Das Ding

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tippToe

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Der Junge hatte das Ding hereingebracht. Und nun saßen alle um den Tisch herum, auf dem es lag. Niemand wagte, es zu berühren.
„Lebt es?“
Die Mutter des Jungen sprach aus, was alle dachten.
„Es atmet!“, sagte das Mädchen.
Die Mutter wich zurück.
„Wirklich?“
„Quatsch“, sagte der Junge, „es bewegt sich nicht!“
„Es riecht irgendwie nach …“
Das Mädchen rümpfte die Nase und ging mit dem Gesicht näher an das Ding heran.
„Nicht so nah ran!“, sagte die Mutter.
„Wir sollten es lieber wieder rausbringen“, sagte der Mann, „es gehört nicht hier herein!“
„Warum denn nicht?“
Der Junge sah seinen Vater empört an.
„Weil es eben nicht hier herein gehört!“
Das ist keine Begründung, konnte man aus dem Gesicht des Jungen lesen. Doch diesmal konnte er die Entscheidung seines Vaters nicht einfach damit umgehen seine Mutter zu fragen, die mindestens in der Hälfte aller Fälle anderer Meinung war als ihr Mann. Nein, sie saß neben ihm und starrte genau wie alle anderen auf dieses Ding. Und es war ihr offensichtlich nicht geheuer.
„Dein Vater hat recht, wir sollten es wieder nach draußen bringen.“
„Aber warum denn?“
Der Junge sah jetzt auch seine Mutter empört an.
„Weil es hier im Haus nichts zu suchen hat!“
„Draußen hat es aber auch nichts zu suchen“, versuchte der Junge zu argumentieren.
„Schluss jetzt!“
Das väterliche Machtwort riss das Mädchen aus ihren Gedanken. Sie lehnte sich wieder zurück und sah zu ihrem Vater.
„Du bringst das Ding jetzt wieder dahin, wo Du es gefunden hast!“, wies er den Jungen an.
„Aber es lag vor der Tür …“
„Das stimmt!“
Das Mädchen war selten auf der Seite ihres Bruders. Nur allzu oft in der Vergangenheit hätte sie dieses kleine Aas an die Wand klatschen können. Aber in diesem Fall war sie viel zu neugierig, was dieses Ding wohl sein könnte. Es musste hierbleiben! Unbedingt!
„Können wir es denn nicht wenigstens bis morgen behalten?“
Der Mutter reichte es langsam. Das Ding musste hier raus. So schnell wie möglich.
„Kinder, es ist uns doch nicht zugelaufen …“
„Aber es lag doch vor unserer Tür! Jemand muss es doch da hingelegt haben!“
Der Junge wurde lauter. Seine Schwester hoffte, dass er nicht wieder hysterisch werden würde. Ihre Eltern würden sonst das Ding schon aus Prinzip wieder loswerden wollen.
„Wenn niemand vorbeikommt und es sucht könnten wir es doch wenigstens über Nacht behalten, oder?“, sprach der Junge wieder ruhiger.
Gut gemacht, dachte das Mädchen.
„Wer sollte das Ding denn suchen?“ fragte der Vater aufgebracht. „Das ist doch kein Kätzchen oder Hund …“
„Aber vielleicht gehört es ja wirklich jemanden, und wenn wir es einfach wieder raus legen nimmt es noch irgendjemand mit dem es nicht gehört …“
Mutters Argument stach! Natürlich musste das Ding jemandem gehören, und derjenige würde es sicherlich bestimmt schon vermissen. Irgendwann würde es dann an der Tür klingeln und jemand würde danach fragen. Und dann würde derjenige vielleicht auch endlich erklären können, was das überhaupt sei. Und das war schließlich die eigentliche Frage, die im Augenblick alle beschäftigte.

