Das Fenster gegenüber

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Astrid

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überarbeitete Fassung

Das Fenster gegenüber

Er hatte sich gefreut. Endlich bewegte sich etwas hinter den kahlen Fenstern. Eine Frau zog ein.
Schon seit einigen Tagen beobachtete Martin Schmoller die Wohnung gegenüber. Er hatte sich seinen Platz am Fenster eingerichtet, den Sessel dicht herangerückt, sodass er seine Füße an der Heizung wärmen konnte. Ein Kissen schob er sich in den Rücken, eine Tasse Tee stand auf dem Tischchen daneben und ein Buch lag griffbereit. Doch las er selten.
Diese Dinge erwarteten ihn, wenn er abends aus dem Buchhaltungsbüro nach Hause kam. Die Frau erwartete ihn nicht und doch gehörte sie nun in gewisser Weise zu seinem Leben, waren die Stunden am Fenster mittlerweile Bestandteil seines Tages. Die andere Wohnung lag so nahe, dass er manchmal das Gefühl hatte, er bräuchte nur den Arm auszustrecken.

Und so saß er, Martin Schmoller, Mitte Fünfzig, bis heute unverheiratet, die Schultern heruntergezogen nicht von der Last, die er tragen musste, sondern eher von dem, was fehlte. Er blühte nur noch in seinem Beruf auf.
Nun war diese Frau dort eingezogen. Sie schien auch allein zu sein. Sie war hübsch. Sie war jünger als er. Es hatte nicht viele Frauen in seinem Leben gegeben. Er konnte mit Zahlen besser umgehen. Sie waren kalkulierbarer. Heute aber war ihm im Büro ein Fehler unterlaufen. Ihm! Er hatte an die Frau gedacht. Er hatte Sehnsucht in den Händen gespürt und die Zahlen waren ihm verrutscht…

So saß er wieder und wieder in seinem Sessel, die Hände im Schoß, und wenn die Frau auftauchte, beugte er sich leicht nach vorn. Dann rutschte das Kissen in seinem Rücken nach unten.
Eines Abends fiel es ihm auf. Die Frau zog die Vorhänge zu. Keine schweren Vorhänge, eher dünne Übergardinen. Sie erinnerten ihn an die seiner Kindheit. Die waren orange gewesen. Er hatte sie gehasst. Die der Frau waren beige und zeichneten das, was dahinter geschah, deutlicher ab, als dass sie es verhüllten. Ein Schattenspiel. Vorstellung kostenlos.
Ihr Zimmer war plötzlich in rötliches Licht getaucht und er sah, dass sie Besuch empfing. Einen Mann. Dann wieder andere Männer.
Manchmal umarmten sie sich hinter dem beigen Vorhang und er spürte diesen Schmerz über dem Brustbein, fühlte sich betrogen und dachte, „ich habe kein Recht dazu“. Und doch blieb er sitzen, bis irgendwann das Licht gegenüber erlosch und auch dann noch. Was er sah, beunruhigte ihn, brachte seine Gedanken in Aufruhr, die es gewohnt waren, geradlinig zu laufen.
Sein Ehrgeiz war entfacht, er wollte herausfinden, was es mit den Besuchen auf sich hatte. Er nahm sich einen freien Tag und in der Firma fragten sie, ob er sich nicht wohlfühle. „Sie haben doch noch nie so unverhofft einen Tag frei genommen, Herr Schmoller?“

Martin Schmoller beobachtete. Gleich nach dem Frühstück nahm er in seinem Sessel Platz. Schon um zehn Uhr empfing sie den ersten Besucher! Was sie genau taten, sah er zwar nicht, aber das konnte man sich ja denken. Dieses mysteriöse Licht und die zugezogenen Vorhänge waren doch wohl eindeutig. Er musste es dem Vermieter melden, dass dort, in der Wohnung gegenüber, ein illegales Bor…
„Vielleicht ist sie ja auch so eine Andere“, dachte er, „die mehr redet mit den Männern oder ihnen Schmerz zufügt, weil die das so wollen.“ Er hatte das mal im Fernsehen gesehen, es war ein Dokumentarfilm.
Ja so ist es, denn wenn er nachdachte, fiel ihm ein, dass sie oft wild gestikulierten und er auch schon Schreien und Stöhnen gehört hatte.
Er musste diese Frau melden! Sie war eine Gefährdung, ja mehr noch, sie zog die ehrenwerten Bürger des Aufganges mit in den Schmutz. Das durfte er nicht zulassen.

