Das Exposé

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Languedoc

Mitglied
Das Exposé

Ich wollte mein Leben ändern.
Aber wie? Wie ändert man sein Leben?
„Nimm ein Sabbatjahr und schreib ein Buch“, sagte der beste Freund.
Idée du schnaps“, entgegnete ich und rieb mit einem Handtuch und äußerstem Nachdruck meine Haut trocken, die nach dem Tauchgang ins eisige Wasser glühte wie glimmender Zunder. Es war am frühen Vormittag des ersten Januars und wir hatten soeben unser Ritual, das Neue Jahr mit einem Sprung ins Meer zu beginnen, im Beisein kreischender Möwen aufgeführt; unter erschwerten Bedingungen, darf ich anmerken, denn es nieselte und hatte höchstens zehn Grad Lufttemperatur. Ich bin für Kälte eigentlich nicht gemacht, aber der traditionelle Neujahrsschwumm mit dem besten Freund, der muss sein, selbst wenn wir in Wladiwostok weilten und nicht an der zumeist lieblichen Côte d’Azur.
„Du schreibst doch gerne“, sagte mein Mitstreiter im Kampf gegen die Wettergewalten. Er balancierte barfüßig und in seinen Badeshorts neben mir auf den kalten Kieseln jenes Strandes, der uns über die Jahre eine geschätzte Freizeitheimat geworden war, und schien es gar nicht so eilig zu haben, in die wärmenden Kleider zu kommen.
„Das heißt noch lange nicht, dass ich auch schreiben kann.“
„Klar kannst du!“
„Kann ich nicht und damit Punktum!“ Ich hatte zur Stunde bloß eines im Sinn: in die geheizte Stube sausen und Kräutertee trinken, und ja keine großspurigen Vorsätze für die Zukunft verkünden. Außerdem standen einige Telefonate mit den Familienmitgliedern an, die mir alle Konzentration abforderten, obwohl es sich nur um das Übermitteln der üblichen trockenen Neujahrswünsche handelte. Energisch verschob ich das Thema Lebensveränderung auf später.
Dieses Später war schneller da als gedacht. Ich wurde krank und bekam von Mutter Natur eine zwingende Auszeit aufgebrummt. Nicht ich nahm mir ein Sabbatjahr, sondern das Sabbatjahr holte mich. Eine lange leere Zeit lag vor mir. Ich war ziemlich krank.

Eines Tages im August schleppte ich mich an den Computer, klickte auf Datei neu und begann zu tippen. Ein Rausch im Kopf hob an. Begeisterung und Ehrgeiz fluteten mich gleichermaßen. Mein bester Freund hatte recht: „Du schreibst doch gerne.“
Bald wollte ich wissen, ob ich auch gut schreibe und nicht nur gerne. Wer könnte mir das sagen? Ich beschloss, ein Autorenseminar zu buchen und dort das Urteil von Fachleuten und Schreibkollegen auszuloten. Wunderbar – im März, zum Frühlingsbeginn, fahr’ ich zu den Profis nach Frankfurt, in die reiche Goethestadt am Main!
Bis dahin ist mein erstes Büchlein fertig, dachte ich und schrieb den Winter über wie besessen kurze und längere Geschichten ebenso wie Verse, wenn der Musenkuss gerade besonders leidenschaftlich ausfiel. Ein Berg von Textdateien häufte sich in einem Ordner mit dem beschämend vagen Namen Projekt. Um wenigstens eine Ordnung in das Sammelsurium zu bringen, reihte ich die Stücke chronologisch, was natürlich nicht ausreichte, um das Konvolut mit einem roten Faden zu versehen. Ich fühlte mich dennoch großartig und nahezu heldenhaft, als ich bei der Abreise nach Frankfurt tatsächlich ein ausgedrucktes Manuskript von zweihundert Normseiten im Gepäck hatte.
Die Teilnehmerrunde beglückte ich mit folgendem Exposé (zumindest hielt ich es für ein solches):

