Das Duell (5 + 6)

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Wolf-Wolle

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Boris wurde langsam wieder gesund.
Er lag in der großen Scheune auf einer weichen Decke und döste vor sich hin. Die Decke roch nach Pferd. Boris kannte diesen Geruch seit seiner Kindheit. Er mochte ihn. Als Welpe hatte er sich oft in den Ställen herumgetrieben. Musste er anfangs den Hufen der Reittiere noch ausweichen, weil diese bei seinem Erscheinen nervös zu stampfen begannen, so hatten sie sich schon nach kurzer Zeit an ihn gewöhnt. Wenn die Menschen den Owtscharka nirgendwo entdecken konnten, war er ganz bestimmt im Pferdestall zu finden.

Als Kasim ihn ins Dorf zurückgebracht hatte, ging es Boris sehr schlecht. Die Verletzung war groß und hatte sich entzündet. Der Hund fieberte. Vom hohen Blutverlust geschwächt, brachte sein Körper kaum die benötigten Abwehrkräfte auf. Kasim war fast immer bei ihm. Dreimal am Tag säuberte er die Wunde und strich anschließend behutsam eine breiige Masse darauf, die angenehm kühlte. Danach wurde sorgfältig ein neuer Verband angelegt.

Nach zehn Tagen war Boris über dem Berg und spazierte wieder durchs Dorf. Neugierig schaute er in die Höfe, begrüßte alte Bekannte und ergatterte manch kleinen Leckerbissen.

Nun lag er auf seiner Decke, atmete den vertrauten Geruch und fühlte sich wohl.

Von weither schwang ein langer, klagender Ton über das kalte Land.

Einauge!

Boris sprang auf, seine Nackenhaare stellten sich hoch. Aus seiner Kehle kam dieses dumpfe Grollen, das jedem einen Schauer durch den Körper jagte. Plötzlich war die Erinnerung an den vergangenen Kampf wieder da. Boris sah sich am Berg dem Wolf gegenüber.

Bevor sich die beiden Rudelführer aufeinander stürzen konnten, war alles vorbei. Mit Hilfe der herbeigeeilten Verstärkung schlugen Hirten und Hunde die Angreifer in die Flucht. Die Wölfe hatten keine Chance mehr. Einauge war klug genug, dies einzusehen und machte sich mit dem Rest seiner Grauen davon. Boris wollte hinterher, doch nach drei Sätzen knickte er mit dem Hinterteil weg und fiel schwer auf die Seite. Dann verlor er das Bewusstsein.

Die Hirten beratschlagten kurz, bevor der größte Teil von ihnen mit den unverletzten Hunden zur Verfolgung aufbrach. Sie durften keine Zeit verlieren. Wenn die Rinder auch bergan nicht so schnell liefen, so fachten die hetzenden Wölfe deren Angst immer wieder an. Irgendwann würden sie aber nicht mehr weiter können und einfach stehen bleiben. Falls die Hirten dann nicht bei ihnen waren, fielen die Wölfe über sie her und rissen in ihrer Gier sämtliche Tiere.

Die Hunde bluteten aus zahlreichen Wunden, aber keiner war ernsthaft verletzt. Alle konnten aus eigener Kraft weiterlaufen. Außer Boris. Kasim, der alte Hirte, zimmerte aus dünnen Stämmen eine Trage, die eines der Packpferde zog. Auf der Trage lag mit geschlossenen Augen Boris. Er atmete nur noch schwach. Sein Leben hing am seidenen Faden.

Eine Träne stahl sich aus Kasims Auge und rann ihm langsam über die Wange, bevor sie in seinem Bart gefror. Er mochte dieses Tier.
Die Hirten verband im allgemeinen keine besondere Beziehung mit ihren Hunden. Sie wurden gefüttert, bei Krankheiten gepflegt, ansonsten sich selbst überlassen. Natürlich war ein guter Hund viel wert. Die Owtscharki hielten den Herden die Räuber fern. Ohne sie wäre die Schlacht mit den Wölfen verloren gegangen. Aber es waren halt nur Hunde, weiter nichts.
Nicht so Boris.
Er fiel dem alten Hirten schon während seiner ersten Lebenswochen auf. Kasims kundiges Auge erkannte schnell, dass aus dem wuschligen Wollknäuel etwas Besonderes werden sollte. Der spätere Rudelführer verbrachte seine Welpenzeit fast nur in Kasims Nähe. Er durfte sogar in sein Haus, wenn auch der Alte dafür von allen belächelt wurde.
‘Ein Hund im Haus! Wo hatte man denn so etwas schon gehört?’
Kasim machte sich nichts aus den gutmütigen Spötteleien und gewann mit Boris einen treuen Freund.

