Das Erbe

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Jasione

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Alles war vorbereitet.
Zufrieden begutachtete der Gastgeber den sorgsam eingerichteten Raum. Auf dem runden, frisch polierten Glastisch standen eine Schüssel Popcorn, zwei Weingläser und der teure, italienische Amarone. Die K.O.-Tropfen waren in seiner Jeansjacke von Ed Hardy. Er hatte sich jugendlich gekleidet. Fresh, sagte das junge Volk dazu. Pumuckl hatte sein Profilfoto damals mit diesem Wort kommentiert. In den letzten Jahren konnte er sich in den Chats ein umfangreiches Vokabular an Jugendslang aneignen. Das Rollo war auf Spalt ausgerichtet und tauchte den Raum in ein atmosphärisches Halbdüster. Alle verräterischen Fotos waren von den Schränken und Regalen beseitigt worden. Der DVD-Spieler war angeschlossen; darauf stapelte sich eine Auswahl an Filmen - FSK 18. Damit sammelte man Pluspunkte beim Jungvolk. Die quadratische Box mit den wichtigsten Utensilien des Abends wartete verborgen in der Schublade unter dem Fernseher. Ein vorfreudiges Kribbeln überkam ihm bei den Gedanken an seinen Besucher. 15 Jahre alt, männlich, Scheidungskind.

Es klingelte. Neugierig ging er zur Haustür. Ob sein Besucher so aussah, wie auf den Bildern? Meistens taten sie das nicht. Setzten sich in Pose wie Erwachsene, aber wenn sie real vor ihm standen, stanken sie geradezu nach kindlicher Naivität. In seinen Ohren dröhnte spannungsgetriebener Trommelwirbel. Der hölzerne Vorhang hob sich und zum Vorschein kam ein engelsgesichtiger, zierlicher Teenager mit einer, für sein Alter, wunderbar reinen, blassen Haut. Sicher von Natur ein Blondschopf, doch die Haare des Kleinen waren genauso pechschwarz, wie die Kleidung, die er trug. Der Gastgeber war erleichtert: Alles genau wie auf den Fotos. Die dunkelgefärbten Haare standen im krassen Kontrast zu den hellen, porzellanartigen Engelszügen, doch grade dieses unpassende machte es perfekt; aufgrund dieser exotischen, geheimnisvollen Ausstrahlung hatte er das Kind ausgewählt. Von Angesicht zu Angesicht wirkte sie noch anziehender. Dieser Junge war etwas besonderes, das spürte er. Er würde ihn Dark Angel nennen.

Kumpelhaft legte er den Arm um seinen Besucher und führte ihn zur Couch. Er gab gerne den väterlichen Freund für diese kleinen, verirrten Seelen. Scheidungskinder waren besonders dankbar. Das erinnerte ihn daran, dringend seine Tochter Marie vor den Gefahren des Internets zu warnen, wenn er sie beim nächsten Umgangstreffen sehen würde.
Auch sein dunkler Engel war von Anfang an ungeheuer anhänglich. Mit dem meisten Jungvolk musste man sich wochen- bis monatelang herumschlagen und sich ihre einschläfernden Pickel- und Schulprobleme anhören, bis man zum Eingemachten kommen konnte. Sein neuer Chatfreund hatte ihm bereits bei der zweiten Session bereitwillig und detailgetreu von seinen angeblichen sexuellen Abenteuern berichtet. Der Gastgeber fühlte sich geschmeichelt, wenn die niedlich-naiven Jungfrauen ihn mit ihren Märchen zu beeindrucken versuchten. Dark Angel hatte sich ihm regelrecht aufgedrängt. Der Vorschlag, sich bei seinem älteren Chatpartner zuhause zu treffen, kam von dem Jungen. Armer vater- und ahnungsloser Bastard. Er machte es ihm fast zu leicht. Nun saß sein Besucher auffällig dicht neben ihm auf der Couch und sah ihn erwartungsvoll an. In seiner Jeanstasche spürte der Gastgeber die Schwere des K.O.-Tropfen-Fläschchens.

