Das Bild

nemo

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Setzt euch mes amis, ich habe von einem traurigen Fall zu berichten. Doch lasst mir erst ein gutes Glas Wein einschenken und mich am Feuer des Kamins wärmen.
Ich habe eine lange und beschwerliche Reise hinter mir und meine Knochen wünschen sich nichts mehr als ein weiches Bett, doch die Geschichte die ein alter ehrwürdiger Priester mir in der Kutsche auf dem Wege zu ihnen erzählt hat, erschüttert mich zutiefst und ich muss es mir einfach von der Seele reden. Die Ereignisse nahmen ihren Lauf vor ungefähr dreißig Jahren in Paris. Ein junger Maler, Raymond Leblanc, vielleicht haben sie schon von ihm gehört, gerade zwanzig Jahre alt geworden war, wie es bei jungen Künstlern oft der Fall ist, dem dekadenten Nachtleben unserer schönen Hauptstadt verfallen. Er trank, liebte und lebte. Eines morgens wachte er auf, mit einem Kopf schwer wie ein Sack Mehl. An das, was ihm die letzte Nacht widerfahren war, konnte er sich kaum entsinnen. Seine Erinnerrungen waren ein Wirbel von Gesang, Gelächter, weichen Frauenbrüsten und Wein. Ganz behutsam stieg er aus seinem Bett. Leblanc bewohnte ein kleines Dachgeschoss-Zimmer in Pigalle; spärlich eingerichtet war sie, mit einem Schrank, einem Bett und einer Waschecke. Unter dem einzigen Fenster des Raumes war sein Atelier; es bestand eigentlich nur aus einigen Staffeleien und einem alten Tisch, der unter dem Gewicht des Durcheinander von Farben, Leinwänden, Pinseln und dreckigen Tüchern, jeden Augenblick in sich zusammen zu brechen drohte. Es war ein kalter Morgen und der alte Holzofen war mangels Brennmaterial ausgegangen. Leblancs Blick wanderte durch das karge Zimmer und blieb bei einer seiner Staffeleien hängen; dort stand ein Bild das er bisher noch nie gesehen hatte. Er ging, mit verwunderte Miene und barfuss auf das Bild zu. Der Boden strahlte, von der darunter gelegenen Wohnung, eine angenehme Wärme aus. Leblanc blieb vor dem Bild stehen und musterte es. Es war ganz klar sein Stil, seine Pinselführung und seine Signatur die am unteren Teil des Bildes zu erkennen war. Er dachte angestrengt nach, konnte sich aber nicht bewusst erinnern dieses Ölbild jemals gemalt zu haben. Umso erstaunlicher war es, dass er, der eigentlich Landschaften und Gebäude zeichnete – er verdiente sein Brot mit dem Malen von Pariser Wahrzeichen, wie den Champs Elysée, und dem Verkauf der Bilder an Touristen – solch ein gelungenes Porträt hervor gebracht hatte. Es zeigte eine wunderschöne Frau mit langen dunklen Haaren, großen fragenden Augen und einem Lächeln zart wie die ersten Frühlingsknospen. Im Hintergrund war ein Rosenbeet zu sehen, in einem satten Rot gehalten. Je länger er das Bild betrachtete, desto tiefer versank er in das feenhafte Gesicht. Es geschah nun etwas das sein ganzes Leben verändern sollte: er verliebte sich. Er sah es als ein Zeichen Gottes, dieses Mädchen ausfindig zu machen und um ihre Hand anzuhalten. Er wusch sich, warf seinen Mantel um und eine lange Suche nahm ihren Anfang. Schwer gezeichnet vom fehlenden Schlaf durchzog er, die darauf folgenden Wochen, die Strassen von Paris. Oft meinte er, die Frau zu entdecken, wurde von einem unglaublichen Wohlgefühl überwältigt, nur um Sekunden später in ein tiefes Loch zu fallen als er bemerkte, dass er sich die Ähnlichkeit nur eingebildet hatte.
