Das Augenklappendrama.

pleistoneun

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Der 53-jährige Rezeptionist Franz mit Augenklappe wurde von den Hotelgästen gemieden, weil es seine Angewohnheit war, Unterhaltungen stets mit hochgehaltener Augenklappe zu führen. Es ist unhöflich, mit Augenklappe zu sprechen, hatte er irgendwann mal in einer Zeitschrift gelesen. Da sein Leben aber von einer buchstäblich einseitigen Betrachtungsweise der Dinge geprägt war, entging ihm der Rest, die rechte Hälfte des Artikels. Und so lebte er im guten Glauben, stets höflich und korrekt zu handeln, wenn er bei Unterhaltungen seine Augenklappe lüftete. Entsetzt wandten sich die Hotelgäste von dem grauenvollen Blick der dunklen Augenhöhle ab. Franz war diese Reaktionen gewohnt, kannte nichts anderes, sah alles halb so wild. Ja klar, halb so wild, die andere Hälfte blieb ihm zum Glück ja verborgen.

Eines Tages kam ein italienischer Bus mit neuen Gästen angefahren. Darunter befand sich ein Mann, der ebenfalls eine Augenklappe trug. Zum Gruß, wie es unter Augenklappenträgern traditionell üblich ist, öffneten sie gegenseitig ihre Klappen. Und als Franz das bei dem Fremden tat, traute er seinem Auge nicht: in der Augenhöhle des Italieners hingen kleine, vergoldete Anhänger von der Augenhöhlendecke, sogenannte Augoliten. Winzige Möbelstücke und Miniaturmenschen machten das Innere der Augenhöhle beinah lebendig. Und es war ihm, als würde er an den Augenwänden links und rechts klitzekleine Bilderchen hängen sehen. Der Italiener hatte sich sein Auge schön eingerichtet. Franz war restlos begeistert. Zum ersten Mal wusste er, was mit dem Auspruch gemeint war: "Die Augen sind der Spiegel der Seele". Der Mann musste eine wahrlich gute Seele sein.

Der Italiener sah die Begeisterung des Rezeptionisten und wusste, hier würden ihm alle Wünsche von seinem Auge abgelesen werden. Er bat um ein straßenseitiges Zimmer. "Einen Augenbllick", sagte Franz spaßig und überreichte mit beiden Händen und einer kleinen Verneigung den Zimmerschlüssel. Der Italiener nahm seinen Koffer und ging nach oben. Er legte das Gepäck aufs Bett, schob die Vorhänge auf, um zu sehen, ob er von hier aus eine gute Perspektive auf die Straße hätte. Er war zufrieden und blickte auf die Uhr. Nur noch wenige Minuten...

In der Zwischenzeit bemerkte Franz an der Rezeption, dass der Italiener in der Hektik vergessen hatte, die Aufenthaltsliste zu unterschreiben und suchte aus diesem Grund das Zimmer des Italieners auf. Er klopfte leise und trat freudig mit der Liste in der Hand ein...

Der Schuss fiel um exakt 15:34 Uhr und traf sein Ziel am linken Auge. Das Opfer fiel mit blutendem Auge zu Boden und nur wenige Minuten danach traf der erste Augenklappenarzt ein, der auch schon ein passendes Teil mit dabei hatte. Welch ein Zufall! Der Italiener war in Wirklichkeit Augenklappenverkäufer und da sein Geschäft schlecht ging, musste er mit solchen Mitteln seinem Umsatz etwas nachhelfen. Rezeptionist Franz, der alles einäugig mitangesehen hatte, konnte es nicht fassen. Dieser sympathische Italiener - so ein netter Mensch, nein, das konnte nicht sein. Jemand, der sein Auge so wunderschön einrichtet, kann im Grunde seines Charakters nicht schlecht sein.

Der Italiener reiste noch am selben Tag ab. Bei der Schlüsselrückgabe standen sie sich wieder gegenüber und Franz traten Tränen der Gerührtheit über den Abschied in sein Auge. Wortlos packte der Italiener seinen Koffer und ging. Franz würde ob des Vorfalles sein Auge für den Mann zudrücken und das tat er auch, so dass eine dicke Träne über sein Gesicht lief.
 



 
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