Genau in diesem Moment klingelte es an der Tür.
Sie sahen sich verwundert an. Noch etwas perplex stand der Vater auf und ging zur Haustür, seine Frau im Schlepptau.
„Entschuldigen Sie die Störung …“
Der Mann vor der Tür wirkte hilflos und nervös.
„Was können wir für Sie tun?“, ergriff die Mutter das Wort.
Die beiden Kinder stießen neugierig mit dazu.
„Ich bin auf der Suche nach … nach … nach einem …“
Ding?, dachte der Junge.
Irgendetwas gefiel der Mutter nicht an dem Fremden.
„Ich … ich weiß nicht genau, wie ich es … beschreiben soll …“
Der Fremde machte ein paar Gesten mit seinen Händen, um die Größe des Dings zu beschreiben. Natürlich wusste jeder längst, was der Fremde suchte. Doch irgendetwas stimmte mit dem Mann vor der Tür nicht. Alle konnten das spüren.
„Es ist etwa … so groß, und … und … es riecht ein wenig wie … wie … äh … wie …“
Dem Fremden fehlten die Worte. Seine Hände zitterten und er versuchte tänzelnd einen Blick ins Haus zu erhaschen. Die Mutter zog die Tür etwas zu, so dass man von außen nicht mehr ungehindert ins Wohnzimmer sehen konnte. Mit der anderen Hand griff sie an den Kragen ihrer Strickjacke und zog ihn am Hals zusammen, als ob sie fror. Aber niemand fror in diesem Moment wirklich. Die beiden Kinder bauten sich indes vor den Beinen ihrer Eltern zu einer schützenden Wand auf.
„Was genau soll das sein, was sie da suchen?“ wollte der Vater wissen.
„Das weiß ich leider auch nicht … aber … aber meine Kinder … die Kinder sind ganz verrückt nach diesem Ding …“
Skeptisch musterten alle den Mann vor ihrer Haustür.
„Also, wir haben hier nichts Ungewöhnliches gefunden!“, sagte die Mutter plötzlich.
Der Junge blickte mit offenem Mund zu seiner Mutter. Noch nie zuvor hatte er seine Mutter lügen hören. Sie war es, die ihn wieder und wieder eingebläute die Wahrheit zu sagen. Immer. Seine Schwester stieß ihm einen Ellenbogen in die Seite. Halt jetzt bloß die Klappe, wäre wohl die treffendste Übersetzung gewesen.
Der Junge schrie auf: „Aua, blöde Kuh!“
„Schluss jetzt!“
Der Vater blickte seine Kinder ernst an.
„Rein mit Euch! Los!“
Die beiden Kinder verschwanden quengelnd im Haus.
„Es tut uns wirklich leid“, sagte die Mutter, „aber wir haben nichts gefunden …“
Der Fremde an der Tür sah das Paar misstrauisch an und versuchte erneut an ihnen vorbei zu blicken. Die Tür wurde daraufhin noch weiter zugezogen.
„Sind Sie sicher? Es ist etwa so groß … und …“
Wieder deutete er mit den Händen die Größe des Dings an.
„Ja, ganz sicher!“
Aus dem Hintergrund hörte man den Jungen rufen: „Mama?“
Die Kinder zankten sich anscheinend immer noch. Der Fremde blickte skeptisch.
„Naja, falls sie … wenn sie doch noch etwas finden sollten, dann …“
„Mama! Komm mal!“
„Schluss, ihr beiden! Hört auf Euch ständig zu streiten!“, rief sie hinter sich ohne sich umzudrehen oder gar den Blick von dem Fremden zu lassen.
„Maaamaaaa!“
Jetzt plärrte auch ihre Tochter. Der Vater wurde nervös und wippte ungeduldig hin und her. Die Frau durchbohrte den Fremden weiter mit ihren Blicken.
„Es tut mir leid, wir haben wirklich nichts gesehen!“
Geschrei im Hintergrund.
„Entschuldigen Sie, aber unsere Kinder drehen gerade durch, wir müssen jetzt wirklich …“
Unvermittelt schloss die Frau mit diesem Satz die Tür und ließ den Fremden ohne Verabschiedung draußen stehen. Der Vater trat einen Schritt zur Seite, damit er durch die Scheibe in der Tür nicht gesehen werden konnte und warf seiner Frau einen erstaunten Blick zu.

