Das Amazonengericht

Andrea

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Die schweren Eichenflügel der Tür schwangen nahezu geräuschlos auf. Fahler Lichtschein erhellte die blank gescheuerten Platten und breitete sich wie ein einladender Teppich vor Eva aus. Sie folgte dem Lockruf der Stille zögernd, ohne so genau zu wissen, was sie denn vor dem Richterstuhl erwartete. Sie war lediglich der Vorladung gefolgt, die auf geheimnisvollem Wege in ihren Briefkasten gelangt war.
Ihre Absätze klapperten auf den Fliesen, als Eva um Würde bemüht auf die Schatten zuging, die am Ende des Lichts zu erkennen waren. Schon nach den ersten Schritten wurde sie sich bewußt, daß rechts und links des Ganges Stuhlreihen waren, von denen aus sie neugierige Augenpaare beobachteten, und sie sandte ein freundliches, aber unverfängliches Lächeln ins Halbdunkel. Beinahe hatte sie das Gefühl, als seien ihr die Schatten nun wohlgesonnen, wußten jetzt, daß sich hier ein menschliches Wesen rechtfertigen würde und nicht eine Schuldige.
Am Ende des Ganges bildete das Licht einen Halbkreis, hinter dem sich ein hoher schwarzer Katheder erhob: der Richterstuhl, wie Eva erkannte. Er war höher, als sie geglaubt hatte, wie eine unbezwingbare Klippe ragte er aus der Finsternis, und selbst wenn sie den Kopf in den Nacken legte, konnte sie nicht das Gesicht desjenigen erkennen, der dort oben thronen und über Recht und Unrecht entscheiden konnte. Allein die Gewißheit, daß sich auch dort Schatten bewegten, daß strenge Blicke starr auf sie gerichtet waren und sie nicht einen Sekunde verlassen würden, solange sie hier stand, ließ Eva grüßend nicken und halb in einen demütigen Knicks versinken.
„Guten Tag.“ Aus dem Zwielicht trat ein schlanker Mann mittleren Alters, die Haare zurückgegelt, gekleidet in einen akkuraten schwarzen Zweireiher. Schon die unverbindliche Miene verriet den Staatsanwalt, den Vermittler, der sich alle Optionen offen halten wollte. Eva setzte eilends dazu an, den Gruß zu erwidern, doch ehe auch nur ihr Gehirn den Befehl dazu an ihre Stimmritzen weitergeben konnte, fuhr der Staatsanwalt auch schon fort.
„Der Grund, weswegen wir uns heute hier versammelt haben, sind die Fortschritte der Frau in der heutigen Zeit, der wachsende Anteil von berufstätigen Frauen, auch Müttern, der bedächtige Wandel der Sprache, die wachsenden Freiheiten in puncto Berufswahl und Charakterbildung. Ein neues Jahrtausend hat begonnen, und die Frau wird nicht umhin kommen, eine neue Position zu beziehen.
Nun sind wir auch an Ihrer Meinung dazu interessiert. Sind Sie bereit, sich dazu zu äußern?“
Panik spiegelte sich in Evas Augen, während ihre Gedanken sich bei dem Versuch überschlugen, einen Grund zu finden, weshalb sie sich diesen Vorwürfen stellen mußte. Denn daß die Vorwürfe, kaum daß sie den Mund aufmachte, schon beginnen würden, daran zweifelte Eva nicht einen Augenblick. Sie mußte irgendwann, bei irgendeiner Gelegenheit den Eindruck erweckt haben, sie gehörte zu denen, zu der Innenfraktion, die an jedes Wort ein -innen hängten. Zu den Fanatikern, die nach Quoten schrien und überall und nirgends ihre ungepuderten Nasen reinstecken wollten. Die am liebsten die ganze Welt umgeworfen und nach einem neuen Schema wieder aufgebaut hätten, einem Schema, in dem Kindergartenplätze und mit Quoten regulierte Gleichstellungsgesetze eine große Rolle spielten.
Aber was konnte es nur sein, was sie, Eva, eine ganz normale moderne Frau, die mit diesen Spinnereien weder etwas zu tun hatte, noch es irgend wollte, was sie also in solch schrecklichen Verdacht hatte stellen können? Hatte sie einmal zu lange zur Emma geschielt, ehe sie „Die Frau im Spiegel“ gekauft hatte? Oder hatte sie, als sie das letzte Mal bei einer Beförderung übergangen worden war, ein zu eingeschnapptes Gesicht gezeigt, anstatt freundlich lobend zu lächeln? Oder – Eva erschrak. War sie gar aufmüpfig geworden? Hatte sie sich das männlichste Recht von allen herausgenommen, anderen offen die Meinung zu sagen, selbst wenn sie nicht mit Freuden aufgenommen werden würde?
Eva wurde sich plötzlich wieder bewußt, daß noch immer alle Augen auf sie gerichtet waren, selbst, oder besser: gerade jene, die sie nicht erkennen konnte, und daß der Staatsanwalt noch immer auf ihre Antwort wartete. Wollte sie nicht noch länger im Mangellicht des Feminismus‘ erscheinen, mußte sie langsam etwas zu ihrer Verteidigung hervorbringen.
„Meine Herren“, begann sie mit einem verbindlichen Lächeln. „Mir scheint, hier liegt eine Verwechslung vor. Gewiß bin nicht ich es, mit der Sie sprechen wollen. Denn sehen Sie, meine Meinung zu diesem Thema wird sich nicht so sehr von der Ihren unterscheiden.
Ich frage mich häufig, was dieser künstlich aufgebauschte Heckmeck eigentlich soll, Mann, Frau, Frau, Mann – wir sind doch alle erwachsene Menschen, und keiner von uns kann mit Recht behaupten, unterdrückt zu werden! Früher einmal mag das anders gewesen sein, aber diese Zeiten sind doch längst Geschichte geworden.