„Magst du Horrorfilme?“ Natürlich mochte der Kleine Horrorfilme. Auch die, die sie nicht mochten, sahen sie sich an. Es war amüsant. Das Letzte was Kinder wollten, war als Kind betrachtet zu werden – und wenn sie sich dafür durch ein zweistündiges Blutgemetzel quälen mussten. Wie er den Schrecken auf ihren Gesichtern genoss. Es war ein ausgezeichnetes Vorspiel.
Der Engel durchstöberte die Filmsammlung, während der Gastgeber die Gunst der Stunde nutzte, den Wein des Kleinen zu versüßen. Manchmal machte er sich den Spass, selbstproduzierte Filmchen unter die Hollywood-Blockbuster zu mischen. Erneute Erinnerungen an Pumuckl kamen ihm in den Sinn. 13 Jahre alt, rothaarig, mit zwei chronisch kranken Geschwistern, die der alleinerziehenden Mutter alle Aufmerksamkeit abverlangten. Pumuckl suchte sich seine Aufmerksamkeit im Internet. Der Gastgeber gab sie ihm gerne. Er musste Marie unbedingt erklären, dass in den Weiten des Netzes nichts so war wie es schien und sie besser niemandem vertrauen sollte...
Pumuckl hatte damals eins seiner Werke ausgewählt. Der Knabe hatte keine Ahnung gehabt, was er sich da ansah, als er, den gefühlten Horror weg lachend, neben ihm auf der Couch saß. Noch weniger hatte er Ahnung, dass auch er bald zum erlauchten Kreis der Filmdarsteller gehören würde. Sein zarter Körper machte sich gut in Kombination mit der klobigen Heckenschere.

„Pumuckl, Goldlöckchen, Sunny eyes... was sind das für Filme?“ Die Frage seines Besuchers holte ihn zurück in die Gegenwart.
Ah, Goldlöckchen.. eins seiner Lieblingsstücke. Das elektrische Küchenmesser war darin zum Einsatz gekommen.
„Willst du es dir ansehen?“ fragte er hoffnungsvoll.
Doch Dark Angel kehrte mit der Uncut-Version von Dawn of the Dead zur Couch zurück. Enttäuscht legte der Gastgeber die Disc in den Spieler ein.
„Ich finde es schön, hier bei dir zu sein … Ich denke, du kannst mich wirklich verstehen ... Du bist mir ein richtiges Vorbild.“ Blablabla...So ging es während des kompletten Vorspannes. Der Junge schien doch nicht besonderer als seine Vorgänger zu sein. Wie oft er dieses Scheidungskinder- und Vaterlosen-Geschwätz schon gehört hatte. Es wurde Zeit auf einen erfolgsversprechenden Abend anzustoßen. Gläser klirrten, und, wie viele seiner unerfahrenen, nervösen Gäste, leerte der dunkle Engel den Inhalt seines Trinkgefäßes in einem Zug. Jetzt hieß es warten. Er hatte penibel darauf geachtet, die Tropfen nicht überzudosieren. Für den Filmdreh mussten seine Protagonisten bei Bewusstsein bleiben. Eins der schönsten Sachen am Drehen war es, den Blick in ihren Augen festzuhalten, wenn die Kinder begriffen, dass es für sie kein Happy End geben würde.

