Protagonisten, die dann jedoch nicht kommt![/blue]
[blue]Der Regenguss[/blue] hört[blue]e[/blue] auf, wie [blue]er[/blue] gekommen waren, augenblicklich und ohne Mitteilung, ohne Fahrplan, dafür verdunstete das Nass auf dem nun abgekühlten aber nicht kühlen Asphalt und lie[blue]ß[/blue] Nebelschwaden hochsteigen, die mir das Hemd durchtränkten. Als ich mich von der Hauswand schon lösen wollte, um im Strom der nun wieder aufrecht gehenden Gestalten meinen angestammten Platz einzunehmen, hörte ich ein leises Seufzen neben mir, einer geflüsterten Bitte nicht unähnlich. Ich hatte die Person, die wohl schon eine Zeitlang neben mir gestanden haben musste, nicht bemerkt, so erschrak ich im ersten Augenblick, denn ich wähnte mich allein[strike]e[/strike] in meiner geschützten Welt unter dem Dachvorsprung.
«Hallo, ich hei[blue]ß[/blue]e Daria», sagte die Gestalt, die ich nun der sanften Stimme wegen als weibliches Wesen zu erkennen glaubte. Ich war es nicht gewohnt, derart angesprochen zu werden, und obwohl ich mich nochmals umsah, konnte ich sonst keine Personen entdecken, die sich mit uns in diesen Unterschlupf geflüchtet hätten. Ich sagte ihr also meinen Namen, obwohl mir das ziemlich sinnlos erschien, denn wir waren auf keiner Insel wie Robinson, die Welt um uns herum erwachte zu neuem Leben und eine Fortsetzung der Zivilisation schien mir durchaus gewährleistet. Hätte ich aber in irgend einer Weise geahnt, wie oft [blue]sich[/blue] unsere Wege in der nächsten Zeit [strike]sich[/strike] noch kreuzen und wieder auseinander führen sollten, ich hätte die Gelegenheit genutzt, ihr nicht nur meinen Namen, sondern meine ganze bisherige Existenz zu erklären. Ich hätte nicht aufgehört zu reden, bis ein gnädiger Engel vom Himmel gestiegen wäre und mir den Mund mit einem Zauber verschlossen hätte.[blue]Zu viel des Guten![/blue] Aber ich schwieg. Ich schwieg hartnäckig, und als [strike]sie feststellen konnte[/strike] [blue]ihr klar wurde[/blue], dass ich nicht geneigt war, mehr von mir preiszugeben, schritt sie in den Nebel und verschwand, als wäre sie ein flüchtiger Gedanke, der, einmal vorübergehuscht, einem [strike]mit dem[/strike] [blue]beim[/blue] besten Willen nicht mehr in den Sinn kommen will.
Unser zweites Zusammentreffen geschah in einer Bar, in der ein Pianist weinte vor Rührung oder Schmerz. Wir waren alle in vornehmer Kleidung, die dem Anlass gerecht werden sollte, als wir mit unseren bis zum Rand gefüllten Gläsern beinahe zusammenstie[blue]ß[/blue]en. Sie hielt sich [blue]die[/blue] Hand vor den Mund, um nicht laut loszulachen, und ich wollte meine Stimme schon zu einer Frage erheben, als ich bemerkte, dass [blue]sich[/blue] durch den abrupten Halt, der diesen Zusammensto[blue]ß[/blue] verhindert hatte, der Inhalt meines schmalen Champagnerglases [strike]sich[/strike] über mein Hemd ergossen hatte.
«Du siehst aus wie damals im Regen», bemerkte sie mit einer Vertrautheit, die einen zufälligen Zuhörer zu der Annahme hätte verleiten müssen, wir wären gute Bekannte, wenn nicht gar Freunde. Ich wusste nicht, wie ich ausgesehen hatte, damals unter dem Dachvorsprung, als mir das Hemd am Körper klebte, ich wusste aber sofort, wem diese Stimme gehörte, die zu mir bisher nur die Sätze «Hallo, ich heisse Daria» und «Du siehst aus wie damals im Regen» gesprochen hatte. Ein Mann, der wohl hinter ihr gegangen war, betupfte mich nun mit einer Serviette oder einem Taschentuch, obwohl ich höflich ablehnte, und Daria stellte mich ihm mit meinem Vornamen vor, was ihn zu einem Stirnerunzeln verleitete, nein, er kenne mich noch nicht. So hatten Daria und ich unsere erste Gemeinsamkeit, unser erstes Geheimnis, das nur auf zwei Zufälligkeiten beruhte und nichts mit unseren Biographien zu tun hatte, die uns ohnehin gänzlich unbekannt waren. Im Stehen noch verwickelte mich der Mann, der mich nun glücklicherweise nicht mehr betupfte, in ein Gespräch, wohl in der Annahme, einen alten Bekannten seiner Begleiterin vor sich zu haben. Die Männer meiner Gruppe schielten zu uns herüber, ihre Blicke tasteten fragend die beiden Fremden ab, mit denen ich mich scheinbar zwanglos amüsierte. Dann nahm mich Daria unvermittelt bei der Hand und führte mich in einen Saal, wo andere Musik [blue]gespielt[/blue] wurde und die Leute dazu tanzten. Während dem folgenden Tanz verga[blue]ß[/blue] ich Zeit und Raum, was dem tatsächlichen Universum unserer Beziehung wohl sehr nahe kam, doch als ich für kurze Zeit die Augen schloss und mich im freien Fall wähnte, löste sie sich von mir und ich konnte sie den ganzen Abend nicht mehr auffinden.