„Sag mal, was sollte das denn werden?“, flüsterte er.
„Mamaaa! Papaaaa! Kommt her!“
Die beiden brüllten jetzt im Chor.
Die Frau sagte leise: „Der Typ, mit dem stimmt was nicht …“
Die Kinder schrien wie wild.
„Was ist denn? Himmelherrgott!“
Die beiden liefen ins Wohnzimmer zu ihren quengelnden Kindern.
„Was soll das denn …“
Beide erstarrten, als sie den Tisch sahen. Dort, wo noch vorhin das Ding lag, war nichts mehr. Das Ding war weg.
„Es ist weg …“
Das Mädchen war den Tränen nahe.
„Ich hab‘s nicht weg! Es ist schon weg gewesen …“, sagte der Junge sich rechtfertigend.
Der Vater drehte sich wieder zur Tür, aus deren Richtung er eine Bewegung wahrnahm. Der Fremde stand noch draußen und drückte seine Nase an der Scheibe platt. Als er den Blick des Vaters bemerkte schreckte er zurück und verschwand.
„Wo ist das Ding hin?“
Die Frau suchte nach Spuren auf dem Boden, und fragte sich gleichzeitig, ob sie wirklich Spuren finden mochte. Natürlich war nichts zu entdecken. Der Vater lief inzwischen zur Haustür und sah gerade noch, dass der Fremde hastig die Straße entlang lief und in einem schmalen Weg zwischen zwei Häusern verschwand. Dann war er fort.
„Was zur …“
Er öffnete die Tür und blickte in die Richtung, in die der Fremde verschwand. Niemand war zu sehen. In der anderen Richtung, vor dem gelben Haus am Ende der Straße, sah er ein Kind. Es war die Tochter der jungen Leute, die vor zwei Wochen eingezogen waren. Sie hob gerade etwas auf das vor Ihrer Haustür lag und klingelte. Als ihr geöffnet wurde brachte sie es ins Haus. Der Mann starrte ihr hinterher. Anscheinend hatte Sie das Ding gefunden. Aber wie kam es dort rüber? Das konnte doch nicht sein?

Im Wohnzimmer hinter sich hörte er seine Kinder, wie sie sich immer noch darüber stritten wer das Ding jetzt entkommen ließ, und warum der eine oder die andere blöd oder was auch immer sei. Sie waren sichtlich enttäuscht, dass das Ding weg war. Seine Frau versuchte die beiden zu beruhigen, aber es gelang ihr nicht zufriedenstellend. Der Mann nahm seinen Schlüssel von der Kommode, zog sich eine Jacke über und rief ins Wohnzimmer: „Bin gleich wieder da!\"
Unter den verwunderten Blicken seiner Familie schloss er hinter sich die Tür, und lief zu dem gelben Haus am Ende der Straße.
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo tippToe, herzlich Willkommen in der Leselupe!

Schön, dass Du den Weg zu uns gefunden hast. Wir sind gespannt auf Deine weiteren Werke und freuen uns auf einen konstruktiven Austausch mit Dir.

Um Dir den Einstieg zu erleichtern, haben wir im 'Forum Lupanum' (unsere Plauderecke) einen Beitrag eingestellt, der sich in besonderem Maße an neue Mitglieder richtet. http://www.leselupe.de/lw/titel-Leitfaden-fuer-neue-Mitglieder-119339.htm

Ganz besonders wollen wir Dir auch die Seite mit den häufig gestellten Fragen ans Herz legen. http://www.leselupe.de/lw/service.php?action=faq

Deine Geschichte liest sich spannend und flüssig. Das Ende bleibt offen - gibt es eine Fortsetzung?!


Viele Grüße von DocSchneider

Redakteur in diesem Forum
 



 
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