Das Erwachen

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Hyde

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Eine alte Frau und ein alter Mann sitzen auf einem abgewetzten Sofa und schweigen. Sie sprechen schon lange nicht mehr miteinander. Was können sie auch sagen, außer was ihnen Kummer zufügt? Sie sehen sich auch nicht an. Dafür kennen sie sich schon zu lange. Jede einzelne Falte des Gegenübers, die traurigen Augen, den trockenen Mund. Aus diesem Grund sitzen sie einfach da, starren auf die Tapete vor ihnen, die durch die Feuchtigkeit und den Schimmel abblättert wie verwelktes Laub. In der Wohnung riecht es muffig, weil die Fenster schon lange nicht mehr geöffnet worden sind und sich die Räume mit ihrem verbrauchten Atem angefüllt haben.
Jeder lebt sein Leben, denkt nicht an den anderen und für lange Zeit sind sie zufrieden damit. Doch irgendwann fängt die Frau plötzlich an zu träumen. Und weil sie sich derart ähnlich sind, träumt auch der Mann. Sie träumen von einer braunen Welt, die nur aus staubiger Erde besteht, die von einem Wind aufgewirbelt wird. Es gibt keine Meere, keine Wälder. Wenn es Menschen dort einst gegeben hat, so sind sie längst wieder verschwunden, eins geworden mit dem Rotbraun.
Lange Jahre träumen die alte Frau und der alte Mann von dieser Welt, ohne sich jemals zu begegnen oder den Wunsch danach zu verspüren. Doch schließlich haben sie alle Grenzen ausgelotst und ihnen bleibt nur noch der Blick über ihrer eigene Existenz hinaus. Was sie sehen, ist allerdings nur eine unglaubliche Leere. Und zum ersten Mal nach langer Zeit fühlen sie sich einsam und verlassen. Die Frau und der Mann fangen an zu weinen und ihre Tränen tränken den trockenen Boden. Gleichzeitig geht ein Ruck durch die Welt und alles wird in Finsternis gehüllt. Die Beiden fahren erschrocken herum, begreifen nicht, was geschehen ist und so machen sie sich auf die Suche nach der Ursache, viele Jahre, bis sie glauben, der Traum sei für immer verloren. Sie wollen bereits aufgeben, als sie endlich einen Ort erreichen und etwas Außergewöhnliches entdecken – ein Kind. Es mag vielleicht drei, vier Jahre alt sein, hat weiße Haut und pechschwarzes Haar. Seine Augen sind so blau wie die Meere, die hier nicht existieren.
Als die Frau und der Mann das Kind erblicken, erblicken sie nach der Unendlichkeit wieder einander. Sie lachen und ihre Hände greifen über das abgewetzte Sofa und berühren sich. Da explodiert die Sonne und badet alles in gleißendes Licht. Bäume und Sträucher wachsen, das Zwitschern von Vögeln ertönt wie ein Orkan, während man in der Ferne das Rauschen des Meeres hört.
Die Frau und der Mann sind Eltern geworden und ein neues Zeitalter erwacht.
 



 
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