Das Foto

Das kleine k

Mitglied
Das Foto

Mein Vater starb vor meiner Geburt. Daher wohnte ich mit meiner Mutter alleine in einer kleinen Wohnung in einer großen Stadt.
Ursprünglich stammte meine Mutter aus einem weit entfernten Dorf, wo ihre Familie auch immer noch lebte und die ich kaum je sah. Meine ganze Welt bestand, bis ich in die Schule kam, hauptsächlich aus meiner Mutter und mir.

Meine Mutter – oder besser gesagt, meine Mutter und ich, denn ich wuchs damals bereits in ihrem Bauch heran – waren aus dem entlegenen Dorf in die große Stadt gezogen, weil meine Mutter „wegen der Schande“, wie sie sagte, nicht dort bleiben konnte. Mein Vater starb nämlich nicht nur vor meiner Geburt, sondern auch vor der Hochzeit mit meiner Mutter. Und sobald sich abzuzeichnen begann, dass meine Mutter mit mir schwanger war, fing das Getuschel an. Mit ihrer Schwangerschaft wurde klar, dass meine Mutter zu den Frauen gehörte, die „ihre Beine nicht zusammenhalten“ konnten, so drückte meine Mutter das aus. Die Menschen hatten nicht viel für solche Frauen übrig, und am wenigsten hatten die Menschen in dem Dorf, aus dem meine Mutter stammte, für solche Frauen übrig. In der Stadt war die Meinung dazu zwar keineswegs großartig anders, doch dort kannte zumindest nicht jeder jeden.

Wenn in der Stadt Leute fragten, wo denn mein Vater sei, erzählte meine Mutter bloß, dass er vor meiner Geburt gestorben sei. Dass er auch vor ihrer Hochzeit mit ihr gestorben war, erwähnte sie nicht, so dass die Leute automatisch annahmen, sie sei verwitwet. Es war kurz nach dem Krieg, daher war daran nichts besonderes. Niemand bohrte nach, wie mein Vater gestorben war. Und meine Mutter offenbarte nichts weiter, als dass er tot war.

Nur mir gegenüber erzählte sie oft Geschichten über meinen Vater. Meine Lieblingsgeschichte war die, wie meine Eltern sich kennengelernt hatten. „Es war an einem Tag im Winter“, pflegte meine Mutter die Geschichte zu beginnen. „In den Wochen zuvor war es bitterkalt gewesen, doch an diesem Tag – und auch schon an einigen Tagen zuvor – war es wärmer. So warm, dass der Schnee zu einem ekligen Matsch zusammenschmolz und das Eis auf dem Bach, der am Dorf vorbeifloss, zu tauen begann. Ich ging am Bach entlang spazieren, aus dem Dorf heraus und in den nahe gelegenen Wald hinein. Zuvor hatte ich mich mit meiner Schwester gestritten. Es war bestimmt ein ganz alberner Streit; ich kann mich nicht erinnern, worum es ging.“
An dieser Stelle hielt sie immer nachdenklich inne, und auch ich wurde nachdenklich - allerdings aus anderen Gründen. Während meine Mutter darüber nachzugrübeln schien, über was sie bloß mit ihrer Schwester gestritten haben könnte, dachte ich darüber nach, wie es wohl wäre, überhaupt eine Schwester zu haben, mit der man streiten konnte. Oder einen Bruder; ich war nicht wählerisch, was das betraf. Gleichwohl ich mich nicht ernsthaft irgendwelchen Illusionen hingab, ich könnte irgendwann einen Bruder oder eine Schwester haben, beschäftigte mich der Gedanke, wie es wäre, wenn ich doch kein Einzelkind wäre, oft sehr stark. Was die Möglichkeit betraf, meine Mutter könne ein weiteres Kind zur Welt bringen: Sie hatte mir gegenüber oft genug klar gemacht, dass ein Kind für sie vollkommen ausreichend war. Ich kann gar nicht zählen, wie oft sie zu mir gesagt hat: „Es gibt Mütter, die sind für fünf Kinder gemacht, und welche, die sind für zehn Kinder gemacht. Ich bin eben nur für ein Kind gemacht.“ Das war eine unabänderliche Tatsache in unser beider Leben. Als ich älter wurde, ging mir schließlich auch auf, dass mein Einzelkind-Dasein nicht nur in der Theorie meiner Mutter begründet lag, sie sei dafür geschaffen, die Mutterschaft für ein Kind, und nur ein Kind, zu übernehmen, sondern auch schlicht und ergreifend im Mangel an einem potentiellen Vater für weitere Kinder. Und als ich noch älter wurde, wurde mir ebenfalls bewusst, dass meine Mutter bestimmt einen Mann für diese Rolle hätte finden können, wenn sie nur gewollte hätte. Sie war sehr jung gewesen, als ich geboren wurde, und sie war wirklich eine hübsche Frau; das sah man sogar noch, als sie langsam alt wurde. Aber sie wollte eben nicht, und somit waren meine Grübeleien, wie es wohl wäre, mit Geschwistern aufzuwachsen, müßig.

