Das Dienstmädchen und die Tochter des Grafen

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1. Teil

"Ist sie nicht wunderschön?" Zärtlich strich der Graf seiner neugeborenen Tochter über das Köpfchen mit den blonden Locken und ergriff dann die Hand seiner Frau.
"Ich bin so stolz auf euch beide", flüsterte er und küsste ihr die Hand. Seine Frau lag erschöpft im Wochenbett, doch sie lächelte ihn glücklich an.
"Wie wollen wir sie denn nun nennen, Liebling?"
"Ich dachte, Charlotte sei ein schöner Name."
"Das ist wahr. Charlotte soll sie heißen", sagte er feierlich, "Charlotte von Serensburg."

Am gleichen Tag, nur einen Steinwurf vom Hause des Grafen entfernt, kam Ella in der kleinen Wohnung des Hausmeisters zur Welt. Die erfahrene Hebamme wiegte das Baby mit dem dunklen Haarschopf in den Armen, betrachtete das blasse Gesicht der Mutter und wandte sich ab, damit man ihre Tränen nicht sah. Doch der Vater des Kindes hatte sie beobachtet und wusste, was es zu bedeuten hatte. Wenige Tage später starb Ellas Mutter. So kam es, dass der Vater das Kind allein großziehen musste.

An Charlottes sechstem Geburtstag (der auch Ellas sechster Geburtstag war), waren er und Ella bei seinem Arbeitgeber, dem Grafen, zum Geburtstagskaffee eingeladen. Ellas Vater zerbrach sich den Kopf, was er Charlotte schenken konnte und kaufte ihr schließlich eine teure Puppe, die er sich gerade noch so leisten konnte und für Ella eine Kreidetafel für die Schule, die sie im nächsten Monat, wenn Ella eingeschult werden würde, sowieso brauchen würde. Ella freute sich, weil sie sehr gespannt darauf war, Lesen, Schreiben und Rechnen zu lernen.
An dem Tag sprachen die beiden Mädchen das erste Mal miteinander.

„Ich komme dieses Jahr in die Schule“, sagte Charlotte.
„Ich auch“, sagte Ella.
„Oh, das ist ja fein. Dann kannst du in der Schule neben mir sitzen und meine Stifte spitzen.“
Ella schwieg, weil ihr Vater gesagt hatte, dass sie dem Mädchen nicht widersprechen durfte, da es schließlich die Tochter seines Arbeitgebers sei, aber sie wusste nicht, warum sie die Stifte des Mädchens in der Schule spitzen sollte.
„Und du kannst meine Schultasche tragen“, fuhr Charlotte fort.
„Warum? Ich muss doch schon meine eigene Schultasche tragen.“
„Ja, aber du bist das Dienstmädchen.“
„Okay“, sagte Ella, die dachte, dass Charlotte nur ein Spiel spielen wollte. Der Rest des Nachmittages verlief angenehm. Zwar sollte Ella einiges für Charlotte erledigen, das diese ihr befahl, z. B. ihr den Kakao bringen und vor ihr knicksen, doch Ella dachte, dass das alles zu diesem komischen Spiel gehörte, was Charlotte sich ausgedacht hatte, und solange sie es als Spiel betrachtete, machte es ihr sogar Spaß. Und Charlotte war dann auch wirklich nett zu ihr, sodass sie am Abend ganz zufrieden in ihr Bett fiel und sich noch mehr als vorher auf die Schule freute.

Und am ersten Schultag kam es tatsächlich so, dass die Lehrerin auf Wunsch von Charlotte die beiden Mädchen nebeneinander setzte. Am zweiten Schultag befahl Charlotte Ella dann, ihre Stifte zu spitzen.
„Warum?“ fragte Ella. „Das kannst du doch selbst.“
„Das habe ich dir doch schon gesagt. Du bist das Dienstmädchen.“
„Hier doch nicht! Das war doch nur ein Spiel.“
„Nein, du bist immer das Dienstmädchen.“
Ella schwieg und dachte daran, dass ihr Vater gesagt hatte, sie solle nett zu Charlotte sein, weil sie die Tochter seines Arbeitgebers, des Grafen war, und der Graf ihn womöglich entlassen würde, wenn sie, Ella, nicht das machte, was Charlotte verlangte. Also spitzte sie Charlottes Stifte, obwohl sie es albern fand. Wenigstens musste sie nicht ihre Schultasche tragen, denn Charlotte wurde von dem Chaffeur ihres Vaters mit dem Mercedes abgeholt und Charlotte fragte nicht, ob Ella mitfahren wollte, obwohl das Haus ihres Vaters und die Wohnung von Ellas Vater nur einen Steinwurf auseinander lagen. Ella musste mit dem Bus fahren, aber sie war froh darüber.

