Das Erinnerungsstück - Aus der Sicht eines Schlafanzugoberteils

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Das Erinnerungsstück - Aus der Sicht eines Schlafanzugoberteils

Ich bin ein Kleidungsstück, ein Schlafanzug, eigentlich nur das Oberteil eines Schlafanzuges. Mein Partner, die Schlafanzughose, ist schon vor Jahren verlorengegangen - jedenfalls für mich, nachdem sich unsere Wege getrennt hatten. Klaus, mein früherer Besitzer, hatte uns damals zunächst beide zu seiner neuen Freundin Elvira verfrachtet, mich dann aber bei ihr gelassen und die Hose wieder mitgenommen. Elvira besaß schon, wie ich später feststellen konnte, mindestens ein Dutzend eigener Nachthemden und Schlafanzüge, ein Stück schöner als das andere - aber sie war erst ganz versessen darauf, immerzu nur mich zu tragen - nach ihrer ersten Liebesnacht mit Klaus, als er mich zärtlich um ihre Schultern legte... Nach jeder Wäsche wurde ich gleich wieder in Beschlag genommen; ich kam überhaupt nicht zur Ruhe in all den Wochen, als sie noch frisch verliebt waren. Aber auch, als schon Schluß war mit der Beziehung, mochte Elvira zunächst noch nicht von mir lassen - nur war die Glückseligkeit einer tiefen Traurigkeit gewichen. Ich teilte etliche durchweinte Nächte mit ihr und bekam die eine und andere Träne von ihr zu spüren... Doch irgendwann war meine Zeit vorbei. Sie stopfte mich eines Tages nach ganz unten in den Wäscheschrank und zog mich nicht mehr an. Aus der Traum. Ich zitterte von nun an vor jeder Altkleidersammlung. Ich befand mich mittlerweile in einem erbärmlichen Zustand. Als Klaus mich bei Elvira zurückgelassen hatte, war ich schon nicht mehr sehr ansehnlich gewesen. Aber mittlerweile waren meine Farben völlig verblichen und der Stoff schon reichlich zerschlissen durch den exzessiven Gebrauch durch Elvira. Ich war einfach nichts mehr wert - und jetzt besaß ich nicht einmal mehr Erinnerungswert, befürchtete ich. Und so stellte ich mich auf ein baldiges Entsorgtwerden ein. Mit der Zeit begann ich mich zu wundern, schließlich lag ich schon Monate im Schrank und hatte etliche Altkleidersammlungen überstanden, Elvira hatte mich noch immer nicht aussortiert und entsorgte stattdessen um mich herumliegende, wesentlich ansehnlichere Wäschestücke, die schätzungsweise nicht halb so alt waren wie ich. Sie zögerte stets, wenn die Reihe an mir war, sie nahm mich in ihre Hände, behielt mich eine Weile darin, steckte das eine um das andere Mal sogar ihre Nase in meinen Kragen, hielt die Luft an und stopfte mich dann kurzerhand wieder zurück in den Schrank, mitten in einen Stapel anderer Sachen und schloß eiligst die Schranktür. Inzwischen sind ein paar Jahre vergangen und ich bin inzwischen zu der Überzeugung gelangt, das ewige Leben zu besitzen. Elvira wird es nie übers Herz bringen, sich meiner zu entledigen! Ich scheine das einzige Erinnerungsstück an Klaus, zu sein, das sie noch besitzt und Klaus wird wohl in ihrer Erinnerung ihre einzige wahre große Liebe bleiben! Das dachte ich jedenfalls, aber seit gestern, oh Graus, befinde ich mich plötzlich in einem dieser furchtbaren blauen Plastiksäcke, zusammengepfercht mit anderen alten Klamotten und ich befürchte, daß es mir jetzt endgültig an den Kragen gehen wird - wer hätte damit noch gerechnet? Elvira ist also frisch verliebt. Der Neue hat wieder ein Schlafanzugoberteil - zugegeben, ein sehr hübsches - dagelassen, von dem sie zur Zeit nicht lassen kann. Ach, wie vertraut mir das vorkommt, aber wie lange ist das schon her bei mir! Gestern jedenfalls wühlte sie im ganzen Schrank nach mir, so kam es mir vor, sie schien regelrecht nach mir zu suchen und mit einem verächtlichen "Pah, da ist es ja!" zerrte sie mich schließlich hervor und stopfte mich in diesen gräßlichen Sack. "Ich weiß gar nicht, warum ich diesen Fetzen so lange aufbewahrt habe!" kommentierte sie noch ihr Tun, diese Verdrängerin. Jetzt will sie es nicht mehr wahrhaben, daß sie einst so schmerzlich an mir gehangen hatte... Oh, ich bin überzeugt davon, daß sie es noch bitterlich bereuen wird, irgendwann, wenn der Neue nicht mehr neu ist und sie zu langweilen beginnen und die Erinnerung an Klaus wieder Oberhand gewinnen wird. Aber dann werde ich nicht mehr da sein, um ihr Trost zu spenden. Dann wird sie nichts mehr besitzen aus jener Zeit!
 



 
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