Das Finanzamt

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Es ließ sich nicht leugnen. Weder mein freundlicher Hinweis „das trägt man jetzt so“ noch das Einfordern von Toleranz mir gegenüber half. Und wenn ich mich auch großzügig über spitze Bemerkungen meiner Umwelt hinweg gesetzt habe, so musste ich es dennoch immer wieder am eigenen Leib ertragen. Der Blick in den Spiegel war jedes Mal eine Tortur.
Es half alles nicht! Ich musste zum Friseur.
So machte ich mich in den frühen Morgenstunden auf, um meinen Figaro in seinem Geschäftslokal zu besuchen. Der Meister der flinken Schere ist mir schon seit Jahrzehnten bekannt und ich kann ihm ohne jedes Bedenken meine beiden Ohren und auch die dazwischenliegenden Teile anvertrauen.
Zu meiner großen Überraschung schüttelte er aber, nachdem wir artig einige Freundlichkeiten ausgetauscht hatten, sein gestyltes Haupt:
„Ich bedaure es sehr, aber es gibt eine neue Haarschneideverordnung, die besagt, dass abhängig vom Lebensjahrzehnt ein farblicher Streifen in Längsrichtung anzulegen ist."
Davon hatte ich noch nichts gehört, da ich solche Informationen üblicherweise beim Studium der einschlägigen Magazine aufnehme. Und diese pflege ich – eben – während der Wartezeit beim Friseur zu studieren.
„Aha“, sagte ich, was im ersten Schritt nicht sonderlich intelligent klang. Dann aber, da eine Aufbegehren gegen die Obrigkeit nicht zweckmäßig ist, erklärte ich mein Einverständnis.
Der Meister kratzte sich den Bart.
„Da wäre noch etwas“, erklärte er mir. „Dazu müssen Sie sich zuvor eine Genehmigung zum verordnungsgemäßen Einfärben des Mittelscheitels besorgen. Ohne Vorlage einer solchen Bescheinigung darf ich nicht tätig werden. Sie könnten mir ja aus Eitelkeit ein falsches Alter nennen, so dass Sie mit einem unkorrekten Farbstreifen jünger aussehen als Sie wirklich sind. Dann würde mir“, dabei zeigte er auf seine breite Brust, „wegen Beihilfe zur Urkundenfälschung ein zeitlich befristetes Berufsverbot auferlegt werden.“
Er erklärte mir auch noch, dass ich jenes amtliche Dokument, gegen Entrichtung einer kleinen Gebühr, auf dem Finanzamt erstehen könnte.
Jene bei braven Bürgern wenig beliebte Behörde befindet sich in unserer Stadt am Geldweg. Dort liegt das dunkel geklinkerte Gebäude direkt im Schatten unseres Münsters.
Allerdings habe ich noch keinen Menschen getroffen, der ein Wort des Bedauerns über das Schattendasein der dort angesiedelten Beamten verloren hat. Auch wenn diese am hellen Tage bei künstlichem Licht arbeiten – arbeiten oder verwalten ?-, hat noch nie einer die frohe Kunde verbreiten können, dass denen in ihren dunklen Gemächern die Erleuchtung gekommen ist. So wird es sicher noch lange dauern, bis den Ureinwohnern des Finanzamtes ein Licht aufgeht.
Auf dem Weg zur besagten Dienststelle begegnete mir, fröhlich pfeifend, mein Nachbar.
„Warum so vergnügt?“ fragte ich den Mann, der mir als notorischer Nörgler bekannt ist.
„Ich bin schnell auf dem Finanzamt gewesen und habe mir einen Stapel Einfärbebestätigungen besorgt.“ Dabei wies er auf einen Berg Formulare, die er unter seinem Arm trug. „Und nun eile ich hurtig zu Meister Kurzschnitt um rechtzeitig zum Frühstück wieder daheim zu sein.“
Er nahm sein unmelodisches Pfeifen wieder auf und entschwand meinem Hörkreis.
Mir war bekannt, wo sich das Finanzamt befindet. Falls irgendjemand nicht genau über die Adresse informiert sein sollte, ist es einfach, diesen Ort zu finden.
