Das Ende des Sommers

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DarkskiesOne

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Träge blinzelnd blicke ich auf das unendliche Meer hinaus. Beobachte schläfrig, wie Woge um Woge gegen den Strand schlägt, sich schäumend ausbreitet, mit gieriger Zunge nach dem Ufer greift und sich schliesslich wieder zurückzieht, Muscheln und Meeresgetier im feuchten Ufersand zurücklassend. Der stetige, unveränderliche Rhythmus ist es, der mich in tiefe Ruhe versinken lässt. Ein Zustand, der in einer Welt der hektischen Betriebsamkeit keinen Atem findet. Der Sommer neigt sich seinem Ende entgegen. Die staubige, lähmende Hitze ist einer schmeichelnden Wärme gewichen, welche tröstlich auf sanft gebräunter Haut liegt. Vom Wasser zieht der Geruch nach Salz und Seetang herüber. Ich lasse ihn auf der Zunge zergehen und bewahre den Geschmack für die Ewigkeit in meiner Erinnerung.
Nur eine Armlänge von meinem Handtuch entfernt, die Augen mit den tiefschwarzen geschwungenen Wimpern fest geschlossen, schläft Sean.
Ich stütze meinen Kopf auf den Ellenbogen und betrachte die friedlich schlafende Gestalt, als sähe ich sie zum ersten Mal. Das Haar dunkelbraun, beinahe von der gleichen Farbe wie mein eigenes, nach Wochen von der Sommersonne zu einem warmen Zimtton gebleicht.
Hätte er die Augen geöffnet, würde sein tiefgrüner Blick mich dabei ertappen, wie ich sein Profil bewundere. Niemals werde ich müde werden, diese Nase zu betrachten, sein trotziges Kinn, die vollen Lippen.
Ich greife eine Hand voll feinen Sand und lasse die Körner durch meine geöffneten Finger auf die Brust des Schlafenden herabrieseln.
Ruckartig setzt er sich auf, die schlaftrunkenen Augen sekundenlang verwirrt auf mich gerichtet. Dann kehrt er vollends aus seiner Traumwelt zurück, greift nach meiner Hand und lächelt sein ganz spezielles Lächeln für mich. Sein Lächeln, das ich wohl schon hunderte Male genossen habe. Grosse, weisse Zähne.
„Lass` uns ins Wasser gehen“, schlägt er vor und zieht mich auf die Füsse. Wie immer, wenn er mich berührt, wird mir warm. Zarte, verheissungsvolle Wärme, die leise in mir aufsteigt, mich erfüllt.
Warm, wie der Sand unter unseren nackten Füssen.
Dann sind wir im Wasser, smaragdene Kühle, die über unseren Köpfen zusammenschlägt und die Welt um uns herum für Sekunden einfach verschwinden lässt.
Immer wieder habe ich mich gefragt, ob irgendjemand es verstehen könnte. Gibt es andere, denen es wie uns ergeht? Wir standen uns immer schon sehr nahe. Seit ich denken kann, teilten wir all unsere kleinen und grossen Geheimnisse. Wurden mutige Verbündete im Kampf gegen die Welt der Erwachsenen mit ihren unzähligen Regeln, Verboten und Zwängen, welche uns nun doch ganz allmählich zu unterwerfen drohen.
Die Zeit ist ein körperloser Gegner. Wendig und unbesiegbar. Und während wir beide ein letztes Mal den Zauber des Augenblicks zu geniessen suchen, triumphiert sie bereits still über das unwiderrufliche Ende unserer Kindheit.
Prustend und nach Luft schnappend tauchen wir auf. Ich strampele mit den Beinen und greife nach seiner Schulter. Spielerisch zieht er mich an sich. Ich spüre seinen schlanken Körper nahe an meinem. Wie sehr er sich im Laufe der Jahre verändert hat. Die Hüften sind schmaler geworden, sein Oberkörper muskulöser. Manchmal kann ich in seinem Gesicht bereits die Züge des Mannes erkennen, der er einmal sein wird. Und auch die anderen Mädchen haben es bemerkt. Jahr für Jahr beobachte ich, zunächst mit ungläubigem Staunen, dann mit zorniger Eifersucht, wie sie schüchtern und unbeholfen um seine Zuneigung werben.
„Wer zuerst auf den Felsen ist“, reisst mich seine vertraute Stimme aus meinen Gedanken. Er lässt mich los und für einen Augenblick spüre ich den Verlust seiner Berührung als dumpfes Pochen in meinem Innern. Dann folge ich ihm im immerwährenden Wettkampf mit schnellen Zügen durch das klare Wasser.
Als ich erschöpft an den Felsen ankomme, streckt er mir die Hand entgegen und zieht mich zu sich auf die sonnenwarme, steinige Plattform, die von Meerwasser und Regen spiegelblank poliert ist und durch die Nässe unserer Körper langsam eine tiefschwarze Färbung einnehmen wird. Schweigend liegen wir dann ganz eng beieinander. Spüren, wie die Zeit uns davonläuft.
Mit der Zungenspitze lecke ich die salzigen, schillernden Tropfen von seiner bronzenen Haut und wünsche mir, wünsche dass wir niemals älter würden.
Und doch wissen wir beide, dass dies unser letzter Sommer sein wird.
Es darf nicht anders sein.
Die schlummernde Gefahr haben wir wieder und wieder scheu angetastet, zu ängstlich, sie zu erwecken. Und es ist besser so, auch wenn der unausgesprochene, verbotene Wunsch allgegenwärtig ist.
Ich vergrabe mein Gesicht in seinem Nacken, atme den Duft seines Körpers, zeichne mit meinen Fingerspitzen die Spur des hellen Flaums auf seinen Armen nach. Unsere Hände finden sich, Hände nur.
Auch ohne ihn anzusehen, kenne ich den Ausdruck auf seinem Gesicht. Diese Mischung aus Sehnsucht und Verzweiflung und eine Spur von Angst vor dem, was mit uns geschehen könnte, wenn wir es zuliessen.
Ich kann es nicht ertragen, diesen Ausdruck zu sehen, auf seinem Gesicht, das dem meinen so ähnlich ist, dem Gesicht von Sean, meinem Bruder.
 
M

Minds Eye

Gast
Hi DO,
ein gefühlvoll verträumter Text, bis man vom Ende jäh herausgerissen wird. Das ist gemein. Erst fühle ich mit, schwelge in der prickelnden Atmosphäre, dann habe ich ein schlechtes Gewissen. Super.
Gruß,
ME.
 

Traumtod

Mitglied
Wow.
Wahnsinn.

So rausgerissen wurde ich lange nicht mehr.
Wundervoll gefühlvoll, fantastisch bebildert, und dann dieses Ende.
Klasse!

Gruß
traumtod
 
R

rilesi

Gast
...

oh, einfach toll. mehr fällt mir dazu echt grad nicht ein. ein unglaublicher genuss von sprache und erleben.

viele grüsse, von rilesi
 

DarkskiesOne

Mitglied
Danke!

Hi rilesi,
ich freue mich über dein Lob!
Habe vor Jahren das Buch "Das Gewicht des Wassers" von Anita Shreve gelesen. Die Stimmung, die während der Lektüre in mir aufkam, hat mich zu dieser Geschichte inspiriert.
lieben Gruß
DO
 



 
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