„Was willst du nach dem Film machen?“ Die Frage des Jungen klang wie ein Angebot und das missfiel dem Gastgeber. Er wollte nicht für einen dieser notgeilen Kerle gehalten werden, der minderjährige Kids zum Sex in sein Haus lockte. Er hasste es die Jugendchats dieser Welt mit solchem Abschaum teilen zu müssen, doch gab es nunmal keinen besseren Ort zum Casten seiner Darsteller. Er war keiner dieser Lüstlinge. Er war ein Künstler. Ein Virtuose des Grauens. Wie gerne würde er jetzt die Box hervorholen, in der seine Werkzeuge parat lagen: Die Kamera, die Maske, die Seile, Messer und Scheren in jeder erdenklichen Ausführung, die erregend langen, spitzen Nadeln, der Nussknacker, das Feuerzeug, der Leim, das Salz; eine liebevoll zusammengestellte Komposition, die ihn befähigte, mit dem Schreien, Schluchzen und Flehen, wahre Musik aus den Kehlen seiner Darsteller zu zaubern. Nicht mehr lange und sie würde zum Einsatz kommen.

Seine wichtigste Requisite saß neben ihm auf der Couch, noch keine sichtbare Reaktion auf den speziell präparierten Wein zeigend. Emotionslos griff der Kleine nach dem Popcorn, während er beobachtete, wie ein Zombie einem keuchenden Mann den Hals zerfetzte. Ob man einem Menschen wirklich mit bloßen Händen und Zähnen Kehlkopf und Luftröhre herausreißen konnte? Vielleicht würde er es heute bei dem Jungen probieren, aber erst ganz zum Schluss. Dark Angel blickte ihn an und lächelte. Seine Gesichtszüge wirkten verzehrt. Ob er etwas ahnte? Doch nicht nur die Züge des Teenagers verzogen sich zu einer abstrakten Gestalt. Der ganze Raum flimmerte und verschwamm zu einem sich drehenden, bunten Sog, der Benommenheit und Übelkeit beim Gastgeber hervor rief. Irgendetwas war ganz und gar nicht in Ordnung. Was wurde hier gespielt? Panik ergriff ihn; kalter Angstschweiß rann seinen Nacken herunter. „Alles in Ordnung?“ erklang Dark Angels Stimme aus weiter Ferne, dann war da nur noch Schwärze.


Der Gastgeber schlug die Augen auf. Um ihn herum richteten sich die kahlen, grauen, schalldichten Betonwände seines Filmzimmers auf. Wie war er hierher gekommen? Er versuchte sich zu bewegen und stellte fest, dass er mit Armen und Beinen an einen Stuhl gefesselt war. Die klamme Kälte des Kellers umspielte seine unbekleidete Brust. Seine Hose war ebenfalls verschwunden.
„Hallo Schlafmütze!“ Dark Angel stand mit der Popcornschüssel in der Tür und lächelte sein geheimnisvolles Lächeln. Der Junge kam näher, setzte sich auf seinen Schoß und schlang die Arme um ihn. Sein Gesicht war so nahe, dass der Gastgeber den rotwein-geschwängerten Atem auf seiner Haut spüren konnte.
„Ich hatte schon Angst, ich hätte es mit meinen K.O.-Tropfen übertrieben, dabei kann ich die Dosis sonst sehr gut einschätzen. Du hattest schon etwas in mein Glas getan, oder? Darum warst du so lange ausgeknockt.“
„Du hast die Gläser vertauscht?“ Darum zeigte der Junge also keine Reaktion.
„Als du die DVD angestellt hast. Reine Vorsichtsmaßnahme. Aber keine Sorge... ich habe die Wartezeit gut überbrückt. Habe mich bei dir umgeschaut. Ich habe Goldlöckchen gesehen. Ein Meisterwerk. Respekt! Und ich habe deine Box gefunden.“ Dark Angel zog die schwarze Ledermaske aus seiner Hosentasche und wedelte mit ihr vor dem Haupte des Gastgebers herum. Dann stülpte er sie über. Die Maske verdeckte mit dem blassen Gesicht nun auch den letzten hellen Anteil des Engels. Nur Mundpartie und die dunklen Pupillen blieben frei. Nun da die Engelszüge fort waren, fiel dem Gastgeber die Kaltblütigkeit in den Augen des Teenagers auf. Doch jetzt war es zu spät.