Wenn meine Mutter dann genug erfolglos darüber nachgesonnen hatte, worum es in dem Streit mit ihrer Schwester gegangen war, setzte sie ihre Geschichte fort. Falls ich es dann noch nicht geschafft hatte, mich aus meinen eigenen Gedankengespinnsten zu befreien, machte das auch nicht viel aus, denn meine Mutter erzählte die Geschichte immer gleich, so dass ich mich leicht an jeder beliebigen Stelle wieder hineinfinden konnte. „Woran ich mich aber gut erinnern kann, ist, dass ich sehr wütend auf meine Schwester war, und in meiner Wut kaum auf meine Umgebung achtete. Ich stapfte einfach nur vor mich hin, dachte über den Streit und meine Wut nach und steigerte mich immer mehr hinein. Als ich endlich aufblickte, stellte ich fest, dass ich schon sehr weit gegangen war. Viel weiter, als ich gedacht und auch eigentlich beabsichtigt hatte; so weit, dass ich gar nicht mehr so recht wusste, wo ich war. Weißt du, damals waren die Wälder noch sehr viel dichter als heute, und besonders in der Gegend, wo ich aufgewachsen bin, gab es sehr viele dunkle, tiefe und dichte Wälder. Wenn man nicht aufpasste, konnte man sich in so einem Wald glatt verlaufen, so wie in dem Märchen von Hänsel und Gretel. Außerdem gab es damals auch noch sehr viel mehr Tiere in den Wäldern, nicht bloß ein paar Kaninchen und hier und da ein Wildschwein oder einen Fuchs. Es gab auch Wölfe und Bären und Luchse; Tiere, vor denen man sich schon ein bisschen in Acht nehmen musste.
Jedenfalls war ich ziemlich weit in den Wald eingedrungen, und die Dunkelheit schlich sich schon langsam heran. Allerdings merkte ich bald, dass es nicht nur die Dunkelheit war, die sich heranschlich. Ich hörte ein Knacken und Rascheln im Wald; ich hörte, dass da irgendein Tier war, dass ich nicht allein war. Doch so sehr ich meine Augen auch anstrengte, ich konnte das Tier nicht sehen. Bis dahin war mir noch nicht besonders mulmig zumute gewesen. Ich war ja die ganze Zeit dem Bach gefolgt, so dass ich leicht wieder zurück nach Hause finden konnte, indem ich einfach umdrehte und am Bach entlang zurückging. Das mit dem Tier jedoch war eine andere Sache. Zwar hielten die meisten Tiere sich von Menschen eher fern und waren recht scheu, doch gerade in einem langen, bitteren Winter, wenn sie Schwierigkeiten hatten, Futter zu finden, kam es durchaus vor, dass zum Beispiel ein Bär auch mal einen Menschen anfiel. Die Leute im Dorf erzählten immer wieder davon, wer alles bei Angriffen von Wildtieren in den Wäldern schwer verletzt oder gar getötet worden war. Kein Wunder, dass mir jetzt Angst und Bange wurde! Ich wusste gar nicht so richtig, was ich jetzt tun sollte. Ein bisschen albern kam ich mir auch vor. Bloß, weil ich im Wald ein paar Geräusche hörte, nahm ich gleich das Schlimmste an und machte mir vor Angst fast in die Hose. Es konnte schließlich genau so gut nur ein Kaninchen sein, dass da herumhoppelte, oder der Wind, der die Geräusche verursachte. Beinahe hatte ich mir das schon selbst eingeredet und mich wieder beruhigt, da sah ich auf einmal, was die Geräusche verursacht hatte. Es war nicht der Wind gewesen, und auch kein Kaninchen. Es war nicht einmal nur ein einziges Tier gewesen. Auf einmal sah ich mich umkreist von einem ganzen Rudel Wölfe!“

So oft ich die Geschichte auch schon gehört hatte, an dieser Stelle lief es mir doch immer kalt den Rücken hinunter. Wahrscheinlich lag das auch an der faszinierenden Vorstellung, der Gefahr in Gestalt von wilden, hungrigen Tieren zu begegnen. Als Stadtkind wusste ich, dass man sich vor Autos, Bussen und Straßenbahnen in Acht nehmen musste, und dass auch unter den Menschen allerlei Gesindel war, das Schlechtes im Sinn hatte und dass man sich daher tunlichst von Fremden fernhielt und einsame Gegenden, besonders in der Dunkelheit, mied. Die einzigen gefährlichen Tiere, die ich je gesehen hatte, waren jedoch die Löwen und Tiger und Eisbären im Zoo, und die waren gut eingesperrt, so dass die Gefahr, die von ihnen ausging, eher derjenigen von einem unheimlichen Buch glich: Man hatte zwar immer ein bisschen Angst, doch man hatte auch stets die beruhigende Gewissheit, dass einem nichts passieren konnte. Ganz anders war das, wenn man so einer Gefahr auf einmal von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand! Ich klammerte mich an die Hand meiner Mutter, die an dieser Stelle des Effektes wegen gern eine weitere Pause einlegte, und hoffte, dass es bald endlich weitergehen würde, auch wenn ich schon wusste, was geschehen würde.

