Peter Januhs
Mitglied
Das Einrad
Mit äußerster Sorgfalt verteilte er die Schminke großzügig in seinem runzligen Gesicht. Er färbte die rissigen Lippen knallrot ein. Die glasigen Augen wurden schwarz umrandet. Natürlich trug er auch heute wieder das Rouge als letztes auf, wie eigentlich jeden Mittwoch und Samstag. Er hatte das schon so oft gemacht, sechsundvierzig Jahre lang, jeden Mittwoch und Samstag. Er klipste die beiden Hosenträger zu, die Hose passte nun schon seit sechsundvierzig Jahren. Nach der Perücke brauchte er nicht lange zu suchen, sie hatte seit sechsundvierzig Jahren einen festen Platz auf einem hölzernen Kopf. Er hatte ihn damals selbst geschnitzt. Er sprang aus dem Wagen auf die Wiese - kein Tusch! Routiniert stieg er auf sein Einrad und fuhr los. Selbst in dem weichen Gras auf dieser unebenen Rasenfläche verlor sein Auftreten nicht an Sicherheit. So ein Quatsch, wieso sollte man mit 63 auch auf einen Schlag das Einrad fahren verlernen? Das ist wie Fahrrad fahren - das verlernt man nicht! Aber das wollten sie ja nicht verstehen. Du kannst natürlich weiterhin bei uns arbeiten. Wir hoffen sogar, dass du weiterhin bei uns arbeitest. Aber das mit dem Einrad…du bist ja auch nicht mehr der Jüngste. Natürlich wissen wir zu schätzen, was du in den letzten sechsundvierzig Jahren alles geleistet hast. Und jetzt, wo Papa tot ist - jetzt bist du der Erfahrenste hier. Aber ich muss ja auch auf die Sicherheit achten, ich bin ja hier verantwortlich. Und wenn etwas passiert… Ich hoffe, du kannst meine Entscheidung verstehen.
Pah, verstehen. Soll er doch sehen, wie er alleine zurecht kommt. Der Senior hätte das nie zugelassen. Dabei hatten sie sich früher so gut verstanden. Dem werd ich’s zeigen! Mit 63 plötzlich zu alt, nachdem es sechsundvierzig Jahre problemlos ging. - Natürlich musste er das nicht mehr machen. Aber er tat es, weil er es konnte, weil er es noch konnte! Warum sollte er es auch nicht mehr können? Das ist wie Fahrrad fahren - das verlernt man nicht! Aber das wollten sie ja nicht verstehen. Die Innenstadt war, wie jeden Samstagmorgen, gut besucht. Er holte die fünf kleinen Bälle aus der Seitentasche seiner karierten Weste. Er hüpfte mit dem Einrad durch die Spielstraße. Vorwärts und rückwärts. Und rückwärts und vorwärts. Alles kein Problem. Wieso sollte es auch ein Problem sein, nachdem es sechsundvierzig Jahre lang keins war? Geschickt fuhr er im Slalom um die Pfeiler, die die Autos davon abhielten, die Fußgängerzone zu befahren und als er die Augen wieder öffnete, blickte er in das Gesicht des Juniors. Er habe Glück gehabt, gab ihm die Krankenschwester zu verstehen.