So vergingen die Grundschuljahre, in denen Ella Charlottes Stifte spitzte, kleine Besorgungen für Charlotte erledigte und nie widersprach, wenn Charlotte sie vor anderen Kindern mit „das Dienstmädchen“ titulierte. Einmal sprach sie ein Mädchen darauf an. Sie hieß Griselda.

„Warum bist du das Dienstmädchen?“
„Weil ich muss.“
„Warum?“
„Weil mein Vater für Charlottes Vater arbeitet und er ihn entlässt, wenn ich nicht mache, was sie sagt.“
„Das ist ja gemein!“ Und dann lud Griselda Ella mittags zum Spielen ein. Die beiden Mädchen verbrachten nach den Hausaufgaben einen schönen Nachmittag im Garten von Griseldas Eltern. Dort stand eine Schaukel und viele Obstbäume. Ella und Griselda schaukelten um die Wette, ganz hoch, und aßen vergnügt frische Birnen, die von einem der Obstbäume heruntergefallen waren. So kam es, dass Ella und Griselda Freundinnen wurden.

Doch auch Griselda schaffte es nicht, Charlotte davon abzubringen, Ella als ihr Dienstmädchen anzusehen. Und Ella wehrte sich nicht, weil sie immer noch Angst hatte, der Graf könne ihren Vater entlassen.

Am Ende der vierten Klasse sprach die Klassenlehrerin mit Ellas Vater.
"Ella gehört auf das Gymnasium", sagte sie. "Sie ist sehr klug und sie wird es sicher bis zum Abitur schaffen."
Ellas Vater freute sich, doch er wusste nicht genau, ob er genug Geld für die ganzen Bücher haben würde, die Ella nun brauchen würde.
"Machen Sie sich darüber keine Gedanken", sagte die Lehrerin, "Sie erhalten sicher finanzielle Unterstützung, Sie müssen sie nur beantragen."
"Wir haben nicht viel Geld. Es reicht gerade so zum Leben. Ich dachte, Ella könnte so bald wie möglich arbeiten gehen und etwas zu unserem Lebensunterhalt dazu verdienen. Auf das Gymnasium müsste sie doch viele Jahre gehen. Und nach dem Abitur womöglich noch studieren? Wer soll das bezahlen?“
Die Lehrerin sah ihn mit funkelnden Augen an.
"Wollen Sie ihre Tochter etwa davon abhalten, soviel zu lernen, dass sie später einen tollen Beruf ergreifen und sehr viel Geld verdienen kann? Soll sie mit ihren Talenten vielleicht in irgendeine Fabrik gehen?"
"Natürlich nicht", antwortete Ellas Vater, den der wütende Blick der Lehrerin einschüchterte.
So kam es, dass Ella auf das Von-Sandstein-Gymnasium in Klinkenhorsten kam. Griselda konnte leider nicht mitkommen, da die Lehrerin der Ansicht war, dass sie auf einer anderen Schule besser aufgehoben wäre.

Als Ella erfuhr, dass Charlotte ebenfalls auf das Gymnasium in Klinkenhorsten gehen würde, schwor sie sich, dass sie dort nicht mehr das Dienstmädchen für sie spielen würde. Und als Charlotte dort trotzdem wieder damit anfangen wollte, ihr Befehle zu erteilen, lehnte sie ab.
„Das mache ich nicht mehr“, sagte sie trotzig.
„Nein? Du wirst ja sehen, was du davon hast.“

