Das Duell (7+8)

Wolf-Wolle

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Das neue Jahr begann.
Der Winter machte allen klar, dass sie bis jetzt nur einen kleinen Vorgeschmack dessen erlebt hatten, wozu er fähig war. Eine Probe sozusagen, der nun das Hauptspiel folgte.
Es wurde so kalt, dass den Menschen ihr Wort im Mund gefror, ehe sie es ausgesprochen hatten. Schuld daran war der seit Tagen grimmig blasende Nordwind, der den Wolfsziegel auf den Dächern zum Klingen brachte.
Der Wolfsziegel war eine sinnreiche Erfindung. Speziell geformte Holsteine wurden so kunstvoll auf dem Dachfirst eingemauert, dass sie ab einer bestimmten Windstärke aus Norden einen klagenden Ton von sich gaben. Auf wunderbare Weise funktionierte dies nur im Winter. Sicher spielte dabei die Festigkeit des Materials und die Veränderung der Struktur bei extrem tiefen Temperaturen eine Rolle. Tatsächlich ließ der Ziegel sein Lied nur hören, wenn es sehr kalt wurde. Die Menschen wussten, was das bedeutete. Das Wild zog sich in noch tiefere Regionen zurück. Die Wölfe folgten. Dabei würden sie auch das eine oder andere Stück Vieh stehlen wollen. Hunger macht mutig und lässt den ansonsten eher feigen Räuber jede Vorsicht und Scheu vergessen.

Als der Ziegel das letzte Mal vor sechs Jahren erklang, versuchten die Wölfe mehrmals, in die Ställe einzudringen. Es gelang ihnen nicht. Darüber hinaus bezahlten etliche der Grauen ihre Tollkühnheit mit dem Leben. Seither hatte es nicht wieder einen so strengen Winter gegeben. Bis jetzt.

Die Räuber waren listig und schnell. Kasim erinnerte sich noch gut, wie sie damals Tag und Nacht Wache hielten. Er selbst tötete einen der Angreifer mit dem Messer, als dieser, angeschossen und wahnsinnig vor Schmerz, ihm an die Kehle wollte. Eine hässliche Narbe am Unterarm zeugte von der Kraft der mächtigen Reißzähne, mit denen der Wolf in seiner verzweifelten Wut durch die dicke Pelzjacke gedrungen war.
Die ungewöhnlich großen Exemplare der Waffen jenes Raubtieres ergänzten auf besondere Weise Kasims Trophäensammlung. Das schöne, dicke Fell tat im Haus gute Dienste.

Jetzt warnte der Ziegel wieder.
Die Hirten machten sich in diesem Jahr nicht allzu große Sorgen. Das Rudel der Grauen war auseinander getrieben und zum größten Teil vernichtet. Die wenigen, überlebenden Wölfe stellten keine Gefahr dar. Allerdings gab es noch den Schwarzen! Kasim hatte Furcht bei seinem Blick empfunden. Das war kein gewöhnliches Tier. Das war der Teufel in Wolfsgestalt. Dem konnte man alles zutrauen.

Das Leben im Dorf kam fast zum Erliegen.
Die Menschen gingen nur aus ihren Häusern, wenn es unbedingt notwendig war. Der Wind heulte, brachte Schnee und abermals Schnee. Er türmte die weiße Pracht an manchen Häusern bis zu den tiefhängenden Dächern. Das ergab einen guten Schutz gegen Kälte.
Die Hunde taten es den Menschen gleich und steckten ihre Nasen nicht allzuoft in die Winterluft. Boris lag fast den ganzen Tag auf der Decke im Pferdestall.

Nachts lief er trotz der Kälte noch immer seine Runde, trabte die freigeschaufelten Wege entlang, inspizierte die Ställe und Vorratshäuser und schaute auch außerhalb des Dorfes nach dem Rechten. Meist begleiteten ihn seine Schwester Tschaika und der junge Igor.
Die anderen Owtscharki kontrollierten ebenfalls regelmäßig ihre Strecken und Plätze, wie dies ein pflichtbewusster Herdenschutzhund eben zu tun hat.
Man traf sich, begrüßte und beschnupperte sich und ging weiter seines Weges.

Boris war wieder völlig in Ordnung. Sein robuster Körper gewann den Kampf gegen das Fieber. Die Wunde vernarbte. Seine Kraft kehrte zurück. Auch bei den anderen Hunden gab es keine Spuren der Verletzung mehr.
Das Heulen das Schwarzen Wolfes erscholl seit langer Zeit nicht mehr. Hatte er in ein anderes Revier gewechselt? Im Traum stand Boris immer wieder seinem Feind gegenüber. Er wuffte und quiekte leise im Schlaf und seine Pfoten zuckten, als wolle er sich im nächsten Moment auf Einauge stürzen. Der Kampf schien noch nicht vorbei.