Nun lag dieser Freund vor ihm, mehr tot als lebendig, und Kasim konnte nichts für ihn tun. Er hatte gesehen, wie sich die beiden Rudelführer gegenüberstanden und gehofft, einen guten Schuss anbringen zu können. Vergeblich! Ein Glück, dass die Wölfe fliehen mussten. Das Duell hätte der verwundete Hund verloren.

Vier Tage später begrüßten die Frauen und Kindern des Dorfes jubelnd die Heimkehrer. Der Hauptteil der Herde war schon vor ihnen angelangt. Die Rinder liefen zwar langsam, hatten aber einen gehörigen Vorsprung. Sie selbst mussten oft Rast einlegen, weil die Hunde nicht schneller vorwärts konnten.
Jeder zeigte sich begierig, die Erlebnisse der anderen zu erfahren. Alle atmeten erleichtert auf, als Kasim vom guten Ausgang des Kampfes berichtete. Kasim und seine Begleiter fanden ihre Herde satt und zufrieden in den Ställen vor.

Nach zwei Tagen kam die dritte Gruppe mit dem Rest der Tiere. Insgesamt verlor das Dorf zwar acht Rinder. Angesichts aller Umstände war dies zu verschmerzen.
Einige Wölfe töteten sie, dem Rest brachten sie gehörig das Laufen bei. Die gehetzten Rinder holten sie bald ein, gönnten ihnen einen Tag Ruhe und machten sich dann auf den Heimweg, diesmal ohne Aufenthalt.

Der Winter hatte Mitleid. Er brachte weder neuen Schnee noch Eiseskälte. Selbst dem Wind gefiel es, sich zurückzuhalten.

Bald darauf feierte das Dorf ein großes Dankesfest.
Ochse und Hammel brieten am Spieß über dem offenen Feuer. In großer Runde erlebten alle die glücklich überstandenen Ereignisse noch einmal. Natürlich wurden die Erzählungen prächtig ausgeschmückt und mit heldenhaften Taten des Erzählers angereichert. Zustimmende Gesten und Worte begleiteten jeden Vortrag. Sie vergaßen während des Abends aber auch ihre tapferen Hunde nicht. Jeder von ihnen bekam einen extragroßen Knochen.

Als Kasim vom Schwarzen Wolf berichtete, erhob sich ein Raunen. Jeder hatte schon von dem einäugigen Dämon in Wolfsgestalt gehört. Wo der auftauchte, war das Unheil nicht weit. Alle hofften, dass er niemals wieder ihren Weg kreuzen möge.

Nach dem Fest zog Stille im Dorf ein. Der vorzeitige Winter zwang zur Ruhe. Die Tiere waren in den Ställen, Scheunen und Vorratskammern voll. Jetzt kam die Zeit der langen Abende, der Geschichten am Feuer, der Besinnung und der inneren Einkehr. Ruhe war nötig für Mensch und Tier, bevor die Vorbereitungen zur Jahreswendfeier begannen.




*****


Weit durch die kalte Winternacht schwang ein langer, klagender Ton. Der Schwarze Wolf stand am Steilhang und schickte mit hocherhobenem Kopf sein Lied zu den Sternen. Seit vielen Nächten kam er hierher und rief immer wieder die gleichen Fragen in den Wind.

“Hört mich einer?”
“Brüder, wo seid ihr?”
“Ich warte auf euch!”

Eisiges Schweigen war bislang die einzige Antwort. Nun, er würde es morgen wieder versuchen. Sie mussten ein neues Rudel finden. Eine andere Möglichkeit, den Winter in den Bergen zu überleben, gab es nicht. Allein konnte man jetzt nicht jagen.
Einauge wandte sich ab und kletterte den Hang hinunter. Er hatte einen Pfad entdeckt, der es ihm erlaubte, jede Nacht hier hoch und wieder hinunter zu steigen.

Seit der verlorenen Schlacht und der vernichtenden Lawine waren viele Tage vergangen. Einauge zählte sie nicht.
Sie hielten sich mit allerlei Kleinigkeiten am Leben. Einmal stieß er wie durch ein Wunder auf einen Bau voller Murmeltiere. In windgeschützter Lage, tief unterm Schnee versteckt, war die Erde kaum gefroren. Einauge grub die Nager aus und würgte sie alle. Das gab ein wahres Festessen für sie beide. Sonst war Schmalhans Küchenmeister. Mal ein Schneehase, mal ein erfrorener Vogel, lauter Vorspeisen.

Während seiner Streifzüge fand Einauge auf dem Boden der Schlucht eines der abgestürzten Rinder. Sogleich lief er zur Wölfin zurück, um sie hierher zu führen. Der Abstieg kostete sie zwar viel Kraft, jedoch wäre es selbst für so einen starken Wolf wie Einauge unmöglich gewesen, ihr ständig aufs neue von dem Fleisch zu bringen. Mit ihren kräftigen Kiefern brachen sie aus dem steinhart gefrorenen Körper Stücke heraus, die sie einfach hinunterschlangen. Im Magen taute das Fleisch schon auf.