Charlotte beschwerte sich bei ihrem Vater, doch zu ihrem Missfallen sagte ihr Vater etwas ganz anderes als das, was sie erwartet hatte.
„Charlotte, in der Grundschule war das vielleicht nur ein albernes Spiel, auch wenn mir nicht ganz wohl dabei war. Aber jetzt solltest du Ella in Ruhe lassen. Das erste Jahr im Gymnasium ist ein wichtiger Abschnitt, und da solltet ihr beide einfach nur lernen. Außerdem bist du jetzt zu alt, um immer noch ein Dienstmädchen in der Schule haben zu müssen.“
„Du hast auch eines“, sagte Charlotte finster. „Alberta putzt und kocht.“
„Das ist etwas ganz anderes, ich bezahle sie dafür.“
Darauf wusste Charlotte nichts zu erwidern. Aber sie beschloss, es Ella heimzuzahlen, dass sie nicht mehr ihr Dienstmädchen sein wollte. Sie redete vor den anderen Kindern schlecht über Ella, sagte, sie würde lügen und hätte gemeine Geschichten über sie erfunden, obwohl sie immer nett zu ihr gewesen wäre. So kam es, dass Charlotte viele Freundinnen in der Klasse hatte und Ella keine einzige. Zum Glück konnte sie die Nachmittage oft mit Griselda verbringen, bis diese ihr eines Tages mitteilte, dass sie mit ihren Eltern in eine andere Stadt ziehen würde und sie sich nicht mehr länger sehen könnten. Ella war tieftraurig und weinte sich abends in den Schlaf.
„Ich werde dich besuchen“, hatte Griselda ihr allerdings versprochen. Doch zwei Jahre vergingen und Ella hörte nichts von ihr. Es kam kein Brief und kein Anruf und Ella wusste Griseldas neue Adresse nicht.

Nun waren Charlotte und Ella beide 14 Jahre alt und in der achten Klasse. Hinter Ella saß ein dunkelhaariger Junge, der neu in die Klasse gekommen war. Er musste das Schuljahr wiederholen, war also ein Jahr älter als Charlotte und Ella und er hieß Carl. Manchmal fiel Ella auf, dass er sie verstohlen musterte und ihr fiel auf, dass Charlotte ihn verstohlen musterte. Charlotte fragte ihn auch manchmal nach den Hausaufgaben und verglich nach Mathematikarbeiten immer ihre Antworten mit seinen. Und dann bekam Ella einen Brief von ihm. Eigentlich war es nur ein Zettel, den sie auf ihrem Schreibpult fand.

"Liebe Ella!

Hast du Lust, am Samstag mit mir ins Kino zu gehen?

Carl"

Ella schaute auf den Zettel und ihr Herz begann zu klopfen.

Ella drehte sich zu Carl um, doch in diesem Moment kam die Lehrerin zur Tür herein. Ella stopfte hastig den Zettel in ihre Schultasche und beschloss, bis zur Pause zu warten und Carl dann anzusprechen. Doch Charlotte kam ihr zuvor. Kaum hatte es zur Pause geklingelt, stand sie auch schon bei Carl und Ella hörte, wie sie sagte: "Am Samstag geben meine Eltern ein Fest. Ich darf auch jemanden einladen. Da habe ich an dich gedacht."
Ella stand auf und ging zur Tür hinaus. Sie wollte nicht hören, was Carl antwortete. Ein Fest bei Charlottes Eltern - dagegen hatte sie keine Chance. Wer würde es sich entgehen lassen, ins Haus des Grafen eingeladen zu werden?
Nach der Schule schlug sie traurig ihren Weg zur Bushaltestelle ein. Aber sie war noch nicht lange unterwegs, als sie merkte, dass ihr jemand atemlos hinterherlief.
"Ella! Bleib doch mal stehen!" Und tatsächlich, es war Carl. Er lächelte sie an.
"Du, das mit dem Kino am Samstag klappt leider nicht."
"Ah ...." Mehr brachte Ella nicht heraus.
"Das heißt ... du hast ja noch gar nicht geantwortet. Willst du überhaupt mit mir ins Kino?"
"Ja", sagte Ella, die nicht verhindern konnte, dass ihr Herz schneller zu klopfen begann. "Ich würde gerne mit dir ins Kino."
"Schön, das müssen wir nur auf einen anderen Tag verlegen. Sonntag?"
"Ja, das geht auch." Ella strahlte.
"Warum kannst du denn am Samstag jetzt nicht?" fragte sie, obwohl sie es genau wusste. Aber sie wollte wissen, was Carl antwortete.
"Charlotte hat mich eingeladen. Ihre Eltern, also der Graf und seine Frau, geben ein Fest. Ich konnte nicht absagen, das hätte sie mir übel genommen."
"Ich weiß, ich kenne sie." Ella wollte nicht erzählen, dass ihr Vater als Hausmeister für den Grafen arbeitete und sie nur einen Steinwurf entfernt vom Haus des Grafen in der Hausmeisterwohnung wohnte.
„Welchen Film wollen wir denn schauen?“ fragte sie, um das Thema zu wechseln. Dann redeten sie über Filme und Kino, bis sie an der Bushaltestelle angekommen waren und Ella in den Bus einsteigen musste.