Man muss zu früher Stunde nur mit offenen Augen durch die Stadt gehen und sich einem Mitbürger anschließen, der recht sorgenvoll aussieht. Er wird einen unweigerlich und ohne Umwege direkt zu dieser Behörde führen.
Als ich die bedrückend düstere Eingangshalle des Gebäudes betrat, sah ich mich fragend um. Für mich war die Beschaffung einer solchen Bescheinigung ja neu.
Nirgendwo in diesem Behördenwirrwarr konnte ich einen brauchbaren Hinweis entdecken. Mich wunderte es auch nicht, war doch die Ausschilderung vom gleichen Designer entworfen, der auch die Steuererklärungen gestaltet hatte.
Nach einigem Suchen entdeckte ich den Auskunftsschalter.
Dem dort sitzenden Hahn erklärte ich mein Begehren. Aus seinen kleinen Augen sah er mich an, krähte dann noch einmal „Haareinfärbebescheinigung?“ und, als ich nickte, fuhr er sich nachdenklich über seinen Kopf und streichelte unbewusst den leuchtendroten Kamm. Er war ihm sichtlich geschwollen, so bedeutungsvoll erschien ihm sein Wirken an dieser verantwortungsvollen Stelle.
„Nehmen Sie die hintere Treppe links, dritter Flur rechts, zweite Tür vorne, vierter Eingang Mitte, Schalter halblinks.“
Dann widmete er sich wieder seinem Frühstück und klopfte bedächtig mit seinem Löffel das weichgekochte Ei auf. Beim Entfernen glaubte ich ihn dabei etwas ähnliches wie „mein Sohn...“ murmeln hören.
Der Gang zur hinteren Treppe war düster. Auf den Weg dorthin bemerkte ich das große Portrait, das die Stirnseite der Eingangshalle schmückte. In einen aufwendigen Rahmen eingepasst lächelte der Hausherr von oben auf alle Steuerbürger herab.
Die in Öl gehaltene Kastanie schien wirklich eine innere Zufriedenheit auszustrahlen.
„Unser Hansi“ stand auf einem goldfarbenen Plättchen unter dem Bildnis.
Auf der ausgetretenen hinteren Treppe kam mir ein Mann entgegen, der unentwegt und nervös ein feuchtes Taschentuch in seinen Händen zerknüllte.
Er lief mir direkt in die Arme, blickte kurz auf und gestattete mir dabei einen Blick in seine tränenverschleierten Augen. "„Verzeihung..." murmelte er und schlich mit gesenktem Haupt weiter. Seinen Weg konnte ich anhand der feuchten Tränenspur zurückverfolgen. Sie endete vor einer hölzernen Bürotür, an der ein Emailleschild angeschlagen war. „Veranlagung“ war dort zu lesen.
Die Frage, unter welcher furchterregenden Veranlagung dieser arme Mensch litt, habe ich bedauerlicherweise nicht klären können.
Auf dem schmutziggrauen Flur mit der trüben Funzel an der Decke drückten sich verängstigte Menschen dicht an die Wände.
Mir fiel auf, dass ihre Blicke starr auf irgendwelche imaginären Punkte gerichtet waren.
Warum, fragte ich mich, werde diese zur Depression einladenden Räumlichkeiten nicht farbenfroh gestaltet, zum Beispiel rosarot... Sogleich schalt ich mich ob dieser Überlegung aber selbst einen Narren. Das ist nun wirklich nicht der Farbton, der zu diesem Amt passen würde.
Ich klopfte vorsichtig an die Tür und öffnete sie einen Spalt.
Der Raum war fast leer. Nur ein großer, sehr bissig aussehender Hund saß hinter dem alten Schreibtisch und knabberte an einem großen Knochen.
Ohne diesen aus dem Mund zu nehmen knurrte er mich scharf an:
„Raus hier! Warten Sie gefälligst vor der Tür, bis Sie zum Eintritt aufgefordert werden. Sie sehen doch, ich bin beschäftigt!“
Selbstverständlich wollte ich diesen mit einer verantwortungsvollen Aufgabe betrauten Vertreter der Autorität bei der Erfüllung seiner wichtigen Geschäfte nicht stören und schloss leise die Tür von außen.