Die knapp 50-jährige Veronika lebt an der Côte d’Azur und glaubt, bald sterben zu müssen. Dabei sind es nichts weiter als die Symptome der Wechseljahre, die ihr zu schaffen machen. Eines Tages beschließt sie, sich von diesem hypochondrischen Elend abzulenken, indem sie sich darauf konzentriert, jeden Tag Geschichten zu erfinden und aufzuschreiben. Sie nimmt die Bruchstücke ihrer Erinnerungen an eine Kindheit als Tochter eines Fischers in einem Dorf am Wörthersee, verknüpft diese mit den Erfahrungen einer Bankangestellten in den Zeiten der Finanzkrise und lässt ihre Figuren das erleben, was ihr selbst widerfahren ist. Die Geschichten sind gleicherweise wahr wie fiktiv. Sie erzählen auch von Versuchen, den scheinbar unüberwindbar großen Abstand zu einer fremd gewordenen Herkunftsfamilie zu überbrücken. Manchmal spricht einfach nur eine Frau, die ins sechste Lebensjahrzehnt wechselt.

Der Kursleiter blickte aufmunternd in die Runde der Teilnehmer. Diese schwiegen höflich. Schließlich meinte eine Frau, sie verstehe den Satz nicht: „Die Geschichten sind gleicherweise wahr wie fiktiv.“ – Was solle das bedeuten?

Ich überlegte. Was ist Wahrheit? Ich wurde nervös. Und was ist Fiktion? Ich schüttelte den Kopf und zuckte mit den Schultern.

Ich wusste es nicht.
 
Hallo languedoc,

ich weiß es leider auch nicht. Dass dein Schluss etwas an Klarheit zu wünschen übrig lässt, mag nicht jeden Geschmack treffen, ich empfinde es als einen guten Impuls. Auch der vorgeschaltete Teil überzeugt - wirklich schön zu lesen.

Mit Sicherheit kann sich der ein oder andere hier mit der Benennung des Ordners "Projekt" identifizieren - bei mir ist er mit dem Namen "Schreibzeug" noch dazu plump ^^

Was ich schade finde, ist, dass die Kurzgeschichte wahrscheinlich über die Zielgruppe "Andere Autoren" hinaus nicht viel Anklang finden könnte, obwohl das Thema "Fiktion und Realität" für viele Menschen gleichermaßen Relevanz besitzt.

Anbei noch ein paar Kleinigkeiten:


"glühte wie glimmender Zunder" - vielleicht etwas dick aufgetragen

"kalte Kiesel", ein schönes Bild. Wenn man Haare spalten wollte, kann man auf diesen nicht balancieren.

Den Übergang von der Strandszene und der beginnenden Schreibarbeit finde ich sehr gelungen - hier könnte man schnell den Faden verlieren.

Bei der Stelle "mein erstes Büchlein" und "Sammelsurium" muss klar sein, dass du mehrere Projekte gleichzeitig bearbeitest, das mag vielleicht sonst verwirrend sein.


Alles in allem jedoch schön zu lesen, ins Herz des LL-Lesers getroffen und damit eine gute Geschichte
Tobid
 
A

aligaga

Gast
Wirklichkeit, sagt Lao-Tse, gäbe es nur eine, und die sei unumstößlich. Wahrheiten dagegen, sagt Lao-Tse weiter, in Worten ausgedrückte Meinungen über die Wirklichkeit, gäbe es Tausende, und eine sei so richtig oder falsch wie die andere.

Wer KursteilnehmerInnen ein „Roman“-Exposé zumutet, wo eine ins Klimakterium Geratene den (doch recht kurzen!) Weg von einer Kärntner Fischerstochter zur Bankangestellten und darob vom Leben Frustrierten zu skizzieren beabsichtigt, tut sich schwer. Ein Stoff wie dieser gibt eo ipso eher gar nichts her; die Verheißung, ihn mit „Wahrem wie Fiktivem“ anzureichern, macht ihn nicht interessanter. Was sollten das, fragt sich der Kursteilnehmer, denn für fade G’schichten sein, wenn die Autorin jetzt schon frustriert ist?