Monate vergingen und die Jahreszeiten zogen an Leblanc vorbei, wie ein Schwarm Zugvögel auf dem Weg in den Süden. Er aß kaum noch und verlor rapide an Gewicht. Die Zweifel zerfraßen ihn von innen heraus und er wurde immer mehr zu einem Schatten seiner Selbst. Die Suche verlief immer noch erfolglos. Das Malen hatte er aufgegeben, denn für einen Künstler ist das Herz wichtiger als jedes Talent und dort, wo sich einst das seine befand, war nur noch ein schwarzer Klumpen unerfüllter Hoffungen. Eines tristen Herbstabends entschied er sich dann, sich das Leben zu nehmen, denn die Suche hatte ihn ausgelaugt und jegliche Lebensfreude war von ihm gewichen. Er betrachtete noch einmal das Bild das er so oft schon zerschmettern wollte, wobei es ihm jedes Mal an der nötigen Konsequenz und dem Mut mangelte. Er drehte es um, befestigte ein Seil an einem der Dachbalken und stellte sich auf einen Stuhl, den er, nachdem er sich die Schlinge um den Hals legte, zur Seite stieß. Dass er sein Vorhaben überlebte, verdankte er vor allem dem Alter des Gebäudes. Der morsche Balken ächzte und brach. Leblanc stürzte zu Boden und ein Teil des Balkens auf seinen Schädel. Zum Glück vernahm seine Nachbarin den Lärm, fand ihn bewusstlos im eigenen Blut liegend und holte Hilfe. Nach diesem Vorfall lernte Leblanc schleppend, wieder zu leben. Das Bild landete unter dem Bett, denn er konnte es nicht übers Herz bringen es zu verkaufen oder gar zu vernichten. Er bekam einige Aufträge von einem hochgestellten Stadtbeamten und machte sich allmählich einen Namen als Landschaftsmaler. Er verfiel der Arbeit, die ihm half zu vergessen. Er kaufte sich ein Haus außerhalb der Stadt, ehelichte Julie Fontaine, die Tochter eines Richters, und einige Monate nach der Hochzeit wurden sie zu einer richtigen Familie als ihr erstes und einziges Kind, Gisele, geboren wurde. Er lernte Julie bei einer Theatervorstellung kennen - eine Truppe aus Marseille spielte „Der eingebildete Kranke“ von Moliere – und während Leblanc sich während der Pause mit dem Regisseur des Stücks unterhielt, fiel ihm eine schwarzhaarige Schönheit auf, die schüchtern an einem Glas Champagner nippte. Es war zweifelsohne eine gewisse Ähnlichkeit zu der Frau des Bildes vorhanden. Julie Fontaine hatte langes schwarzes Haar und große nussbraune Augen, ihre Haut hatte einen natürlich blassen Teint und ihr unsicheres Lächeln strahlte solch eine Sanftheit aus, dass es um Raymond geschehen war. Er machte ihr in den nächsten Wochen, nach jeder Regel der Kunst, den Hof und hielt eines Abends, nach einem ausgiebigen Mahl in einem edlen Pariser Restaurant, um ihre Hand an. Julie weinte und sagte, schluchzend vor Glück, zu. Leblanc verbrachte die nächsten acht Jahre ein glückliches Familienleben. Doch eines Tages, als er auf dem Dachboden nach etwas suchend, auf das Bild stieß, riss die Wunde in seiner Seele erneut auf und er verfiel wieder in einen Zustand der tiefen Trauer. Er stellte das Bild in das eheliche Schlafzimmer und seiner Frau blieb sein plötzliches, seltsames Verhalten nicht verborgen. Nach etlichen Disputen mir ihrem Mann, wurde ihr allmählich klar, dass Raymond sie nur wegen der Ähnlichkeit zu einer Frau liebte, die er im Alkoholwahn gemalt hatte. Sie verließ sie ihn, und zog mit