Ich muss eingestehen, dass ich in der Folge nicht versuchte, ihren Familiennamen [blue]in Erfahrung zu bringen[/blue] oder mich sonst [blue]in irgendeiner Weise[/blue] in ihre Welt einzumischen. In Wahrheit hatte ich fast keine Erinnerungen an die zwei kurzen Begegnungen. Sie schienen mir wie das flammende Licht einer Sequenz aus einem Traum, der sich plötzlich ohne Vorwarnung an die Oberfläche unseres Bewusstseins bringt. Und doch war unsere dritte Begegnung so unvermeidbar, wie alle Erinnerungen unvermeidbar irgendwann wieder angespült werden. Daria trug einen Sonnenhut, wie hätte ich sie erkennen können, es war nicht mehr im selben Sommer, als das Wetter uns den ersten Streich unserer Begegnung spielte. Auf einem Platz, auf dem ein Markt abgehalten wurde und der nach Jasmin roch, obwohl ich [blue]nirgends[/blue] eine solche Pflanze entdecken konnte, besah sie sich mit viel Geduld die Früchte, die feilgeboten wurden und scheinbar darauf warteten, von Damen in Sommerhüten gekauft zu werden. Ich erkannte sie nicht, obwohl sie direkt neben mir stand, aber es war der [blue]unvermeidliche[/blue] Gang unserer Geschichte, dass sie mich mit Sätzen überraschen sollte wie[blue]:[/blue] «Wunderbar, dieses Obst, findest Du nicht?» [blue]Achte auf die Interpunktion![/blue], und dass mich diese Sätze in eine Zeit versetzen, die entgegen der unerschütterlichen Weltzeit zu laufen schien. Wir bummelten über den Markt, Arm in Arm, als hätten wir nie etwas anderes gemacht, lachten über die Gaukler, diese Weltreisende[strike]n[/strike], die ich beneidete ob ihrer Ungebundenheit. Als wir uns zum Abendessen in ein Restaurant begaben, spürte ich zum ersten Mal dieses Gefühl, ein kurzes Aussetzen meines Herzschlages, als ich mir ausmalte, dass dieser Teil meiner Wirklichkeit gar nicht geschehen könne. Ich sah verstohlen zu diesem Wesen hinüber, das ich noch nie mit Tiefe betrachtet hatte, [blue]Wie bitte? Diese Spannung zwischen den Beiden und er hat sie noch nie richtig angesehen?![/blue] und Daria senkte den Blick, aber schon erhellte eine Idee ihre Züge, sie lachte hell und frage mich: «Magst Du mich noch ein Stück begleiten?» Und da mir die letzten Stunden angesichts der Zeitspanne unserer Bekanntschaft schon mehr als eine Ewigkeit vorgekommen waren, konnte ich mir kaum vorstellen, irgend etwas anderes vorzuhaben in meinem Leben, also begleitete ich Daria durch die Gassen, bevor sie mich, an eine Mauer [blue]gelehnt[/blue], zärtlich küsste. Und noch während ich mich von ihrer Wärme umhüllt wähnte, verschwand sie hinter der nächsten engen Ecke der dunklen Gasse[strike]n[/strike], fortgeweht, ein sommerlicher Abendwind, nach dem man sich vergebens zurücksehnt.
