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D a s F l ö z
Der Student Sebastian grinste bitter und kratzte sich Nutella von der Backe. Die Raumstation MIR ist mit Hilfe einer Steuer-Rakete in den Orbit der Erde gezogen worden und planmäßig in der Atmosphäre verglüht......“ Die Zeitung glitt ihm aus der Hand. „Na klar, Steuerrakete“, dachte er, „weil die von Steuern bezahlt ist!“ Er stellte sich das klöterige Geräusch beim Abfackeln der wertvollen Messgerätschaft vor und kippte den Kaffee in die handtellergroße Tasse. Dann stellte er den Toaster schräger, so dass er die Herausgestoßenen besser beobachten konnte. Das Radio war auf einen lokalen Hausfrauensender eingestellt. Sebastian wollte sich nicht am frühen Morgen schon mit kritischen Beiträgen schwindelig quatschen lassen. Das Leben als Schlager, einfach gestrickt und doch seelenvoll, wenn auch leicht prätentiös, so wie er selber.
Mit spitzen Fingern griff er sich eine Scheibe Toast und blätterte die Zeitung um. Immer mehr Kohlebergwerke sind stillgelegt worden, und es gibt Vorschläge für die zukünftige Nutzung der riesigen Zechenanlagen. Seine Kaubewegung verlangsamte sich. Er sah plötzlich die Szenerie einer gigantischen Unterhaltungs-Maschinerie, so eine Mischung aus Kirmes und Love-Parade. Ob er es mehr seiner Spielleidenschaft verdankte, auf die richtige Spur gekommen zu sein, oder seinem enormen Riechzinken, das sollte er erst noch herausfinden.
Er überflog die Comics, in denen der Held seiner Braut einen unterschwungenen Heiratsvermittlungsantrag in die Sprechblase hauchte. Und während Blondie sich zickig vor dem Spiegel gab, orientierte Dankwart sich gerade zwischen zwei verschiedenen Rasierwässern. Beim Umblättern fiel Sebastians Blick auf einen Artikel über Gentechnologie. Ein gewisser Neuwirth lud zu einem Vortrag in der Uni ein. „Könnte man sich ja mal geben“, dachte Sebastian und ging ins Bad. Aus dem Spiegel nickte ihm ein besorgtes Gesicht zu. Er war spät dran. Seine Vorlesung begann in einer halben Stunde, und während er Sachen zusammenraffte, fiel ihm eine Karte aus den Büchern: Mercola Gentilini, Informatik und fraktale Geometrie. Mit dem spitzbübischen Aufmucken in slawischer Gesichtskonturierung schien sie der üppigsten Fantasie eines Drehbuchautors entsprungen zu sein, weder korpulent noch unterzuckert. Mit der nachklingenden Empfindung ihrer Begegnung in der Mensa rannte er die Treppen zur U-Bahn herunter.
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Der Kurs in Astro-Physik war mäßig belegt. Acht Zuhörer verloren sich in den leeren Reihen des Hörsaales. Der Professor schaute missvergnügt über den Brillenrand. „Wir wollen heute über den Teilchenbeschleuniger nachdenken.“ Die Studenten scharrten mit den Füssen. „Sie müssen sich diese Anlage wie eine Rennbahn vorstellen. Die Protonen und Leptosomen sind die Rennfahrer, die mit Dreihunderttausend Kilometer in der Sekunde Runde um Runde drehen. Einigen ist schon ganz schlecht.“ Gelächter der Studenten. „Vor allem hat man sie mit der ekligen Info auf die blitzblanke Bahn geschickt, dass ihnen eine Ladung feindlicher, von ihren eigenen Quarks unterminierten Leptosomen mit höllischer Geschwindigkeit entgegenkämen.“ Sebastian schaute verblüfft von seinen Aufzeichnungen hoch. „Da es keine Ampeln gibt, machen sich die subatomaren Crash-Test-Dummies bereit und ziehen die Scharniere ihrer Schutzhelme runter“, witzelte der Professor. Lasches Lachen im Hörsaal. Sebastian kritzelte in sein Heft: Wenn auch die Spur den Jäger fand, so war´s ihm nicht sogleich erkannt.
Der Professor übersäte rasant die Wandtafel mit Formeln. Die Stifte der mitschreibenden Studenten glitten klaglos übers Papier. Der Professor erhöhte jetzt das Tempo. Kaum unten angekommen, wischte er mit dem weißstaubenden Schwamm die obere Hälfte der Tafel leer und füllte kreideschabend die freigewordene Schieferfläche mit weiteren Unnachvollziehbarkeiten.