ihrer gemeinsamen Tochter zurück nach Paris. Als sie von der Kutsche abgeholt wurden blickte ihr Leblanc ihr, aus dem Fenster seines Arbeitszimmers, nach. Es war das letzte Mal, dass er sie sah. Wie eine Schnecke zog er sich zurück und verließ sein Haus nur noch für seine täglichen Spaziergänge im Garten. Zur Scheidung schickte er seinen Anwalt, der später immer mehr zu seinem einzigen Kontakt zur Außenwelt werden sollte. Seine Kunst wurde dunkler und depressiver, eine Tatsache die ihn von den vielen anderen Künstlern der Stadt abhob, die dem Geschmack der Zeit folgend, helle und lebenslustige Bilder malten. Seine Schöpfungen wurden, gerade in vornehmen Kreisen, sehr gefragt. Er lebte wie ein Eremit, eingeschlossen in den Mauern seines Anwesens. Die einzigen Menschen die er sah, waren sein Anwalt und die Bediensteten. Er hatte den Ruf eines verschrobenen und exzentrischen Künstlers. In seinem Garten hatte er Rosen anbauen lassen und oft saß er dort, starrte stundenlang auf den roten Blumenteppich. Fünfzehn Jahre vergingen, nicht ohne Spuren an Leblanc zu hinterlassen. Er war dürr geworden, wie eine Gerippe und sein Haar hatte die Färbung von Neuschnee angenommen, und das, obwohl er noch nicht mal fünfzig Jahre alt war. Doch seine innere Unzufriedenheit und die Liebe zu etwas, das er nie fand, zermürbte ihn. Des Nachts konnten die Angestellten hören wie er sich in seinem Arbeitszimmer, in dem er auf einem alten Divan schlief, angeregt mit jemandem unterhielt. Natürlich war es die Frau auf dem Bild mit der er sprach und manchmal schrie er sie auch aus vollem Halse an. Kurz vor seinem fünfzigsten Geburtstag wurde Leblanc krank. Die besten Ärzte der Stadt kamen und nach gründlichen Untersuchungen, gaben sie ihm noch knapp sechs Monate zu leben. Doch Leblanc war zäh wie Ziegenleder und es dauerte weitere drei Jahre bis die Erkrankung ihn ans Bett fesselte. Aber keiner kann seinem Schicksal entfliehen und so kam es dann, dass eines Tages ein Priester für die letzte Ölung gerufen wurde; genau der Priester, dem ich auf dem Weg von Paris hierhin begegnete und der mir diese Geschichte erzählte. Leblanc war kreidebleich und steif wie ein Stück Kernseife, von der Krankheit gezeichnet und dem Tod schon nahe. Der Geistliche betrachtete kurz das Bildnis einer wunderschönen Frau das über dem Bett hing, kniete nieder und fing an zu beten. Die Tür des Zimmers wurde geöffnet und eine junge Dame betrat den Raum. Sie stellte sich vor als Gisele Leblanc, Raymond Leblancs Tochter. Sie war von zierlicher Gestalt, trug ein schwarzes seidenes Kleid und bewegte sich schüchtern und grazil. Sie nahm Leblancs Hand in die ihre und eine Träne rollte über ihr errötetes Gesicht, ein Gesicht, das dem auf dem Ölbild, über Leblancs Totenbett, glich wie eine Zwillingsschwester. Raymond Leblanc spürte die sanfte Berührung seiner Hand und öffnete ein letztes Mal die Augen. Er verstarb mit einem Lächeln auf den Lippen.
So mes amis, vielen Dank, dass ihr, zu so später Stunde noch die Geduld hattet, mir zuzuhören. Ich fühle mich nun erleichtert und müde. Es ist Zeit zu Bett zu gehen, denn morgen erwartet uns ein geschäftiger Tag. Gute Nacht und danke für den wohlschmeckenden Wein.
 



 
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