Ich bewunderte unsere Staatsdiener. Dieser, obwohl ich noch gar nicht dienstlich mit ihm Berührung gefunden hatte, schien mir außerordentlich Biss zu haben. Aber, dachte ich mir, wehe dem, der sich nicht gesetzestreu verhält. Wenn dieser scharfe Hund erst einmal die Spur aufgenommen hatte, gab es kein Entrinnen mehr.
So reihte ich mich ein in den Kreis der Wartenden und suchte mir eine Stelle an der Wand, an der bereits der Putz abblätterte, um diese für die nächsten Stunden zu fixieren und es den anderen Wartenden gleich zu tun.
Vielleicht sollte ich die Wartezeit für eine kurze Erklärung nutzen. Vor geraumer Zeit hatte einmal ein bedeutsamer Politiker unseres Landes die Finanzverwaltung als Stall bezeichnet , seitdem sind dort nur noch Tiere beschäftigt.
Endlich! Nach mehreren Stunden! Ich bekam die Genehmigung, in die Amtsstube eintreten zu dürfen.
Der arme Hund sah müde aus. Es ist auch wirklich anstrengend, sich den ganzen Tag das inhaltslose Gerede auskunftsbegehrender Bürger anhören zu müssen. Seine Ohren hingen schlaf am Kopf herunter, die Zunge hing ihm aus dem Mund heraus; mit müden Augen knurrte er mich an.
Ich trug mit zaghafter Stimme mein Anliegen vor. Bang sah ich ihn an, im Zwiespalt zwischen der Furcht, er könne mich ablehnend heim schicken und erwartungsfroh, dass dieses gute Wesen mir behilflich sein könnte.
Plötzlich schraken wir beide zusammen. Ein Laut wie Donnerhall erfüllte die Amtsstube. Offensichtlich sind Knochen doch schwerer verdaulich als gemeinhin angenommen.
Sein vorwurfsvoller Blick traf mich unvermittelt. Ich zog schuldbewusst den Kopf zwischen die Schultern, obwohl ich in meinem ganzen Leben noch nie einen Knochen gegessen hatte.
Er öffnete kaum die Lefzen, als er mich leise anknurrte: „Großraum vierundzwanzig, Schalter neun hochkant.“
Dann senkte sich seine Stimme zu einem tiefen Bellen, als er mich mit „jetzt aber ´raus“ verabschiedete.
Ich irrte die dunklen Gänge entlang, die einem Labyrinth nicht unähnlich waren. Immer weiter entfernte ich mich vom Publikumsbereich, bis ich mich schließlich verlaufen hatte und mich nicht mehr zurecht fand.
Da huschte ein kleines graues Mäuschen an mir vorbei, ja sie drückte sich förmlich verängstigt an die Wand, als sie mich sah.
„Wo finde ich...?“ sprach ich sie an.
Züchtig schlug sie die Augen nieder, presste die verstaubten Aktendeckel fest gegen ihren mageren Körper und wisperte mir in hastigen Worten zu:
„Ich bin nur eine ganz kleine Büromaus. Versuchen sie es einmal in die Richtung.“ Dabei wies sie mir den Weg. Noch bevor ich ihr danken konnte, war sie wieder in der Dunkelheit des Ganges verschwunden.
Es dauerte noch eine Weile, bis ich jene Stelle fand, die meine nächste Station auf dem Bürokratenparcours sein sollte. Zuerst hörte ich nur ein leises, gleichmäßiges Geräusch, das mit jedem Schritt, den ich mich näherte, anschwoll. Schließlich öffnete ich die Tür, hinter der ein undurchdringliches Stimmengewirr mir verriet, dass dort entscheidende Aktivitäten stattfinden mussten.
Es war ein großer Raum, der durch einen altmodischen Holztresen geteilt wurde.
Vor dem länglichen Möbel standen die Antragsteller geduldig in langen Schlangen, während auf der anderen Seite mehrere Beamte ihren Dienst verrichteten. Ich sah eine heftig schwitzende Nilpferddame, ein im Dienst ergrautes Walross, eine Kuh, den Ochsen dieser Dienststelle sowie eine reizende Elefantendame. Das Hinweisschild über dem Schalter verriet mir, dass die letztere für mein Anliegen zuständig war.