*****


Sie kamen nicht nachts und auch nicht in der Dämmerung. Der Angriff erfolgte eine Stunde nach Mittag. Niemand wusste später zu sagen, warum keiner der Hunde Alarm geschlagen hatte.

Über dem Dorf lag sonntägliche Stille. Der vom reichhaltigen Essen volle Bauch stachelte zu einem Schläfchen an.
Seit gestern hatte der Wind nachgelassen und wehte nur noch als leichte Brise. Die dicken Wolken warfen ihre Last ab und machten der schon ungeduldig wartenden Sonne Platz. Die gab sich auch redlich Mühe, ihre Abwesendheit während der letzten Wochen durch besonders viel Freundlichkeit wettzumachen. Der Schnee reflektierte die warmen Strahlen so stark, dass einem die Augen schmerzten.
Menschen und Tiere ruhten.
Ein schöner Tag.

Die Wölfe fielen unbemerkt in den Ort ein.
Sie kamen gegen den Wind und nicht in breiter Front. In schnurgerader Linie hetzten sie heran, einer hinter dem anderen. Fünfzehn, zwanzig, graue Räuber folgten ihrem schwarzen Anführer. Nicht annähernd so furchteinflößend wie dieser, jedoch alle ungewöhnlich groß und fast wahnsinnig vor Hunger. Nichts und niemand hätte sie aufhalten können. Zielgerichtet liefen sie zum Schafstall, dessen Bewohner sich auf der Außenfläche tummelten. Bevor diese wussten, was geschah, lagen die ersten tot im Schnee. Der Rest lief einige Meter weiter und drängte sich blökend in eine Ecke. Die Wölfe kümmerten sich nicht um die verängstigten Tiere. Sie fielen über die bereits erlegte Beute her und rissen sie gierig in Stücke.

Die Grauen waren ausgehungert. Anderenfalls hätten sie solch einen tollkühnen Überfall wohl nicht gewagt. In Windeseile schlugen sie sich die Bäuche voll. Ihre Zeit war knapp bemessen. Die Hunde hetzten heran!
Obwohl in der Überzahl, stellten sich die Angreifer nicht zum Kampf. Sie wichen aus, solange es möglich war und fraßen bis zur letzten Sekunde.
Jetzt eilten auch die Hirten herbei. Aufgeschreckt aus ihrer Sonntagsruhe brauchten die Menschen etwas länger als ihre Vierbeiner, die aus allen Ecken des Dorfes heranstürmten.

Die Wölfe wandten sich zur Flucht.
Sie hatten ihr Ziel erreicht. Wenn auch nicht zum Platzen voll, so bekam doch jeder eine ordentliche Magenfüllung ab. Das musste genügen.

Die Angreifer rannten nach allen Seiten davon und machten somit eine geordnete Verfolgung unmöglich. Allerdings hätte diese auch wenig Aussicht auf Erfolg gehabt. Selbst mit vollem Magen waren die Grauen zu schnell für die vierbeinigen Wächter.
Einige der Räuber wurden von den Hirten erschossen. Der Rest gab gehörig Fersengeld. Fürs erste sollte es auch genügen, die Wölfe vertrieben zu haben. Viele lebten ohnehin nicht mehr.

Der schwarze Anführer lief als erster davon. Bevor er aus dem Gesichtskreis des Dorfes verschwand, blieb er stehen und schaute zurück. Sein brennender Blick schweifte über das Gelände und blieb an dem Owtscharka hängen, der mit kraftvollen Sätzen heranstürmte.
Für einen Augenblick war es, als ob die Zeit gefror. Dann wandte sich Einauge um und floh weiter.
Der Owtscharka folgte ihm.


*****


Boris träumte.
Vor ihm lag ein wundervoller Knochen, ein Knochen mit viel Fleisch dran. Ihm lief das Wasser im Maul zusammen. Speichel tropfte von seinen Lefzen. So ein Riesending hatte Boris noch nie im Leben gesehen. Er fuhr sich mit der Zunge über die Nase und ging vorsichtig näher. Der Knochen roch nach Pferd. Das war sehr merkwürdig. Boris hatte noch nie Fleisch von einem Pferd gefressen. Er mochte Pferde. Aber der Knochen lag vor ihm und duftete verführerisch. Pferd hin, Pferd her, das Stück war für ihn bestimmt, sonst wäre es nicht da. Er würde es jetzt fressen, basta! Mit diesem Entschluss ging Boris den letzten Schritt und schnappte sich den Brocken.
Klack!
Seine Kiefer schlugen aufeinander. Der Knochen war weg!
Verblüfft suchte Boris den Platz ab. Nichts! Der Knochen blieb verschwunden. Er schaute hoch und sah eine Herde blökender Schafe vor sich.
Ob die seinen Knochen hatten?
Unsinn! Schafe fressen kein Fleisch. Die mochten doch nur Grünzeug.
Was brüllten die überhaupt so fürchterlich? Davon bekam man ja Ohrenschmerzen. Er tat ihnen doch nichts.
Die Schafe blökten weiter. Sie klangen jetzt ängstlich, furchtbar ängstlich.