Nach dieser letzten Begegnung war nun etwas in mir erwacht, das nebst Sehnsucht auch eine Art Bitterkeit in sich trug. So sicher ich nun wusste, dass ich sie irgendwo auf dieser Welt wieder treffen würde, so sicher war ich mir auch, dass diese Treffen nie länger dauern würden als die Zeit, die wir brauchten, um die banalen Handlungen, die ein Wiedersehen mit sich bringen, zu erfüllen. Wie die gusseisernen Glockenschläger auf einem venezianischen Turm, welche zu jeder Stunde die selben Kreise vollführen, so würden auch wir jeweils die selben Phrasen wiederholen, uns die selben Episoden wieder erzählen. So nahm ich mir vor, der nächsten Begegnung einen anderen Verlauf aufzuzwingen. Aber so sicher wie sich das Schicksal die Weichen seiner Geschichten durch den Zufall stellen lässt, um ja nicht in den Verdacht der Berechenbarkeit zu geraten, so sicher hätte ich sein sollen, dass die vierte Begegnung die für mich bis [blue]dahin[/blue] verwirrendste sein würde. Wir trafen uns ausgerechnet bei einem Ausflug, den ein Bekannter für Geschäftsfreunde organisiert hatte und für dessen erfolgreichen Verlauf ich meinem Bekannten Hilfe angeboten hatte. Ich konnte nicht ahnen, dass einer dieser Geschäftsfreunde der Mann war, der mir einige Monate zuvor mit seinem Taschentuch die Champagnerflecken vom Hemd getupft hatte. Er begrü[blue]ß[/blue]te mich, erfreut darüber, ein bekanntes Gesicht unter den mehr als zwanzig Frauen und Männern zu entdecken, die sich diesen Anlass teilten. Unter den Gästen befand sich auch Daria. Weil ich sie in Begleitung wähnte, traute ich mich nicht, sie an unsere letzte Begegnung in d[blue]er[/blue] dunklen Gasse[strike]n[/strike] zu erinnern, weder mit Worten, noch mit Blicken. Da auch sie mit keiner Geste auf dieses Geschehnis aufmerksam machte, schien diese vierte Begegnung für mich zur Enttäuschung zu geraten. Doch gegen Abend, wir hatten alle schon reichlich getafelt, führte uns ein kurzer Spaziergang eine[blue]n dunklen, von außen[/blue] nicht einsehbaren Wald entlang. Ich spürte, wie mich jemand bei der Hand nahm und mich in Richtung dieser vermeintlich undurchdringbaren Büsche zog. Ich hatte nicht bemerkt, dass Daria hinter mir gegangen war, aber ich liess mich trotz meiner Überraschung leicht von ihr entführen. Wie wundersam mir diese Welt nun vorkam, wie seltsam unwirklich dieser Wald, wie er roch, ein wilder Kosmos, turmho[blue]h[/blue]e knorrige Bäume, die kaum ein Licht durchscheinen lie[blue]ß[/blue]en. Nun gingen wir nicht mehr, sondern rannten, rannten durch die Büsche, die nach mir schlugen und an meinem Haar zerrten. Ich begann zu lachen, ein kannibalisches, ungestümes Lachen, das mehr dem eines vorzeitlichen Monstrums glich als einem menschlichen Wesen, und nun hörte ich auch Daria [blue]aus der[/blue] Ferne lachen, es klang weitaus angenehmer und heller als das meine, keinem plötzlichen Urinstinkt folgend. Wir rannten weit, kein Weg war zu erkennen, dann erschöpfte sich mein Atem, ich musste nach Luft ringen und hechelte wie ein erschöpfter Hund. Daria blieb stehen und betrachtete mich verwundert, wie einen seltsam fremden Gegenstand, der nicht in die unsere physikalische Welt einzuordnen ist. Dann lehnte sie sich an einen Baum und küsste mich wiederum zärtlich. Aber diesen Kuss konnte ich nicht erwidern, einerseits fehlte mir der Atem, andererseits war ich gewappnet. Ich hatte nicht vor, sie wieder so einfach entwischen zu lassen. [blue]Aha, und da will er sie nicht küssen?![/blue] Denn nun loderte ein Feuer in mir, das mein Blut erhitzte und mein Herz zu sprengen drohte, und was anfangs nur als eine Episode, der niemals ein Denkmal errichtet werden sollte, begonnen hatte, brannte nun wie ein Cocktail aus Glückseeligkeit und Verzweiflung und verätzte mir die Kehle. Inzwischen [blue]war die Dämmerung hereingebrochen[/blue] und mich befiel eine Art geisterhafter Panik. «Daria», platzte es aus mir heraus, «geh jetzt nicht! Ich liebe Dich!» Und noch während ich meine Worte hörte, wusste ich um ihre[strike]r[/strike] Torheit. Nie hatten wir unsere Gedanken ausgetauscht, hatten Pläne geschmiedet, wussten nicht einmal unsere Familiennamen, geschweige denn unsere Adressen. Wie zur Bestätigung meiner Überlegungen löste sie sich sanft von mir, bedachte mich mit einem milden Lächeln und verschwand zwischen den dichten Sträuchern des dunklen Waldes, als wäre sie ein Reh, das behende jedem Verfolger entkommt.

In den nächsten Tagen sah ich ihr Gesicht bei all meinen Besorgungen, in allen Spiegeln, aus allen Schaufenstern blickte mir lächelnd aber stumm Daria entgegen. Ich hatte es noch am selben Abend gewagt, ihren Begleiter nach ihrem festen Aufenthaltsort zu fragen. Zu meinem Erstaunen aber konnte er mir keine solchen Angaben machen, er meinte nur, manchmal treffe er sie bei solchen Anlässen wie diesem hier.
Erst Tage später wurde mir bewusst, dass mir Darias Welt entglitten war. Wie die Gewissheit, dass unsere Zeit uns auch ohne unser Zutun davoneilt, so wusste ich, dass ich Daria nie mehr auf duftenden Marktplätzen antreffen würde. Und obwohl jeder dieser Plätze mein besonderes Interesse weckte, schwand die Hoffnung auf ein Wiedersehen mit jedem Tag, an dem ich ihre Worte neben mir zu hören glaubte und mich jedes Mal irrte. Bis ich langsam ihr Bild in mir verlor und nur noch den Klang ihres Namens durch den dampfenden Nebel hörte.

 



 
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