Dark Angel zog ein Messer aus seinem Gürtel. Lasziv glitt er mit der Zunge über die breite, aufblitzende Schneide der Waffe. Dann zeichnete er einen geraden roten Schnitt quer über den Bauch des Gastgebers, gefolgt von kunstvollen Ritzereien auf der Brust. Er schnitt so tief ins Gewebe, dass das Blut ungehindert strömen konnte, jedoch nicht tief genug um die Eingeweide oder lebenswichtige Blutgefäße zu beschädigen. Der Gastgeber hätte dem Können des Kleinen Respekt gezollt, wäre er nicht damit beschäftigt gewesen, unter der Folter des Jungen qualvoll aufzuschreien. Entweder war der Junge äußerst talentiert oder er hatte, trotz seines geringen Alters, eine Menge Übung im Malträtieren von lebendem Fleisch.

Der dunkle Engel ließ von ihm ab, setzte sich auf die Kellertreppe und durchwühlte aufmerksam die Werkzeugbox. „Du hast dir einen faszinierenden Raum eingerichtet“, sprach er, während er eine Waffe nach der anderen hochhob und beäugte. „Ich bin wirklich froh, dass ich hier bin. Du bist eine wahre Inspiration; etwas besonderes. Nicht so wie die anderen Männer, die ich hatte.“ Der Junge warf das große Fleischermesser nach dem Gastgeber. Es verfehlte sein Ziel so weit, dass es nur Absicht gewesen sein konnte. Der Mann rüttelte verzweifelt an seinen, in die Haut schneidenden, Kabelfesseln, aber der Junge hatte ihn einwandfrei am Stuhl fixiert. Nun half nur noch Winseln und Flehen, so wie es auch Pumuckl, Goldlöckchen und Sunny Eyes getan hatten. „Bitte nicht … Oh Gott … Warum tust du das?“
Dark Angel verdrehte die Augen. „Andererseits... bist du wohl doch nicht viel anders. Ich dachte, wenn einer mich verstehen kann, dann du. Schade!“ Er legte einen Film in die Kamera und schritt gemächlich auf den Stuhl zu.
„Ich hoffe, ich habe dir den Abend nicht zu sehr verdorben. Ich kann nachvollziehen, dass du dich sehr darauf gefreut hast. Wie ich schon sagte, wir sind uns sehr ähnlich. Du bist noch mehr Vorbild für mich, als ich dachte.“ Wieder setzte er sich auf den Schoß des Gefesselten. Mit dem Finger fuhr er über die Brust des Gastgebers, rote verschlungene Schlieren hinter sich herziehend.
„Ich habe eine gute Nachricht für dich: wir beiden werden deinen Film heute noch zusammen drehen. Die schlechte Nachricht ist: Es wird dein letzter Film sein.“
 
Die Geschichte ist an einigen Stellen faszinierend geschrieben. Die Wendung ist interessant, auch wenn ich Probleme habe, einen Teenie so zu sehen. Aber es gibt ja Einzelfälle. Am Ende fehlt mir irgendwie etwas Dramatisches, aber gerne gelesen.
 

Jasione

Mitglied
Vielen Dank für deinen Leseeindruck und die beiden positiven Bewertungen.

Die Dramatik soll vor allem durch die überraschende Wendung zustande kommen. Am Ende habe ich bewusst weitere dramatische Elemente weggelassen, damit der Leser sich seinen eigenen Horror im Kopf ausmalen kann.
Das Alter des Gastes habe ich jung gewählt, grade weil die meisten Menschen einem so jungen Menschen solche Grausamkeiten nicht zutrauen und es das Verhalten noch unbegreifbarer und schockierender macht.

Ich freu mich über weitere positive und negative Kritik mit Verbesserungsvorschlägen.

Danke schön.
 

G. R. Asool

Mitglied
Hey Jasione,

interessante Idee, toll umgesetzt. Am Ende wird es etwas holprig, aber deinen Twist finde ich super.

Gruß
GR
 



 
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