Boris schlug die Augen auf und stand im gleichen Moment auf den Beinen. Neben ihm stampften die Pferde unruhig hin und her. Draußen schrien die Schafe in Todesangst.

Einauge!

Boris wusste sofort, dass sein alter Feind die Ursache für den Lärm war.
Mit einem Satz sprang der Hund zum Tor.
Verschlossen!
Er rannte mit der Schulter dagegen, dass die Balken ächzten.
Vergeblich!
Jemand hatte von außen den Riegel vorgelegt.
Das durfte nicht sein!
Im Dorf tobte die Schlacht, und er gelangte nicht aus dem Stall!
Verzweifelt bellte und jaulte er, kratzte am Holz und stemmte sich dagegen.
Hörte ihn denn keiner?
Plötzlich gab das Tor nach.
Endlich!
Der Flügel schwang auf.
Fluchend rappelte sich ein Mann aus der Schneewehe hoch, in die ihn der schwere Hund geworfen hatte. Dann lief er Boris hinterher und reinigte im Laufen sein Gewehr vom Schnee.
Boris rannte in Richtung des Tumultes. Zum Blöken der Schafe gesellte sich wütendes Knurren, Gebell und Geschrei. Er überholte zwei Hirten, bog um die letzte Ecke und überblickte sofort die Situation.

Überall lagen tote, teils angefressene Schafe im blutroten Schnee. Vereinzelt kämpften Hunde und Wölfe miteinander, Schüsse fielen. Ein Wolf überschlug sich, als ihn die Kugel wie eine Riesenfaust im Sprung traf. Ein zweiter wurde am Boden erschossen. Boris schaute sich um. Hier wurde er nicht mehr gebraucht. Die flüchtenden Wölfe hatten soeben den Dorfrand erreicht, als der hinten laufende zusammenbrach und sich sterbend im Schnee wälzte. Ein Schuss dröhnte.

Kasim war auf die Knie gegangen, als er sein Gewehr abfeuerte. Der anderen Grauen rannten weiter, schon zu weit entfernt für eine sichere Kugel.

Boris lief los.
Er sah Einauge nicht, spürte ihn jedoch überall. Boris durfte den Schwarzen nicht entkommen lassen.
Der Hund wurde schneller.
Er stürmte mit langen Sätzen aus dem Ort, sah weder nach links noch rechts und hörte nicht Kasims Ruf.
Der Tag war gekommen!
Diesmal hatte Einauge zuviel gewagt!
Ohne ihren schwarzen Anführer wären die Wölfe nicht in das Dorf eingefallen und hätten auch nicht die Schafherde angegriffen.
Er musste sterben.

Soeben verschwand der Flüchtende hinter einer Schneewehe, auf der er für wenige Augenblicke gestanden und zurückgeschaut hatte. Der Owtscharka wurde langsamer und schleckte den frischen Schnee. Dann fiel er in einen leichten Trab. Dieses Tempo konnte er stundenlang durchhalten.

Boris tauchte in die Düsternis des Waldes ein. Die Ebene lag hinter ihm. Dank des Schnees, der sein Weiß überall verstrahlte, wurde die sonst herrschende Dämmerung erhellt. Allerdings hätte Boris auch bei völliger Dunkelheit die Spur gefunden.

Die Geräusche des Dorfes drangen nicht bis hierher.
Boris war allein. Dies kümmerte ihn wenig. Er dachte auch nicht daran, dass er vielleicht sterben könnte. Wichtig für ihn war nur, Einauge zu finden und ihn zu töten. Wenn es ihm diesmal nicht gelänge, würde er den schwarzen Wolf niemals besiegen.

Die Sonne schickte den Tag zu Ruhe und rief die Nacht in die Berge. Noch immer war es wolkenlos. Der Frost würde nach Einbruch der Dunkelheit wieder einen gehörigen Anlauf nehmen.

Auf dem festen Schnee fiel das Laufen leicht. Boris sank nicht ein. Seine Sinne waren nach vorn gerichtet. Nichts vermochte ihn von seinem Vorhaben abzubringen.

Ruhig und gleichmäßig trabte der Owtscharka dahin, seinem größten Kampf entgegen.
 



 
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