Unter solchen Voraussetzungen möchte wohl niemand die Autorin auf ihrem ausgetretenen Jakobsweg begleiten, denn es steht zu erwarten, dass er nicht mit zauberhaften Erlebnissen, atemberaubenden Ereignissen und entsprechenden Spannungsbögen konfrontiert wird, sondern dabei sein muss, wie sich die Autorin durch die Jahre und ihre Krankheiten grämt.

An anderer Stelle hat @ali schon mal darüber filosofiert, ob Unvermögen und Bresthaftigkeit anziehend wirken könnten und festgestellt, dass im Normalfalle nicht. Es gibt einige wenige Ausnahmen, wo gehandicapte Protagonisten nicht zum Kassengift wurden; die Kunst bestand dabei darin, sie nicht permanent im Öl des Elends zu sieden, sondern zu einem (auch für den Leser!) attraktiven Ziel streben und es nach allerlei Holterdipolter entweder glanzvoll erreichen oder im letzten Moment doch noch verfehlen zu lassen. Und ohne dabei in Rührseligkeit zu verfallen: Der Fischer und seine Frau, Dar alte Mann und das Meer, Rust and Bone, Rain Man, Moby Dick, Beinahe beste Freunde.

Natürlich kann eine Fischerstochter, die’s „nur“ zur Mittleren Reife und zur Bankangerstellten gebracht hat, jederzeit einen gandenlos guhten Roman schreiben – wenn sie ihn exponierte, sollte sie aber andeuten, dass es ein atemberaubender Weg ins Licht oder in den Abgrund werden würde. Oder wenigstens, dass im Mirkokosmos des Kleinbrügerthums die gleiche Größe verborgen wäre, wie sie sich in der Biblischen Geschichte, den „Buddenbrooks“ oder Mitchells „Vom Winde verweht“ fände.

Dann muss der Kursleiter nicht aufmunternd in die betreten schweigende Runde gucken, sondern Ordnung in das Geschrei jener bringen, die nach dem Erscheinungsdatum fragen und subskribieren wollen.

Heiter immer wieder weiter

aligaga
 

Blumenberg

Mitglied
Hallo Languedoc

mir sind beim Lesen deines Textes in paar Anmerkungen gekommen, vielleicht helfen sie dir als Eindruck ja etwas weiter.

„Idée du schnaps“, entgegnete ich
Die Formulierung habe ich als etwas aufgesetzt empfunden, ist aber nur mein subjektiver Eindruck.

dem Tauchgang ins eisige Wasser glühte wie glimmender Zunder.
Ich bin ebenfalls über diese Formulierung gestolpert. Ich glaube sie wirkt komisch weil, du beide Ausdrücke als Synonyme verwendest. Glühen und glimmen sind aber zwei unterschiedliche Zustände derselben Sache, wobei glimmen einen schwächeren Zustand beschreibt als glühen. So entsteht ein etwas schiefes Sprachbild.

„Es war am frühen Vormittag des ersten Januars und wir hatten soeben unser Ritual, das Neue Jahr mit einem Sprung ins Meer zu beginnen, im Beisein kreischender Möwen aufgeführt; unter erschwerten Bedingungen, darf ich anmerken, denn es nieselte und hatte höchstens zehn Grad Lufttemperatur.“
Ich bin zwar kein genauer Kenner der Südfranzösischen Wetterverhältnisse, halte aber den Einwurf mit den erschwerten Bedingungen für unnötig. Wenn das Ritual ein Bad am ersten Januar ist, scheinen mir als Leser, auch an der Coté D´Azur 10 Grad nicht unbedingt erschwerte Bedingungen zu sein, denn am 1.1. ist es normalerweise kalt.

Dein Text beginnt mit einem ersten Abschnitt, der ein kurzes Gespräch enthält, das gewissermaßen die Weichen für das Folgende stellt. Ich würde vor „Dieses Später war schneller da...“ einen deutlicheren Absatz setzen, da hier ein erster zeitlicher Abstand ist.

