Das Fenster gegenüber

Phylthia

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Das Fenster gegenüber

Eigentlich kann ich das hier gar nicht er-zählen, weil ich nämlich schon tot bin. Aber manchmal muss man etwas los wer-den, bevor man sich zur Ruhe begibt. So ähnlich geht es mir.
Es war eine kühle Märznacht, als ich spät nach Hause kam. Ich hatte gerade einen Auftrag ausgeführt und würde in weniger als einer Stunde tot sein. Aber das wusste ich ja nicht und zählte das Geld, das ich gerade verdient hatte. Ich glaube, ich sollte erwähnen, dass ich Auftragskillerin bin. Ich bevorzuge allerdings die Bezeichnung Söldnerin. Wer am meisten zahlt, dessen Dreck erledige ich. Jedenfalls setzte ich mich in meinen Ledersessel, mit einer Tafel Schokolade. Das ist meine Belohnung, dass ich wieder nicht geschnappt worden bin. Nach jedem Auftrag denke ich über alles nach und bereue ein bisschen, dass es nach Abitur und Sportstudium nicht zu mehr gereicht hat. Aber eigentlich macht es mir nichts aus, Menschen zu töten. Ich kenne sie nicht. Trauern Sie über jeden Toten in der Welt, auch wenn Sie ihn nicht kennen? Ich nicht. Dieses Mal zum Beispiel hatte ich einen jungen Computerspezialisten getötet, der seinen Chef erpresste, weil dieser sich mit Vorliebe Kinderpornos aus dem Internet zog. Ich hatte ihn sechs Wochen lang beobachtet und wusste eine Menge über ihn, zum Beispiel, dass seine Freundin direkt gegenüber von ihm wohnte und sie sich jeden Abend am Fenster gegenüber standen und zuwanken, oder dass er am liebsten Cola mit einem Schuss Rum trank. Ich war in seine Wohnung eingedrungen, während er mit einem Glas Rum-Cola am Fenster stand. Er musste mich gehört haben, denn als ich meine Waffe zückte, um ihn von hinten zu erschießen, wirbelte er herum. Es gab einen kurzen Kampf, aber schließlich und endlich musste er nachgeben, was natürlich mit seinem Tod endete. Wozu habe ich denn den Schwarzen Gürtel in Taekwando? Ich hatte ihn noch schön mit der Waffe in seiner Hand neben den Tisch drapiert, die anderen Flecken entfernt (mit einem Spezialmittel meiner Mutter) und war dann gegangen. Direkt hierher.
Plötzlich hörte ich ein Geräusch, das mich stutzig machte. Ich war mir sicher, dass ich allein im Raum war, woher also sollten die Laute von anderen Atemzügen als den meinen oder ein leises, metallisches Klicken kommen? Ich drehte mich um und erschrak ein wenig, als ich die junge Frau im Türrahmen bemerkte. Sie stand lässig da, die blonden Haare zu einem Zopf und meine Pistole in der Hand. In dem Moment, als ich sie erkannte, fiel mir auf, dass meine Waffe neben dem toten Computerfreak liegen müsste.
„Celina Gaither?“, fragte ich ruhig. Es war rhetorisch gemeint, denn ich wusste längst, dass es sich um die Freundin des gerade Ermordeten handelte. Trotzdem nickte sie. Natürlich wusste ich auch, warum sie hier war. Und sie wusste, dass ich es wusste. Aber ich hatte den Fehler noch nicht entdeckt, wie sie mich hatte finden können. Darum fragte ich sie.
„Miss Gaither...“, begann ich.
„Nennen Sie mich Celina.“ Unter anderen Umständen hätten wir Freundinnen werden können.
„Celina. Gut. Wie haben Sie mich gefunden? Woher wissen Sie, dass ich es war? Ich dachte, Sie wären verreist?“
„Sie haben eins vergessen: Marcs Anrufbeantworter zu checken, bevor sie ihn ermordeten. Ich war früher als erwartet zurück und hatte ihm auf Band gesprochen. Deshalb stand er am Fenster. Deshalb konnte ich Sie beobachten. Deshalb bin ich hier.“ Ich nickte. Das wusste ich ja. Wirklich, wenn wir uns anders kennen gelernt hätten, wären wir sicher Freundinnen geworden. Sie hob die Waffe - meine Waffe - und drückte ab. Offenbar konnte sie schießen, denn sie traf mich genau zwischen die Augen. Ich hatte mich keinen Millimeter vom Fleck gerührt.
Das wollte ich eigentlich nur los werden. Also, wenn Sie jemanden töten, hören Sie seinen Anrufbeantworter ab und fragen Sie sich, warum er tatenlos am Fenster steht. Manchmal hilft das.


(Übernommen aus der 'Alten Leselupe'.
Kommentare und Aufrufzähler beginnen wieder mit NULL.)
 



 
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