Die Unterschiede, von Gott und der Natur gegeben, sind keine Rätsel für den Menschen, die es zu Lösen gilt! Ich bin sehr froh, eine Frau zu sein, und es schwächt mich nicht in meiner Weiblichkeit, einen Mann dafür zu loben, daß er etwas sehr gut macht. Und seien wir doch ehrlich: Die Männer erledigen ihre Aufgaben sehr gut! Ohne zu lügen darf ich, glaube ich, behaupten, daß unter den Sportlern, den Wissenschaftlern, den Politikern und den Künstlern es die Männer in ihrer rationalen, selbstsicheren Art sind, welche die Spitzenplätze nicht nur einnehmen, sondern auch verdienen. Wir Frauen mit unserer Gefühlsduseligkeit, unserer Emotionalität würden ja doch alles durcheinander bringen.“ Eva lachte gewinnend. „Nein, nein, wenn eine klare Entscheidung getroffen werden muß, dann ruft man am besten einen Mann, das habe ich schon immer gesagt.
Jeder hat halt seine eigenen, persönlichen Stärken. Ich zum Beispiel liebe Kinder. Und glauben Sie mir als Frau, es gibt doch nichts Erhabeneres als die Fortschritte der eigenen Brut mitzuerleben, wie sie wächst und gedeiht. Und ich koche ja auch sehr gerne, und..“
„Sei endlich still.“ Es war kein Schrei, es wurde nicht gebrüllt, und es klang weder aggressiv noch eingeschnappt, eher resigniert und enttäuscht. Aber es kam eindeutig aus dem Zwielicht auf der Spitze des richterlichen Katheders. Und die Stimme war erschreckend hell, zu hell für die eines Mannes.
Im selben Moment, als sie die weiche, traurige Stimme hörte, fiel es Eva wie Schuppen von den Augen. Endlich wußte sie, vor wessen Kadi sie geraten war: ein Amazonengericht! Eva hatte schon von ihnen gehört, diesen Hardcore-Emanzen, die ihre knochigen, maskulinen Leiber in Männerkleidung steckten, und dennoch am liebsten jeden Vertreter des anderen Geschlechts um eben dieses gebracht hätten. Die schlimmsten von allen, die den Neid, den sie auf die echten Weiber unter den Frauen verspürten, in niederen Penisneid und Männerhaß umwandelten, damit sie sich morgens in die häßliche und feige Visage blicken konnten. Und diesen Rebellen gegen die natürliche Rolle von Mann und Frau, gegen die Gesetze ihrer Gesellschaft war sie, Eva, die alle Ideale einer wahrhaften Frau erfüllte, jetzt ausgeliefert.
Was würde wohl mit ihr geschehen? Würde man ihr die Brust abschneiden zum Zeichen ihrer Schande? Ihr das Gesicht zerkratzen? Ein Schuldig auf die Stirn tätowieren oder gar das schöne lange Haar abschneiden? Eva stand der Angstschweiß auf der Stirn, und die ersten Anzeichen einer Ohnmacht kündigte sich an, als einmal mehr Unerwartetes geschah.
Eine Frau trat in den lichten Halbkreis vor dem Richterpult, und Eva ächzte leise. Die schwarze Robe ließ keinen Zweifel darüber, daß hier die Richterin selbst vor sie trat, doch vom Gesicht, von der Frisur und ihrem Auftreten unterschied sich diese Person so gar nicht von den bewunderten und beneideten wunderbaren Wesen, die Eva aus dem Fernsehen, von der Kinoleinwand oder von den Titelblättern ihrer Boulevardzeitschriften herab anblickten und verschwörerisch zuzuzwinkern schienen. Nur daß diese Frau nicht lächelte. Ernst, mit einer Spur Wehmut in den anmutigen Zügen musterte sie Eva, der schamhaft bewußt wurde, daß mit diesem Auftritt jede Verteidigungsrede ihrerseits ad acta gelegt werden mußte. Denn wie sollte sie sich gegen dieses Traumbild verteidigen? Wie sollte sie jemanden angreifen, der mit seiner Anmut, seinem Stolz und seinem Selbstbewußtsein all das verkörperte, was sie sich schon so lange so sehnlich wünschte? Nein, Eva blieb nur eine Wahl: sich zerknirscht in ihr Schicksal zu fügen und das Urteil über ihr gedankenloses Geschwätz von eben ertragen.
„Was werden Sie jetzt mit mir tun?“ krächzte sie heiser und schluckte mühsam die Angst herunter, die ihr die Kehle zuschnüren wollte.
Die Richterin betrachtete Eva lange, ehe sie traurig den Kopf schüttelte. „Was sollen wir noch mit dir machen, Schwester?“ seufzte sie. „Dein Urteil hast du selbst gefällt und dein Gefängnis dir selbst geschaffen.“
Ohne ein weiteres erklärendes oder tröstendes Wort tippte sie der sprachlosen Eva sachte zweimal gegen die Stirn, ehe sie mit einem ruhigen Lächeln auf den Lippen an ihr vorbei aus dem Gerichtssaal schritt. Die Schöffen, der Ankläger und die Beisitzer folgten der Richterin wortlos, bis Eva allein im fahlen Licht stand und die Tür sich lautlos schloß.
 

Sensiro

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Der eine fragt: Was kommt danach?
Der andere fragt nur: Ist es recht?
Und also unterscheidet sich der Freie vom Knecht.
(Theodor Storm)

Ich mag Deine Geschichte, denn sie steht für die Ziele aller freien Menschen oder denen, die es noch werden wollen.
 



 
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