Das Böse

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Anonym

Gast
Sei gegrüßt, Wanderer! Du hast mich gesucht. Du hast dich in die Welten getraut, die nicht für dich bestimmt waren, nur um mich zu finden. Warum?

Du suchtest mich unter den Toten. Du warst auf den Friedhöfen und liefest die unendlichen Reihen entlang, immer wieder zurückkehrend, immer wieder hoffend, du würdest meinen Namen im Stein entdecken. Du standest auf den Grabhügeln deiner Vorfahren und schrieest nach mir. Ich hörte dich, Wanderer. Aber ich war nicht unter den Toten, also schwieg ich und ließ dich weiter suchen.
Du hast mich unter den Lebenden gesucht. Du warst auf den Märkten und suchtest die Gesichter der Menschen nach meinen Zügen ab. Weißt du, dass sie dich für einen Verrückten hielten? Wie du verwirrt und verwahrlost unter der Menge taumeltest, die Marktfrauen an den Ärmeln zogest und denen in die Augen blicktest? Wie ein verlorener Hund, der verbittert nach seinem Herrn schnüffelt, seine Spur aufnimmt, um sie kurze Zeit später mit seiner alten Nase wieder zu verlieren. Ich war nicht unter den Lebenden, also schwieg ich und ließ dich weiter suchen.
Du fandest mich nicht. Und doch war ich immer bei dir. In einem Vogelschwarm war ich, der sich aus dem Kornfeld erhob, als du auf dem Grabhügel standest und nach mir schrieest. In einem Reh war ich, das du schießen wolltest und das der Wind davon trug. In diesem Wind war ich auch. Ich war auf dem Markt und beobachtete dich aus den stumpfen Augen des Rindes. Ich war der Hahn, der der Marktfrau aus den Händen entglitt, als du dich wie ein Toller auf sie stürztest. Ich war der Regen, der an jenem Tag fiel und die Ernte zur Fäulnis brachte.
Ich war überall, und du sahest mich nicht. Du Narr!
Nun aber ist die Zeit gekommen, dass ich mich dir offenbare. Du selbst sehntest meine Macht herbei und suchtest den Kampf. Ich nehme deine Herausforderung an. Dies ist der Anfang deiner Reise und dies ist dein Ende.
 
L

Lotte Werther

Gast
An Anonymous

Ein packender Text. Und so ungewöhnlich im Gebrauch des Imperfekts mancher Verben.

Nur zwei Sätze sind mir zuviel:

Um das zu erfahren, was du nicht erfahren durftest? Was nutzt dir deine Erkenntnis?

Lass es doch bei der Frage nach dem Warum. Gib nicht die mögliche Antwort vor.

Lotte Werther
 

Sanddorn

Mitglied
Dein Text hat magische Anziehungskraft. Man fragt sich die ganze Zeit, wieso der Wanderer so verbissen sucht. Was ihm widerfahren sein muss, oder auch, was ihm nicht wiederfahren sein muss, dass er so verzweifelt nach dem Bösen Ausschau hält.
Gefällt mir sehr.
Nur meine ich es müsste [blue]
[/blue] heißen. Nicht
[red]Du, Narr![/red]
.
Den letzten Satz fände ich auch besser, wenn er mit einem Punkt enden würde. Als pure Feststellung und endgültig(was das ganze noch grausamer macht, finde ich und den Text abrundet).
Aber, mein Gott, das ist wirklich Firlefanz. Wie bereits gesagt: Gelungener Text mit Gänsehautfaktor!

Ich wünsche dir noch einen wunderschönen Tag,
Sanddorn
 

Anonym

Gast
Danke

Vielen Dank, Lotte!
Vielen Dank, Sanddorn!

Für Eure Begeisterung und Eure Bewertungen.
Ich habe den Text nach Euren Vorschlägen korriegiert und geändert.
 

Inu

Mitglied
Hallo Anonymous


Dein Text:
Sei gegrüßt, Wanderer! Du hast mich gesucht. Du hast dich in die Welten getraut, die nicht für dich bestimmt waren, nur um mich zu finden. Warum?