Zuhause lief Ella glücklich in ihr Zimmer, warf die Schultasche in die Ecke, legte ihre Lieblings-CD ein und drehte die Musik auf volle Lautstärke. Carl lag etwas an ihr!
Sogar ihrem Vater fiel beim Abendessen ihr Strahlen auf. "Du hast aber gute Laune", stellte er fest und Ella nickte.
"Ich gehe am Sonntag ins Kino. Mit jemand aus meiner Klasse."
"Da hast du es gut. Ich muss Samstag und Sonntag arbeiten. Der Graf gibt ein Fest."
"Ich weiß. Charlotte hat auch Leute aus der Klasse eingeladen."
"Dich nicht?"
"Gottseidank nicht!" Ella verzog das Gesicht.
"Ich hoffe, du bist aber immer noch nett zu ihr?"
"Ihre Stifte spitze ich jedenfalls bestimmt nicht mehr."
"Das war ja auch Kinderkram. Aber denk dran, dass wir immer noch vom Grafen abhängig sind. Wir können es uns nicht leisten, ihn oder seine Familie zu verärgern."
"Das weiß ich doch." Aber Ella hatte keine Lust, weiter über Charlotte oder den Grafen zu reden und schnell schnitt sie ein anderes Gesprächsthema an.

Der Samstag kam näher und man konnte von ferne die Vorbereitungen im Garten des Grafen beobachten. Ein Pavillon mit einer Tanzfläche wurde aufgebaut, eine Menge Tische und Stühle wurden von den Angestellten in den Garten getragen, Tischdecken wurden aufgelegt und Lampions angebracht. Am Samstagmittag dann wurde den Gästen bei strahlendem Wetter Kaffee und Kuchen serviert. Und jeder, der Rang und Namen in der Gemeinde hatte, war anwesend. Ellas Vater, der bei solchen Festen überall eingespannt wurde, hatte eine Menge zu tun. Flüchtig bemerkte er, dass wohl nur ein Junge aus Charlottes Klasse da war. Sie hatte sich bei ihm eingehängt, ein strahlendes Lächeln aufgesetzt und redete in einem fort auf ihn ein.
Dann wurde er ins Haus gerufen. Alberta, die Köchin, stand mit finsterem Gesicht am Herd.
"Jule ist krank", teilte sie ihm mit. Jule war ein keckes kleines Ding mit Riesenzöpfen, das Alberta in der Küche zur Hand ging. "Ich brauche aber noch Hilfe für heute Abend. Ich habe es dem Grafen schon gesagt."
Ellas Vater wusste, was das hieß.
"Ich werde Ella Bescheid sagen, dass sie aushelfen soll."

Und er eilte nach Hause. Ihm fiel auf, dass ein schwarzer Rabe über ihn hinweg flog und er wunderte sich ein wenig, weil es fast so aussah, als würde der Rabe ihn verfolgen. Aber dann ließ der Rabe sich auf der Straße nieder und Ellas Vater beachtete ihn nicht mehr. Er ging ins Haus und fand Ella über ihre Schulaufgaben gebeugt. Seine Miene ließ Ella gleich ahnen, dass etwas Unangenehmes bevorstand.
"Musst du nicht heute beim Grafen arbeiten?"
"Ja," ihr Vater zögerte ein wenig, ehe er fortfuhr, "aber da gibt es noch ein anderes Problem. Jule ist krank und Alberta braucht Hilfe."
Ella starrte ihren Vater an. "Du meinst, ich soll auf Charlottes Fest in der Küche helfen? Das kannst du doch nicht ernst meinen."
"Es ist nicht Charlottes Fest", verbesserte ihr Vater sie, "sondern das des Grafen und seiner Frau. Und Alberta hat den Grafen schon gefragt, ob du helfen kannst."
"Und mich fragt keiner?"
"Du weißt, dass wir uns es nicht leisten können, abzusagen. Was ist, wenn wir den Grafen verärgern und er mich entlässt? Dann haben wir keine Wohnung und kein Geld mehr. Und es ist doch nur für ein paar Stunden."
Ella schwieg und dachte daran, was Carl wohl sagen würde, wenn er sah, dass sie für Charlotte arbeitete. Charlotte würde es sich bestimmt nicht entgehen lassen, darauf hinzuweisen, dass sie, Ella, eben doch ihr Dienstmädchen war.
Ihr Vater trat zu ihr und klopfte ihr aufmunternd auf die Schulter. "Das bekommst du schon hin. Bitte."
Ella seufzte auf. "Es bleibt mir wohl nichts anderes übrig."
"Danke. Dann zieh dir etwas anderes an und binde dir eine Schürze um. Ich muss dann wieder hinüber gehen. Bis später."
Ihr Vater verschwand und Ella blickte unglücklich auf ihre Hausaufgaben. Wieviel lieber hätte sie jetzt für Mathematik gelernt! Aber es nutzte nichts, ihr Vater hatte recht. Sie konnten es sich nicht leisten, den Grafen zu verärgern.