Es war Dienstag, sein Vermieter hatte ab vierzehn Uhr Sprechstunde. Pünktlich begab er sich auf den Weg. Er wollte der Erste sein. Als er auf die Straße trat, sah er die Frau. Sie war gerade dabei, etwas neben dem Hauseingang anzubringen. Martin blieb stehen, sah das Schild, doch bevor er lesen konnte, was darauf stand, sprach die Frau ihn an:
„Interessiert Sie das? Kommen Sie doch mal vorbei, die erste Stunde ist gratis.“
„Ich?“ Martin räusperte sich und eilte die Straße hinunter.
Die Frau zog den Jackenärmel über den Handrücken und polierte das blanke Messing. Dann trat sie einen Schritt zurück und lächelte zufrieden. Es war genau so, wie sie es sich vorgestellt hatte.
Martin Schmoller wartete mit pochendem Herzen ein paar Eingänge weiter in einem Torbogen. Als die Frau wieder verschwunden war, eilte er in seine Wohnung. Dort ließ er sich noch im Mantel in den Sessel fallen, sprang entschlossen wieder auf und rückte ihn vom Fenster weg. Er nahm das Buch, blätterte darin, doch seine Augen wurden immer wieder von der gewohnten Blickrichtung angezogen.
Er wußte nicht, ob er enttäuscht oder erleichtert sein sollte.
Er legte das Buch auf den Tisch und lief im Zimmer auf und ab. Er schob den Sessel erneut vor das Fenster, das Kissen in den Rücken. Setzte sich. Doch es war nicht mehr dasselbe. In diesem Moment erschien sie am Fenster. Allein. Und sie hob die Hand, als wollte sie ihn grüßen. Er zuckte zurück. Er hatte doch immer gedacht, sie könne ihn nicht sehen.
Hastig zog er seine Vorhänge zu. Ein paar Clips rissen ab. Er ging in den Flur, schlüpfte in seine Straßenschuhe, war schon an der Tür, als ihm der Mantel einfiel, der noch über dem Sessel lag. Er zog die Schuhe wieder aus, um den Teppich nicht zu beschmutzen, holte den Mantel, war mit dem einen Arm schon drin, als es klingelte. Er starrte auf das Telefon, obwohl er doch wusste, dass es an der Tür war. Er schwitzte. Es klingelte ein zweites Mal. Er wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn, stolperte über seine Schuhe, ehe er langsam die Wohnungstür öffnete.
Dort stand die Frau und lächelte. Eine Locke hatte sich in ihr Gesicht verirrt. ‚Wie schön sie ist’, dachte er. Sie hielt einige zusammengefaltete Papiere in der Hand und gab ihm eines davon.
„Sie waren vorhin so schnell verschwunden. Ich wollte mich gern vorstellen und wie ich mein Geld verdiene, beziehungsweise verdienen möchte, also ich beginne ja erst und darum verteile ich hier diese Flyer. Falls Sie nicht selber kommen wollen, vielleicht kennen Sie ja jemanden?“
Er sagte nichts.
„Na dann noch einen schönen Tag. Sie wollten wohl gerade…“ sagte die Frau und zeigte auf seine schuhlosen Füße. Er folgte ihrem Blick. Als er wieder hochsah, hörte er ihre Schritte bereits eine Treppe tiefer.
Martin Schmoller aber stand auf Strümpfen im Flur und hielt das gelbe Papier mit ausgestrecktem Arm. Schließlich wagte er doch einen Blick darauf und las:

„Ausgebildete Schauspielerin gibt Einzelunterricht in Stimmbildung und Ausdruck. Szenenstudium auch in professioneller Ausleuchtung möglich.“
 

Astrid

Mitglied
Re: aber

Aber seine sind orange, obwohl er orange hasst (Kindheit), wahrscheinlich sind die Gardinen von Mutti und nun will er doch neu anfangen und die Frau hat beige. Aber er reißt ja die bei sich runter, muss ich noch mal schauen, dachte das kommt raus. Andernteils hadere ich auch noch ein wenig mit dem Schluss...
Danke.
Gruß
Astrid
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
nun,

für mich las es sich so, dass er seine alten vorhänge bei der jungen frau anbriungen wollte und in zukunft die meiste zeit mit ihr verbringen, sich geborgen fühlend wie bei muttern.
lg
 

Astrid

Mitglied
Re: nun,

Dein Hinweis war gut und blieb nicht der Einzige, habe den Text überarbeitet, denn sein Verhalten am Schluss passte eigentlich nicht zu ihm. Vielleicht schaust du ja noch mal rein?
Liebe Grüße Astrid
 



 
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