Es ging nur sehr mühsam voran. Die Warteschlange wurde nicht kürzer. Nach jedem bearbeiten Antragsteller standen die Beamten auf und verließen für eine mehr oder weniger lange Zeitspanne den Raum. Ich konnte es mir nur so erklären, dass die mühevolle Bearbeitung eines einzelnen Bittgesuches sie so erschöpfte, dass sie nach jedem Vorgang eine Erholungspause einlegen mussten.
Langsam taten mir die Füße weh. Ich war jetzt schon seit mehreren Stunden in diesem Hause unterwegs, um die ersehnte Bescheinigung zu erhalten.
Langeweile überkam mich. Ähnlich musste es den armen Beschäftigten hier in diesem Amt ergehen. Im Unterschied zu mir verbrachten sie schließlich ihr ganzes Leben hier.
An einem separaten Arbeitsplatz, etwas getrennt vom Tresen, bemerkte ich in der Ecke des Raumes eine Giraffe. Gelegentlich streckte sie den Hals empor und warf einen Rundblick durch den ganzen Saal.
Ich vermutete, dass es sich um ein höheres Tier handelte, das in diesem Amtsbereich die Aufsicht führte und bemüht war, den Überblick zu bewahren.
Unfreiwillig wurde ich Zeuge einer lautstark geführten Auseinandersetzung am Nachbarschalter. Ein Bürger war offensichtlich anderer Meinung als die Beamtin hinter dem Tresen.
„Sie haben ja keine Ahnung“, beschwerte sich der Mann.
Der Beamte zuckte mit den Schultern: „Stimmt, sonst wäre ich ja auch nicht hier. Sie haben wiederum keine Vorstellung, wie schwer diese Arbeit ist. Beschäftigen Sie sich einmal den ganzen Tag mit Dingen, von denen Sie nichts verstehen. Das geht ganz schön an die Substanz.“
Wutentbrannt drehte sich der Antragsteller um und verließ mit einem ärgerlichen „blöde Kuh“ den Raum.
Enttäuschung tat sich beim dienstbeflissenen Beamten auf: „Ich bin doch ein Ochse...“, stammelte dieser und verließ erst einmal seinen Arbeitsplatz, um sich von der eben widerfahrenen anstrengenden Auseinandersetzung zu erholen.
„Sie wünschen?“ Die junge Elefantendame hatte eine überraschen helle Stimme. Mit ihren dunklen Augen und den etwas zu großen Ohren machte sie einen ausgesprochen sympathischen Eindruck auf mich. Charmant bewegte sie sanft ihren langen Rüssel hin und her.
Ich war etwas irritiert, fasste mich dann aber und erzählte von meinem Herzenswunsch.
„Oh ja“, flötete sie und erklärte mir, in welchem Zimmer ich das Antragsformular für die Haareinfärbebescheinigung bekommen würde.
Sie war wirklich ein nettes Wesen. Und wenn sie nicht so ein unendlich entstellendes kompaktes Hinterteil gehabt hätte... Wer weiß, vielleicht hätte ich sie einmal auf einen Tee eingeladen.
„Wie kommt so ein reizendes Ding zum Finanzamt?“ überlegte ich. Doch dann fiel mir ein, dass sie ja übermäßig große Ohren hatte. Die verstand sie zum Vorteil der Steuerbehörde sicherlich auch gut zu nutzen. Und da Elefanten nachsagt wird, sie würden nichts vergessen, verfügte sie über alle für die Einstellung geforderten Qualitäten.
Es ist wirklich schade, dass so freundliche Wesen wie meine Elefantendame irgendwann einmal in die Abteilung für „Erstattungsanträge und andere Einlassungen der Steuerzahler“ versetzt werden. Bei dem Fell...
Durch meine stundenlangen Exkursionen in diesem Gebäude gestählt fand ich recht zügig die Amtsstube, in der mir das begehrte Formular ausgehändigt werden sollte. Tief unten, im Keller, saß ein alter grauer Esel in einem muffigen Raum.