Als Ella in die Küche ging, um sich eine Schürze überzustreifen, bemerkte sie, dass sich ein großer schwarzer Rabe auf dem Fensterbrett niedergelassen hatte, der munter ein lautes "Krah" ausstieß. Fast sah es so aus, als würde er ins Fenster hineinblicken und als Ella ihn ansah, legte er den Kopf schief und stieß einen Laut aus, der sich eher wie ein Tirilieren denn als ein typisches "Krah" eines Raben anhörte und Ella musste lächeln.
Aus irgendeinem Grunde fiel ihr nun Griselda ein, ihre frühere Freundin aus der Grundschule. Griselda hatte gerne Raben nachgeahmt und einmal sogar behauptet, sie könne sich in einen Raben verwandeln.
Sie öffnete das Fenster in der Erwartung, der Rabe würde wegfliegen. Doch er blieb ganz ruhig sitzen.
"Du bist ja ein schöner Vogel", schmeichelte Ella ihm und der Rabe nickte mit dem Kopf.
Ella lachte. "Wie schade, dass du nicht Griselda bist!"
Sie schloss das Fenster und ging nach draußen, zum Haus des Grafen. Sie nahm den Dienstboteneingang, um nicht den vielen Gästen und vor allem Charlotte und auch Carl nicht über den Weg zu laufen.

Alberta verzog keine Miene, als Ella in die Küche kam und hatte auch kein freundliches Wort für sie übrig. Auf Ellas Gruß nickte sie nur knapp und deutete dann auf einen Schrank.
„Hol dir dort eine Haube raus.“
„Eine Haube?“ Ella verstand nicht, was sie meinte.
„Ja, für die Haare.“
„Die habe ich doch schon zusammengebunden.“ Ella hatte ihre dunklen langen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und dann aufgesteckt, wie sie es zu Hause auch machte, wenn sie Hausarbeit verrichtete.
„Das reicht nicht. Zieh die Haube an. Ich will nicht, dass Haare ins Essen fallen. Jule hat Zöpfe und trägt die Haube auch immer. Und zieh sie unter dem Kinn fest zu, damit keine Haare hervorlugen können!"
Albertas Ton duldete keinen Widerspruch. Zudem trug sie auf ihrem Kopf selbst ein etwas unförmig wirkendes, weißes Etwas, das vermutlich eine ebensolche Haube war.
Widerstrebend öffnete Ella den Schrank, zog eine weiße Haube heraus und setzte sie auf.

Auf dem Tisch standen drei große Eimer mit Kartoffeln. Alberta wies Ella an, diese zu schälen, danach könne sie den Salat putzen und sie solle nicht bei den Arbeiten trödeln, denn die Gäste würden pünktlich ihr Abendessen auf der Feier erwarten. Ella schnitt Alberta hinter deren Rücken eine Grimasse, fing aber gehorsam an, die Kartoffeln zu schälen. Sie hatte gerade den ersten Eimer fertig geschält, als die Küchentür aufgerissen wurde und Charlotte hereinstürzte.
"Alberta, dein selbstgemachter Orangensaft ist schon alle! Ich brauche aber unbedingt noch welchen!" stieß sie atemlos hervor. Dann bemerkte sie Ella und brach in Gelächter aus.
"Wie siehst du denn aus? Steht dir aber gut, die Haube. Wie aus dem letzten Jahrhundert", feixte sie.
"Ich habe schon gehört, dass du heute in der Küche helfen musst. Du siehst also, du bist immer noch mein Dienstmädchen, genau wie früher." Sie lächelte herablassend.
"Ich helfe heute nur aus", sagte Ella. "Ich bin nicht dein Dienstmädchen."
"Nicht? Aber du siehst doch genauso aus."
Charlotte wandte sich wieder Alberta zu.
"Machst du bitte noch Orangensaft?"
"Natürlich, Charlotte, gerne. Ich werde mich gleich daran machen."
Ella hätte es nicht gewundert, wenn Alberta vor Charlotte geknickst hätte, so ehrfürchtig war jetzt ihr Tonfall.

