Das Dienstmädchen und die Tochter des Grafen

2. und letzter Teil

Charlotte wich unwillkürlich zurück. Es sah fast aus, als fürchte sie sich vor dem Raben, und das wirkte so komisch, dass Ella laut heraus lachen musste. Auch Carl schien amüsiert zu sein.
"Du hast doch wohl nicht etwa Angst vor einem kleinen Vogel?" wandte er sich an Charlotte.
"Klein? Das Vieh ist doch riesig! Und eklig! Komm, wir gehen!" Sie zupfte Carl am Ärmel seines weißen Hemdes, doch dieser reagierte gar nicht darauf, sondern sah jetzt Ella unverwandt an.
Der Rabe flatterte hoch in die Luft und schlug mit den Flügeln. Und Ella war es zu ihrer Verwunderung, als würde sie eine Stimme vernehmen, die aber nur sie hören konnte, während Charlotte und Carl stocksteif dort stehenbleiben, wo sie gerade standen, ohne sich zu bewegen oder zu reden, sozusagen wie eingefroren. In einiger Entfernung standen die anderen Gäste des Festes, unterhielten sich, manche tanzen auch zur Musik, aber niemand schaute zu ihr herüber. Es sah so aus, als würde sonst niemand diese seltsame Szene, in der der Rabe mit ihr sprach, mitbekommen.

"Ella!", krächzte der Rabe mit einer Stimme, die Ella bekannt vorkam. Hatte sie diese schon einmal gehört?
"Erinnerst du dich an mich? Ich bin Griselda." Der Rabe schlug aufgeregt mit den Flügeln.
"Wir waren Freundinnen, erinnerst du dich? "
Ella nickte und ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht.
"Griselda! Du kannst dich tatsächlich in einen Raben verwandeln."
"Das hast du mir ja nie geglaubt."
Der Rabe funkelte mit den Augen.
"Nun glaube ich es ja", erwiderte Ella lächelnd.
"Bist du in den Jungen verliebt?" Die Frage kam so unvermittelt, dass Ella zusammenzuckte.
"Du kannst ruhig reden. Die beiden bekommen im Moment nichts mit, ich habe einen Stillstand-Zauber über sie gelegt. Den hebe ich nachher wieder auf. Sie wissen später nichts mehr davon. Also, gehört dein Herz diesem Jungen?"
"Ich glaube ja", sagte Ella leise.
"Und warum glaubst du, dass er dich nicht will? Ich weiß nämlich, was du vorhin gedacht hast. Wie kommst du darauf, er würde dich nicht wollen, nur, weil du nicht reich bist und dir deswegen dieses andere Mädchen vorziehen?"
Ella schlug die Augen nieder.
"Ich glaube einfach nicht, dass ich gegen Charlotte eine Chance habe. Oder könntest du einen Liebeszauber über Carl legen?"
"Das ist gar nicht nötig." Der Rabe alias Griselda ließ ein helles Lachen hören. "Carl ist schon über beide Ohren in dich verliebt."
"Woher weißt du das?"
"Ich bin ihm hinterher geflogen und habe ihn ein paar Tage beobachtet. Du kannst es mir ruhig glauben. Aber du musst auch an etwas anderes glauben. An ihn, an dich und an eure Liebe."
"Was soll ich denn tun?" Ella sah an sich herunter und tippte dann an ihre Haube. "Schau dir nur mal meinen Aufzug an. So fällt es mir schwer, zu glauben, dass er mich liebt."
"Wenn's nur das ist...." Der Rabe murmelte etwas vor sich hin, gleich darauf legte sich ein strahlendes Licht über Ella, und als dieses wieder verschwand, waren auch die Haube und Ellas alte Kleider verschwunden und sie trug ein wunderschönes dunkelblaues Ballkleid mit wippendem Rock und dazu farblich passenden, hohen Schuhen. Ihre langen dunklen Haare fielen ihr seidig und weich um das Gesicht und flossen ihren Rücken hinab wie ein Wasserfall.

"Oh Griselda! Danke! Aber.... nein, das geht nicht. Du weißt doch noch, was ich dir über meinen Vater erzählt habe?"
"Dass er beim Grafen angestellt ist und er den Grafen keinesfalls verärgern darf? Ja, das weiß ich. Mach dir keine Sorgen, es ist alles geregelt."
Der Rabe erhob sich in die Luft, flatterte noch einmal kräftig mit den Flügeln, nickte Ella zu und flog dann davon. Sie sah ihm wehmütig hinterher. Als sie ihren Blick danach auf ihre Umgebung richtete, bewegten Carl und Charlotte sich wieder.
"Wow! Ella, du siehst ja umwerfend aus!" Carl sah sie bewundernd an.
"Wo ist der grässliche Vogel?" Charlotte sah sich um. Als sie den Raben nirgendwo mehr entdecken konnte und realisierte, dass Ella nun hübsch gekleidet war und Carl sie voll unverhohlener Bewunderung anblickte, platzte ihr der Kragen. "Was fällt dir ein? Du sollst hier arbeiten und dich nicht herausputzen, als wärst du eingeladen! Komm, Carl, wir gehen! Ich werde meinen Eltern Bescheid sagen, was sich dieses Dienstmädchen herausnimmt!"
Sie wollte Carls Hand ergreifen, doch dieser schüttelte sie ab und streckte seine Hand Ella hin. Ella dachte daran, was Griselda gesagt hatte:" Glaub an dich, an ihn und an eure Liebe" und ergriff Carls Hand, ohne zu zögern.
Charlottes hübsches Gesicht lief vor Ärger rot an. "Ach, so ist das also! Nun, ihr werdet beide schon noch sehen, was ihr davon habt!" Sie stürmte davon. Und im gleichen Moment kam von der anderen Seite Ellas Vater auf sie beide zu. Er hielt einen Brief in der Hand und winkte mit diesem aufgeregt hin und her.
"Ella! Ich habe dich überall gesucht!"
"Was ist passiert?" Ella bekam einen gewaltigen Schreck, obwohl Charlotte ihren Eltern in der kurzen Zeit eigentlich noch gar nichts hatte erzählen können. War ihr Vater wegen etwas anderem entlassen worden und stand in dem Brief seine Kündigung? Doch sein fröhliches Gesicht verhieß keine schlechten Nachrichten.
"Wir haben geerbt!" Ellas Vater umarmte seine Tochter und drückte sie an sich.
"Was? Übrigens, Papa, das ist Carl. Carl, das ist mein Vater."
"Angenehm", sagten beide und schüttelten sich die Hände.
"Was haben wir denn geerbt, Papa? Und von wem?"
"Deine Mutter hatte eine Tante, sie lebte in England und hatte keine Kinder. Sie hat verfügt, dass ihr Besitz nach ihrem Tod an die Kinder deiner Mutter gehen, da sie selbst keine direkten Nachkommen hat. Und sie war sehr reich.
"An was ist sie denn gestorben?" Ella konnte sich nicht so recht freuen, weil das Erbe ja anscheinend einen traurigen Hintergrund hatte.
"Sie war schon sehr alt, Ella, und ist friedlich eingeschlafen. So teilt es mir der Notar in diesem Brief mit. Und nun komm - und der junge Mann auch, wenn er möchte - wir gehen nach Hause. Das war mein letzter Arbeitstag beim Grafen. Ich habe gekündigt. Und du musst auch nie wieder für dieses Haus arbeiten."
Ella verschlug es die Sprache vor Freude. Langsam schritt sie, Hand in Hand mit Carl hinter ihrem Vater her und war unendlich glücklich.
"Danke, Griselda", dachte sie.
 



 
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