Sein Aufgabenbereich erschien mir nicht übermäßig groß. Ohne ihn gefragt zu haben, erklärte er mir, dass immer die Kleinen alles Schwere zu tragen hätten. Dieses würde auch in dieser Behörde zutreffen. Und so hatte man ihn, der schon seit Jahrzehnten treu die ihm aufgetragenen Lasten übernommen hätte, hier in den hintersten Winkel des Kellers versetzt. Dabei waren die Pfade, auf denen sie wandeln mussten, seit langem ausgetreten.
Er händigte mir das Blankoformular aus. Zusätzlich erhielt ich – in vierfacher Ausfertigung – eine Bestätigung, dass ich ein leeres Blatt erhalten hatte.
Der Esel rückte seine Brille zurecht und unterzeichnete in seiner akkuraten Schrift: i.A. Der Vorsteher.
„Sind Sie der Vorsteher?“ fragte ich erstaunt. Traurig schüttelte er seinen großen Kopf.
„Nein“, klärte er mich auf, „ich bin nur i.A.“
Meine längere Anwesenheit in diesem Haus trug jetzt ersten Früchte. Zielstrebig bewegte ich mich durch die langen Flure, die Halbtreppe hinauf, den zweiten Absatz wieder hinunter, durch das Quergeschoss in den Zentralakt und dann in den Oberflur mitthands.
Ich hatte Glück, dass vor der Tür, die mein Ziel war, mir keine Warteschlange den Zutritt versperrte. Ich klopfte an und riss im selben Moment auch schon die Tür auf, um erschrocken stehen zu bleiben.
Das Zimmer glich einem tropischen Gewächshaus. Es war über und über mit Grünpflanzen zugestellt. Vor lauter Natur konnte ich weder einen Schreibtisch noch Aktenschränke entdecken. In einer Hängematte zwischen zwei Palmen schaukelte träge ein Ai und sah mich aus müden Augen an. Dann gähnte es herzhaft.
„Sie haben sich in der Tür geirrt...“ schnauzte mich das Wesen an und drehte sich bedächtig zur anderen Seite, ohne mir weitere Beachtung zu schenken.
Zuerst wollte sich Empörung in meiner Brust breit machen, doch sehr schnell kam mir zu Bewusstsein, dass diese fehl am Platze wäre. Bei diesem Beamten handelte es vermutlich um einen hochverdienten Veteranen dieses Amtes, dem im Unterschied zu seinen Kollegen schon seit Jahren kein Fehler mehr unterlaufen war.
Ich fand kurz darauf das richtige Amtszimmer und wartete noch eine ganze Weile, bis mir der Zutritt gestattet wurde.
Hinter einem mächtigen Schreibtisch saß der Urvater aller in diesem Amt Tätigen. Mit listigen kleinen Augen sah er mich durchdringend an. Die rosa Borsten waren sauber nach hinten gekämmt, die Krawatte um den fetten Hals gelockert und die Hemdsärmel an den kompakten Armen hochgerollt.
Zweifelsohne, er war ein prächtiges Exemplar seiner Gattung. Ich konnte den Eindruck, den er auf mich machte, nicht verhehlen. Im Unterbewusstsein bemerkte ich, wie ich angesichts seiner respekteinflössenden Gestalt kleiner wurde. Ob ich es wahr haben wollte oder nicht. Dieses Schwein strahlte eine ganz besondere Autorität aus.
„Ich heiße Goethe, weil ich alles besser weiß. Nicht umsonst sind meine Prüfberichte so umfangreich wie ein klassisches Werk meines Namensvetters. Nur, dass ich wesentlich mehr Phantasie in meine epochemachenden Stücke hineinlege. Erst mir ist die Synthese gelungen, Drama und Komödie in einem einzigen Werk zu vereinen.“
Dann schlug das Schwein Goethe mit der Faust auf den Tisch.
„Dichtung und Wahrheit liegen seit meiner Schaffensepoche nicht mehr auseinander. Jetzt gilt nur noch die freie Kraft des Geistes.“
Er grunzte mich an.