Von draußen war eine weitere Stimme zu hören.
"Charlotte? Wo steckst du denn?"
Dann öffnete sich die Tür und Charlottes Mutter, Gräfin von Serensburg, trat ein.
"Ah, hier bist du! Raus mit dir, dein Verehrer wartet!"
"Was für ein Verehrer?" , hätte Ella am liebsten gefragt, biss sich jedoch noch rechtzeitig auf die Zunge.
"Ich wollte mich ein wenig mit Ella unterhalten. Mama. Ist es nicht schön, dass sie immer hilft, wenn wir ein Dienstmädchen brauchen?"
Der Gräfin entging die feine Spitze gegen Ella in Charlottes Satz und so sagte sie nur lächelnd: "Ja, es ist schön, dass Alberta Hilfe bekommen hat. Aber jetzt geh endlich zu dem jungen Mann!"
"Ich bin schon unterwegs, Mama." Und schon war Charlotte aus der Küche verschwunden.
„Wie schade, dass Jule sich den Magen verdorben hat!“ bemerkte Gräfin von Serensburg.
„Ja, Frau Gräfin“, sagte Alberta. "Unsere Jule ist wirklich ein dummes Ding. Ich sagte noch zu ihr, nasch nicht soviel, du verdirbst dir nur den Magen! Aber sie hat einfach nicht auf mich gehört."
"Wir haben ja Ersatz gefunden." Die Gräfin lächelte Ella freundlich an und nickte ihr zu, hielt es aber nicht für nötig, das Wort an sie zu richten, sondern fuhr fort, mit Alberta zu plaudern.
„Heute ist ein richtig schöner Tag für unser Fest. Wie schön, dass alle Gäste kommen konnten! Sogar der Bürgermeister ist da. Am meisten freut es mich aber, dass Charlotte einen so netten Jungen eingeladen hat."
„Das ist wohl wahr, Frau Gräfin", pflichtete Alberta ihr bei.
„Oh, hast du ihn schon kennengelernt, Alberta?"
„Ich habe ihn heute Mittag gesehen, als Charlotte mit ihm in den Garten kam, Frau Gräfin. Er machte einen netten Eindruck."
„Ja", sagte Gräfin von Serensburg versonnen, „und er ist auch noch ein recht hübscher Bursche! Meine Tochter hat Geschmack, das muss ich sagen."
Dann schaute sie sich in der Küche um. „Ihr habt ja noch einiges zu tun. Ich kann mich ja darauf verlassen, dass heute Abend alles perfekt läuft, Alberta?“
„Selbstverständlich, Frau Gräfin.“
„Wunderbar, Alberta.“ Dann wandte sich die Gräfin Ella zu. „Du bringst dann nachher das Essen nach draußen, Ella.“
Und mit diesen Worten rauschte Gräfin von Serensburg aus der Küche.
Ella stand da wie vom Donner gerührt. Wenn sie das Essen in den Garten bringen sollte, wäre es sehr unwahrscheinlich, nicht von Carl dabei gesehen zu werden. Wie sollte sie es anstellen, ihm aus den Weg zu gehen? Und wenn sie sich weigerte? Aber in ihrem Kopf hörte sie sogleich die Stimme ihres Vaters: „Wir können es uns nicht leisten, den Grafen zu verärgern.“ Und sie wollte bestimmt nicht dafür verantwortlich sein, dass ihr Vater Ärger bekam oder gar seine Stelle verlor.
„Dieser dumme große Vogel da“, sagte Alberta in ihre Gedanken hinein. „Sitzt schon die ganze Zeit auf dem Fensterbrett und glaubt wohl, was von dem Essen für die Herrschaften stibitzen zu können.“
Sie schüttelte den Kopf und machte eine drohende Handbewegung zum Fenster hin, offenbar in dem Glauben, den Vogel damit verscheuchen zu können. Ella folgte ihrem Blick und stutzte: War das nicht der Rabe, der auch bei ihr zu Hause schon auf dem Fensterbrett gesessen hatte? Und tatsächlich: Es sah aus, als würde der Rabe ihren Blick auffangen. Dann nickte er langsam mit dem Kopf. Ella musste wieder lächeln. Ob der Rabe wohl gekommen war, um ihr zu helfen?
„Jetzt trödele nicht hier herum“, schalt Alberta sie, „mach, dass du fertig wirst! Die Gäste sollen ihr Essen schließlich pünktlich bekommen.“