Für einige Zeit waren die Wölfe also versorgt.
Sie vergrößerten eine Kuhle im Hang zu einer bescheidenen Unterkunft. Eine überhängende Riesenfichte bewahrte diese Wohnung vorm Zuschneien. Auch schützte sie vor dem Wind.
Von Tag zu Tag fiel mehr Schnee. Er konnte ihnen zwar nichts anhaben aber viel länger durften sie nicht bleiben. Wenn auch das Rind noch einige Tage Nahrung lieferte, einmal war selbst der reichlichste Vorrat aufgezehrt. Vielleicht lag dann schon so viel Schnee, dass sie nicht mehr aus der Schlucht herausfanden. Es wurde immer schwieriger, den schmalen Pfad bergauf zu laufen. Einauge schaffte es noch, für seine Gefährtin war der Aufstieg unmöglich. Noch gab es einen anderen, sicheren Weg nach draußen. Die beiden Grauen warteten nicht länger.

Einauge führte sie sicher heraus.
Der Wölfin quälte sich durch den hohen Schnee. In ihrer Brust wütete noch immer der Schmerz.
Kurz, bevor der Weg sanft nach oben anstieg, fanden sie die Überreste eines weiteren Rindes. Ringsumher die Spuren zweier Luchse. Die Katzen hatten sich an dem Fleisch gütlich getan. Sicher kamen sie wieder.

Die Wölfe verspürten keine Lust, sich mit ihnen anzulegen und liefen weiter. Sie verließen die Schlucht und suchten einen Abstieg.
Die Wölfin war müde.

Im Tal lag der Schnee weniger hoch, pfiff der Wind nicht gar so eisig wie in den Bergen.
Sie fanden einen alten, unbewohnten Bau. Vielleicht hatte er sogar einmal ihnen gehört.
Die Wölfe wussten nichts von der Heiligen Nacht, die über dem ganzen Land lag und nichts von der bevorstehenden Jahreswende, die nach den Kalendern der Menschen bald erfolgen würde.
Sie hatten nur Augen füreinander.
Die Ranzzeit begann.
Einauge lief den ganzen Tag um seine Gefährtin herum, beroch und beleckte sie, paarte sich mit ihr, brachte ihr frische Beute. Obwohl schon im reiferen Alter, benahm sich der Wolf wie ein frischverliebter Jüngling. Die Wölfin erwiderte gern seine Zärtlichkeiten.

Während der nächsten Wochen spürte sie, wie sich ihr Körper veränderte. Immer öfter zeigte sie ihrem Gefährten die kalte Schulter. Schließlich hatte die Wölfin genug von seinen Aufdringlichkeiten und schnappte nach ihm. Weil Einauge nicht sofort verstand, dass die schöne Zeit zu Ende sein sollte, bedachte sie ihn überdies mit Knurren und Zähnefletschen.
Der Wolf bestand nicht weiter auf seinem Vorhaben und trollte sich. Er lief durch den endlosen Wald, über verschneite Wiesen und zugefrorene Bäche. Ohne Ziel trieb es ihn weiter und weiter. Stunden später machte er am Rand einer weiten Ebene halt.

Die weiße Fläche strahlte und funkelte, als wäre sie dick mit glitzerndem Sternenstaub bestreut. Am Horizont, im Dunst des Tages fast nicht zu erkennen, zeigten sich die mächtigen Berge. Die Tannen am Waldrand neigten ihre Zweige unter der weißen Last. Schüttelte einer der oberen Äste unwillig seinen Schmuck ab, sei es durch einen Windhauch, die Berührung eines Vogels oder durch einen frechen Sonnenstrahl, so pflanzte sich die Bewegung fort, und alle Zweige wippten froh nach oben.

Von Tag zu Tag stieg die Sonne ein Stückchen höher und verlängerte dabei ihren Aufenthalt am Himmel um einige Minuten. Der richtige Winter stand aber noch bevor. Es wurde kälter, und kälter. Die Quecksilbersäule sank unter minus dreißig Grad und hatte noch keinen Boden gefunden. Dem Wolf machte dies nichts aus. Sein dicker Pelz schützte ihn zuverlässig vor großer Kälte.

Einauge hatte keinen Blick für die Schönheit der Natur. Er stand am Waldrand und schaute lange über den Schnee. Schließlich hob er seinen Kopf und ließ den ewig alten Ruf seiner Vorfahren über die Ebene klingen.

Nach kurzer Pause gab ein vielstimmiger Chor die lang erwartete Antwort.



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