Danach kommen einige ziemlich große zeitliche Sprünge und du schilderst quasi ein gutes Dreivierteljahr im Schnelldurchlauf, wobei es auf ein bestimmtes Ereignis (Autorenseminar) herausläuft. Dabei ist dieser Abscnhitt für meinen Geschmack etwas zu sehr in Berichtsform gehalten, der zwar die entstehende Begeisterung schildert, diese aber für den Leser wenig greifbar und damit erlebbar werden lässt. Hast du vielleicht einmal daran gedacht, hier kleine Prosafetzen oder ein von der Muse geküssten Verslein einzufügen um das Ganze etwas aufzulockern und den Leser an den sprießenden literarischen Ergüssen teilhaben zu lassen.

Etwas Ähnliches kommt bei dir dann im Abschnitt mit dem Endereignis in Form des zu begutachtenden Exposés, das aber um genau zu sein ja eigentlich wieder ein Bericht ist.

Beste Grüße

Blumenberg
 

Languedoc

Mitglied
Hallo an die Kommentatoren,

Danke für Euer Feedback!

@Weltenwandler
Ich freue mich über die „alles in allem“ wohlwollende Aufnahme des Textes und Deine Anmerkungen. Die Geschichte konnte demnach „einen guten Impuls“ geben und hat „ins Herz eines Lesers getroffen“ – das ist schön.

@aligaga,
Deine Analyse ist wortgewaltig und ich nehme gerne die Hinweise zur Kenntnis, wie ein zündendes Exposé zu schreiben sei und jedenfalls ein besseres als jenes, das die Protagonistin meines Stückerls abgeliefert hat.

@Blumenberg,
Vielen Dank für das genaue Lesen und das feinsinnige Eingehen auf die Geschichte, die meiner Absicht nach und wie von Dir bemerkt, von „sprießenden literarischen Ergüssen“ handeln sollte. An Deine Kritik kann ich gut anknüpfen, sie wird mir nutzen bei der Überarbeitung.
Der Text war eigentlich als Beitrag gedacht zu @revilos Thread im Forum Lupanum zum Thema, warum, wann und wie wir zu schreiben angefangen haben. Ich habe ihn in die Rubrik Kurzgeschichten eingestellt, weil er im Wesentlichen fiktiv ist und deshalb nicht direkt zu @revilos Thread dazupasst. Für eine gute Kurzgeschichte jedoch müsste ich noch mal drübergehen, ganz klar, und die arme Protagonistin so richtig auflaufen lassen. Vielleicht gelänge mir der Dreh zur bereits angedeuteten Komik mittels Sprachbilder, die man - trotz ihrer Schiefe - der ICH-Figur glatt abkaufen würde. Irgendwann werde ich als Autorin handwerklich hoffentlich soweit sein.

Vielen Dank euch Dreien nochmal, und ebenso dem anonymen Werter („der Text hat was – aber da ist noch mehr rauszuholen“: auch ein Ansporn!).

Liebe Grüße

Languedoc
 
A

aligaga

Gast
Deine Analyse ist wortgewaltig und ich nehme gerne die Hinweise zur Kenntnis, wie ein zündendes Exposé zu schreiben sei und jedenfalls ein besseres als jenes, das die Protagonistin meines Stückerls abgeliefert hat.
Darum geht's hier gar nicht, auch nicht dem Kritiker. Sondern um die Begriffsstutzigkeit der Protagonöse, die am Ende so tut, als wüsste sie mit der kühlen Response der Kursteilnehmer (und deren Verlegenheitsfragerey) nicht umzugehen.

Ein zündendes Exposé zu fertigen ist keine Kunst; es danach in die "Tat" umzusetzen, schon eher. Ganz gleich, ob der in Rede stehende Text eine "Kurzgeschichte" oder eine (teilautobiografische) Reminiszenz hätte werden sollen - ein bisschen mehr Tiefgang hätte der Badenixe nix geschadet. Man hält deren Ahnungslosigkeit für echt, nicht für sophisticated, und kann deshalb nicht lachen, sondern spürt lührisches Zahnweh.

Gleichwohl heiter wie immer

aligaga
 



 
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