„Was wollen Sie?“
Vorsichtig schob ich ihm das Antragsformular zu und deutete dabei eine Art Hofknicks an.
Er setzte eine Halbbrille auf, kratzte sich die Borsten am Hinterkopf, sah auf den Vordruck und widmete dann meinem Haarschopf eine ausführliche Betrachtung.
„Hmmmh!“ knurrte er. „So einfach geht das nicht. Dazu müssen wir erst einmal eine Prüfung vornehmen.“
Und so müsste ich zahlreiche Fragen beantworten: Alter, Schuhgröße, Kinderkrankheiten, Leibspeise, Anzahl der Steckdosen in meinem Badezimmer...
Ich versicherte an Eides Statt, über nicht mehr als zehn Finger zu verfügen, bestätigte, keine direkte Apanage vom Scheich von Tuvalu zu beziehen und über weniger als vierhundert Paar gebrauchte Socken zu besitzen.
Er sah mich über den Brillenrand an.
„Was auch immer Sie sagen... Ich glaube es Ihnen nicht! Ich glaube nie etwas! Und ich erschnüffel alle Unregelmäßigkeiten. Nicht umsonst waren meine Vorfahren hochqualifizierte Trüffelschweine. Schon die haben das Schwarzgold gerochen.“
Weil grundsätzlich jeder Bürger auf dem Finanzamt die Unwahrheit sagt, gäbe es auch nur noch einen einzigen Namenschalter. Man würde nur noch den Buchstaben „N“ führen für „notorischer Lügner“.
Deshalb erteile seine Behörde auch nur noch vorläufige Haareinfärbebescheinigungen, erklärte er mir, um nicht zu vergessen hinzuzufügen: „... unter dem Vorbehalt der Nachprüfung!“
Ich entrichtete die für die Ausstellung des Dokumentes erforderliche Gebühr, unbürokratisch gleich in bar und bei ihm, und er händigte mir das Dokument aus, nicht ohne mich dabei zu ermahnen, dieses alle sechs Monate erneuern zu lassen.
Beim Verlassen seiner Amtsstube hörte ich ihn zufrieden hinter mir her grunzen. Er fühlte sich in seiner Amtposition als Mann, als ganzer Kerl. Er war unbestritten ein prächtiger Eber. Im stillen malte ich mir aus, wie er auf mich gewirkt hätte, wenn er weiblichen Geschlechts gewesen wäre... Hätte ich dann auch so unbefangen von einem – ähh – weiblichen Eber in dieser Behörde sprechen können?
Mit freudigem Herzen eilte ich über den Flur in Richtung Ausgang, als ich schwere Schritte hinter mir vernahm. Erschrocken wich ich zur Seite.
Ein hochgewachsener älterer Schimmel durchmaß majestätisch den Gang, würdigte mich keines Blickes, und strebte der breiten Pforte zu.
Der Hahn, der am Eingang Dienst tat, sprang hinter seinem Pult hervor, riss unterwürfig die Tür auf, verneigte sich, bis sein roter Kamm den Boden berührte, und krähte dabei in einer noch nie gehörten devoten Tonlage: „Auf Wiedersehen, Herr Amtsvorsteher! Ich wünsche Ihnen eine angenehme Nachtruhe, Herr Amtsvorsteher! Auch eine besondere Verehrung an die Frau Gemahlin, Herr Amtsvorsteher!“
Wortlos hatte der Leiter dieses Amtes das Haus verlassen. Jetzt war wirklich Feierabend, wenn der Amtsschimmel zu seiner Stute strebte.
Es war späte Nacht, als ich endlich heim kam. Meine Frau wollte gerade ansetzen, mir Vorwürfe zu unterbreiten, als ich zu erklären begann, wo ich die letzten Tage zugebracht hatte. Ich kam gerade bis: „Ich war heute auf dem Finanz...“ Da unterbrach mich meine bessere Hälfte, sprach mir Trost zu und zeigte Verständnis für meine Erschöpfung.
Am Folgetag machte sich Meister Kurzschnitt an die lang ersehnte Kürzung meines wuchernden Haupthaares. Er vergaß auch nicht die altersgerechte Einfärbung in türkis, so wie es die amtliche Zuordnungstabelle vorschrieb.