„Was machen eigentlich die Astrophysiker, wenn sie nicht gerade Fördergeldmillionen einstreichen?“, rief jemand von hinten. „Sie bauen lange Bahnen, und lassen mit unmoralischer Geschwindigkeit Teilchen aufeinanderprallen!“, parierte der Professor. Gelächter. “Wie verhält sich der Faktor Zeit bei den Experimenten? Fließt die Zeit immer nach vorn?“, fragte Sebastian. „Wissen Sie, in der Brutkammer der Materie vermischen sich die Dimensionen, und wir kämpfen noch mit der einen oder anderen Theorie“, zuckte der Professor mit den Schultern. Sebastian war jetzt aufgestanden: „Newton suchte in den Gesetzen der Welt nach Schönheit und Einfachheit. Was halten Sie davon?“ „Die Einfachheit als Ausdruck von Ästhetik“, schwärmte der Professor, „so wie bei Shakespeare“.
„Max Planck hat doch ein holistisches Weltbild postuliert: Religion und Wissenschaft müssen zusammenkommen! Wir brauchen einen interdisziplinären Austausch, Herr Professor!“ rief ein glattgekämmter Student, und hob dabei pathetisch die Arme. Die Zuhörer lachten über die paraphrasierte Gelehrtengestik. Der Professor ließ die Herausforderung unbeachtet: „Pamphletisieren Sie hier nicht so herum! Wissen Sie, die Teilchenbeschleuniger sind die Tempel unserer Zeit.“ Er winkte zu Sebastian rüber, er solle sich wieder setzen und fuhr dann fort: „Und was die Schönheit angeht, die entsteht beim wissenschaftlichen Experiment durch die Strenge der erfahrbaren Formeln! In manchen Kunstwerken kann man diese Strenge erfahren.“
Sebastian benutzte die ehrfürchtige Stille und sprach halblaut auf sein Pult: „Diese Strenge aber wacht mit eiserner Faust darüber, dass wir nur das glauben, was man unter Mikroskopen oder in Teleskopen beobachten kann. Der Geist hinter den atomaren Phänomenen wird ignoriert. Der Mensch ist aber ein geistiges Wesen.“ Er war jetzt wieder aufgestanden und zupfte an seiner Jacke. „Wir stecken nur vorübergehend in diesem Bio-Behälter. Wir können deshalb nicht nur das physische erforschen. Was wir brauchen ist ein interdisziplinärer Austausch.“ „Und was schwebt Ihnen da so vor?“, unterbrach der Professor. „Berührungspunkte zwischen Sport und Geisteswissenschaft. Analyse und Kreativität, Zusammenführung beider Gehirnhälften. Erschließung unseres gesamten geistigen Potentials, nicht nur der Ratio!“ Sebastian setzte sich. Der Professor hatte aufgehört mit den Fingern auf dem Pult zu trommeln: „Vielen Dank für Ihre erschöpfenden Ausführungen“. Kichern.
Er war von seinem Podest herunter gekommen und stand nun nahe bei Sebastian. Er öffnete seine Schnupftabakdose und bot an. Sebastian konnte an der antiquierten Unterseite die Gravur des ehemaligen Besitzers erkennen: E.T.A. Hoffmann. Zuerst fröstelte ihm bei dem Gedanken, in dem Professor ein Schlitzohr versteckt zu wissen, doch dann stahl sich ein Grinsen hinter seine Ohren, das sich, nachdem er zwei, drei kräftige Prisen gesnieft hatte, offen hervorwagte.
„Herr Professor. Stimmt es, dass man im Universum keinen Körper schneller als Licht beschleunigen kann?“ Der Professor: „Ja, es würde ihn zerreißen“. „O.K. Aber, wenn man um einen Körper herum ein Feld von Tachyonen, Swivels, Quanten und elektromagnetischen Teilchen rotieren lässt, kann man den gleichen Beschleunigungs-Effekt erzeugen“
Der Professor setzte eine Staatsanwaltschaftsmine auf und rollte böse mit den Augen. Sebastian setzte nach: „ Wie erklären Sie uns die Phänomene bei den Einstein/Rosen/Poldolski-Experimenten? “ Man sah dem gequälten Gesichtsausdruck des Professors an, dass ihm die Frage höchst ungelegen kam. Sebastian ließ nicht locker und vollführte den balinesischen Fingerlocktanz zum Herauskitzeln einer Info. “Wir wissen es nicht. Da müssen irgendwelche Informationen fließen.“ Sebastian lachte hohl. „Was bedeutet es für die Forschung, wenn das Bewusstsein des Forschenden eine entscheidende Rolle beim Ausgang eines Experimentes zu spielen scheint?“ Hölzern versuchte sich der Professor hinter vorgekauten Statements zu verschanzen. Er schnarrte schnell: „Vorlesungssäle, Amphitren, Aulen und sonstige demokritische Kultstätten mit stufiger Sitzordnung...“
Den Rest verstand Sebastian nicht mehr, weil der Professor sich abrupt der Tafel zugewandt hatte.
Fortsetzung folgt