Ella hoffte, die Zeit würde stehenbleiben und sie müsse nicht irgendwann hinausgehen, um das Essen zu servieren, doch die Zeit hatte kein Mitleid mit ihr. Der Zeiger der großen Küchenuhr rückte unerbittlich vorwärts und dann war es auch schon soweit. "Das Essen ist fertig, pünktlich wie Frau Gräfin es erwartet hat", verkündete Alberta feierlich, "und du kannst jetzt hinausgehen und die Schüsseln auftragen. Frau Gräfin wird sehr zufrieden sein."
Ella wollte sich die Haube vom Kopf ziehen, doch Alberta hinderte sie daran, indem sie sie leicht am Arm festhielt.
"Die Haube bleibt auf! Du willst ja wohl nicht das Essen ruinieren, wenn dir ein Haar hinein fällt."
Ella murmelte etwas und nahm die Schüsseln. Sie ging zur Tür und schaute sich vorsichtig um. Auf den ersten Blick war weder Charlotte noch Carl zu sehen. Sie ging, so schnell es mit den schweren Schüsseln in den Händen möglich war, zu dem Tisch, auf dem das Essen aufgebaut werden sollte und stellte die Schüsseln darauf ab. Aufatmend drehte sie sich um und wollte wieder in die Küche verschwinden, als wie aus dem Nichts aufgetaucht Charlotte vor ihr stand. Und hinter ihr stand Carl.
Charlotte grinste hämisch. "Siehst du, Carl? Sie arbeitet für mich. Sie war ja schon in der ersten Klasse mein Dienstmädchen. Manchen Menschen ist ihr Stand einfach vorherbestimmt." Sie trat vor und zupfte neckisch an Ellas Haube. "Und sie sieht auch noch super dabei aus! Steht ihr doch gut, die Haube, findest du nicht auch?" fragte sie, albern kichernd und Ella wünschte sich, dass sich der Boden auftun und sie verschlingen möge.
Carl hatte Ella verblüfft angesehen, als er sie erkannte. Er schien sich sichtlich unwohl zu fühlen, nicht zu wissen, was er zu der Situation sagen sollte und entschied sich schließlich nur für ein kurzes "Hallo, Ella."
"Hi Carl", antwortete Ella mechanisch und in diesem Moment durchfuhr sie eine Erkenntnis wie ein schmerzhafter Stich: Carl würde nie ein armes Mädchen wie sie, Ella, auswählen, wenn er ein Mädchen wie Charlotte haben konnte. Sie brauchte Charlotte nur anzusehen mit ihren langen blonden Haaren, dem hübschen Gesicht, der schlanken Statur und vor allem dem selbstsicheren Auftreten, etwas, das sie, Ella, nie haben würde, auch wenn sie genauso hübsch wie Charlotte war. Davon war unter der riesigen Haube jetzt allerdings nicht viel zu erkennen, und im Gegensatz zu Charlotte, die ein lieblich duftendes Parfüm trug und frisch und ausgeruht aussah, war sie müde und verschwitzt und hatte allenfalls Küchengerüche an sich. Warum sollte Carl sich ausgerechnet in sie verlieben und nicht in Charlotte?
"Komm, Carl, wir gehen weiter. Das Dienstmädchen hat schließlich zu arbeiten." Charlotte ergriff Carls Hand und wollte ihn weiterziehen, doch Carl blieb wie angewurzelt stehen.
"Krah! Krah!" war auf einmal zu hören und über allen dreien flog ein Rabe hin und her. Dann schlug er mit seinen Flügeln, flatterte anmutig im Sinkflug und ließ sich genau vor Charlotte auf dem grünen Rasen nieder.

Ende des 1. Teils
 



 
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