[blue]Du suchtest mich unter den Toten.[/blue] Du warst auf den Friedhöfen und liefest die unendlichen Reihen entlang, immer wieder zurückkehrend, immer wieder hoffend, du würdest meinen Namen im Stein entdecken. Du standest auf den Grabhügeln deiner Vorfahren und schrieest nach mir. Ich hörte dich, Wanderer. Aber ich war nicht unter den Toten, also schwieg ich und ließ dich weiter suchen.
Du hast mich unter den Lebenden gesucht. Du warst auf den Märkten und [blue]suchtest die Gesichter der Menschen nach meinen Zügen ab.[/blue] Weißt du, dass sie dich für einen Verrückten hielten? Wie du verwirrt und verwahrlost unter der Menge taumeltest, die Marktfrauen an den Ärmeln zogest und denen in die Augen blicktest? Wie ein verlorener Hund, der verbittert nach seinem Herrn schnüffelt, seine Spur aufnimmt, um sie kurze Zeit später mit seiner alten Nase wieder zu verlieren. Ich war [blue]nicht unter den Lebenden,[/blue] also schwieg ich und ließ dich weiter suchen.
Du fandest mich nicht. Und doch war ich immer bei dir. [red]In einem Vogelschwarm [/red]war ich, der sich aus dem Kornfeld erhob, als du auf dem Grabhügel standest und nach mir schrieest. [red]In einem Reh war ich, [/red]das du schießen wolltest und das der Wind davon trug. [red]In diesem Wind war ich auch. [/red]Ich war auf dem Markt und beobachtete dich aus den [red]stumpfen Augen des Rindes.[/red] Ich [red]war der Hahn,[/red] der der Marktfrau aus den Händen entglitt, als du dich wie ein Toller auf sie stürztest. Ich war der [blue]Regen, der an jenem Tag fiel und die Ernte zur Fäulnis brachte.[/blue]Ich war überall, und du sahest mich nicht. Du Narr!
Nun aber ist die Zeit gekommen, dass ich mich dir offenbare. Du selbst sehntest meine Macht herbei und suchtest den Kampf. Ich nehme deine Herausforderung an. Dies ist der Anfang deiner Reise und dies ist dein Ende.

Anonymous, ich hab mir mal Gedanken gemacht, wo Du laut Deinem Text das Böse gefunden hast, bzw. wo es verborgen ist. Und das ist mir dann doch rätselhaft.

Da komme ich doch sehr ins Trudeln. Ich hab Dir blau anmarkiert, wo ich mit Dir einverstanden bin, wo das Böse meines Erachtens wirklich verborgen ist und rot, wo es meines Erachtens absolut nicht sein kann. Z.Beispiel wird das Böse nie in den Augen eines Rehes sein. Unmöglich.

Dein sehr poetischer, geradezu magischer Text scheint mir dann doch in seiner Aussage irgendwie nicht plausibel. Oder ist da etwas, was Du siehst und ich nicht sehe?

Liebe Grüße
Inu
 

Anonym

Gast
Am Inu

Hallo Inu,

[red]Oder ist da etwas, was Du siehst und ich nicht sehe?[/red]

Das Böse wird bei den meisten Menschen mit Hässlichkeit, Agressivität und Zerstörung in Verbindung gebracht. Dass es auch in den schönen und scheinbar wehrlosen Dingen stecken kann, glaubt keiner.

Er wollte das Reh TÖTEN.
Der Wind trug es davon. Was empfindet ein Jäger, wenn seine Beute wegrennt? ÄRGER.
Der Vogelschwarm aus dem Kornfeld (also bisher unsichtbar)setzt sich unerwartet in Bewegung - ANGST, SCHRECK.

Ich wollte die Allgegenwertigkeit des Bösen zeigen, was nicht zwangsläufug bedeutet, dass es sich dann auch manifestiert.

Grüße

Anonymous
 



 
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