Zum Entgelt für den Figaro entrichtete ich die seit kurzem obligatorische Haarfärbesteuer. Dafür bekam ich auch eine kleine runde Steuermarke um den Hals gehangen, von der dankbar das Antlitz unseres Finanzministers Kastanie strahlte.
Nur über meinen Nachbarn habe ich mich gewundert. Der war sicher nicht wesentlich jünger als ich, trug aber dennoch einen rosafarbenen Mittelstreifen. Ich studierte die amtliche Schätztafel und stellte fest, dass sich dort eine unerklärliche Differenz von mindestens zwanzig Jahren auftat.
... und jeden zweiten Tag wechselte er die Farbe. Dabei erinnerte ich mich, dass ich ihn an jenem Morgen, als ich mich auf meinen mühseligen Marsch durch die Instanzen aufgemacht hatte, mit einem großen Stapel Blankoformulare vom Finanzamt habe kommen sehen.
Es blieb mir ein Rätsel – bis zu jenem Tage, als ich ihn noch vor Tagesanbruch dabei erwischte, wie er mit einer großen Schubkarre voll Heu zum Hintereingang des Finanzamtes unterwegs war. Unter Tränen gestand er mir, dass er den Amtsschimmel persönlich kennen würde...
 

Zerok

Mitglied
Hallo Hannes!

"Oh mein Gott" war mein erster Eindruck: Hier wird ja kein Klischee ausgelassen - eine Geschichte über Bürokratie und das "verhasste" Amt wie es sie zu Tausenden gibt!

Okay: Das mit den Klischees ändert sich zwar bis zum Ende der Geschichte nicht, aber je weiter ich las, desto besser gefiel mir das Werk. Vor allem Dank Deiner "animalischen" Idee und Deines gefälligen Schreibstils. "Großraum vierundzwanzig, Schalter neun hochkant." ist ein Highlight. :)

Allerdings muss ich sagen: Das mit dem "Scheich von Tuvalu" hätte ich an Goethes Stelle auch nicht geglaubt. *grunz* Schlecht recherchiert! ;)

Darf ich fragen, welche Erfahrungen Du persönlich mit dem Finanzamt gemacht hast? Ich habe den Eindruck, dass Du selber dort arbeitest, gearbeitet hast oder jemanden gut kennt, der dort beschäftigt ist.

Viele Grüße
Zerok
 
Hallo Zerok,

herzlichen Dank für Deine kritischen Anmerkungen.
Natürlich triffst Du das Zentrum, wenn Du eine ganze Reihe von Klischees wieder entdeckst. Satire bedarf der Überzeichnung. Bei der von mir gewählten inhaltlichen Richtung sind es die Tiere, die (auch Klischee) für uns Menschen bestimmte Sinnbilder verkörpern (Schwein, Hund, Esel etc.).
Aber nur über dieses "Transportmittel" gelingt der Fingerzeig auf das, was dem Autor am Herzen liegt. Endlose Bürokratie, sinnlose Vorschriften, nicht übersehbare Verfahren und letztlich auch noch ein Hauch von Korruption. Mit Ausnahme des letzten Punktes sind uns die anderen Dinge doch schon oft im alltäglichen Umgang mit der "Obrigkeit" begegnet, oder?
Wer hat nicht selbst die Erfahrung gemacht, dass die "öffentliche Administration" in manchen Punkten zum Selbstzweck degeneriert?
Ansonsten bin ich kein Insider, sondern ausschließlich (König???) Kunde bei Ämtern und öffentlichen Verwaltungen. Mein persönliches Unverständnis über die Unlogik und weltfremde Abgerückheit mancher Interpretationen ist sicher ein anderes Thema. Aber wer versteht schon die Steuergesetze? Und wenn es Bedienstete des öffentlichen Sektor geben sollte, die beim Lesen dieser Story glauben, in einen Spiegel zu schauen, dann hätten wir einen kleinen Efolg erzielt.
Mit einem lieben Gruß aus Münster
Hannes
 



 
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