„Zwar hatte mein Vater mir immer wieder erklärt, wie man sich in einer solchen Situation verhalten sollte“, fuhr meine Mutter fort. „In diesem Moment jedoch war ich einfach nur wie gelähmt vor Schreck, mein Kopf war wie leergefegt. Das einzige, was mir in den Sinn kam, war, die Beine in die Hand zu nehmen und wegzulaufen. Gleichzeitg war mir aber auch klar, dass mir das wohl nicht viel helfen würde. Die Wölfe waren ganz bestimmt schneller als ich, und sie waren, im Gegensatz zu mir, nicht allein. Zudem hatten sie sich so um mich herum verteilt, dass mir jeder Fluchtweg versperrt war. Ich konnte nur zum Bach, und das traute ich mich wiederum nicht, da das Eis durch das plötzliche Tauwetter so dünn geworden war, dass ich nicht sicher war, ob ich nicht einbrechen würde. Und außerdem, was sollte die Wölfe hindern, mir auf das Eis zu folgen? Sie würden sich dort zwar vielleicht etwas schwieriger bewegen können als auf festem Boden, aber das gleiche galt schließlich auch für mich; es wäre also kein Vorteil für mich, sondern würde die Situation, wenn überhaupt, eher zu meinem Nachteil verändern. Ich war wirklich ratlos und sicher, dass es jetzt zu Ende war mit mir. Es kam mir in den Sinn, wie traurig es war, dass ich mich jetzt nicht wieder mit meiner Schwester aussöhnen konnte, und auch sonst fielen mir auf einmal jede Menge Sachen ein, die ich unbedingt noch tun wollte.
Die Wölfe sahen wirklich gefährlich aus, und auch hungrig, wie ich fand. Ich konnte förmlich sehen, wie ihnen das Wasser im Maul zusammenlief bei dem Gedanken an die großartige Mahlzeit, die ich abgeben würde. Mittlerweile zitterte ich vor Angst, ich wusst nicht aus noch ein. Doch plötzlich, als ich die Hoffnung, ich könnte irgendwie heil aus dieser Situation herauskommen, schon vollständig aufgegeben hatte, peitschte ein Schuss durch die Dunkelheit. Die Wölfe sahen sich beunruhigt um. Es gab genügend Jäger in den Wäldern, dass sie wussten, was dieses Geräusch bedeutete. Und auch wenn keiner von ihnen getroffen worden war, packte sie nun ihrerseits die Angst. Sie hielten noch einen kurzen Augenblick inne, überdachten wohl die Lage. Dann begannen sie klugerweise ihren Rückzug.“

Hier gönnte meine Mutter dem geneigten Zuhörer – also mir – eine weitere Pause. Die unmittelbare Gefahr war vorbei, die Anspannung fiel von mir ab. Gleichzeitig wollte ich unbedingt, dass sie weitererzählte; dass sie endlich aufdeckte, woher der Schuss gekommen war und was weiter geschah. Nicht, dass ich nicht auch das bereits gewusst hätte. Aber mir war aus unerklärlichen Gründen immer, als könne die Geschichte ausgerechnet dieses Mal eine andere Wendung nehmen. Daher war dies auch die einzige Stelle, an der ich meinerseits etwas sagte. „Erzähl weiter!“, drängte ich meine Mutter und wackelte nervös mit den Füßen.

Und meine Mutter erbarmte sich natürlich. „Als die Wölfe nicht mehr zu sehen waren, spürte ich, wie mein Herzschlag sich wieder beruhigte, wie ich langsam wieder klar denken konnte. Ich sah mich um, wo der Schuss wohl hergekommen war. Lange brauchte ich nicht zu suchen, denn ein junger Mann, etwa in meinem Alter, kam hinter den Bäumen hervor. In diesem Moment war ich fest davon überzeugt, niemals einen schöneren Menschen gesehen zu haben. Wie sich mit der Zeit herausstellte, blieb diese Überzeugung, war nicht nur durch die Tatsache begründet gewesen, dass dieser junge Mann mir gerade das Leben gerettet hatte. Denn von nun an sollten wir uns öfter sehen.“ Noch eine Pause, winzig, fast unmerklich. Dann, mit einer Stimme, in der eine unglaubliche Bedeutsamkeit mitschwang: „Dieser junge Mann war dein Vater.“

Oh, wie ich diese Geschichte liebte! Sie prägte meine Vorstellung davon, wie ich einmal in ferner Zukunft die Frau fürs Leben finden würde. Nicht schnöde auf einem Fest, bei der Arbeit, gar in der Schlange beim Einkaufen – nein, nichts geringeres konnte geschehen, als dass ich ihr das Leben retten würde. Oder, schränkte ich mit der Zeit ein, ihr zumindest in einer schwierigen Lage beistehen und helfen würde. Die Möglichkeiten, hier, mitten in der Stadt, in die Situation zu geraten, einem anderen Menschen das Leben zu retten, schienen mir doch sehr eingeschränkt, so dass ich mich wahrscheinlich damit würde zufrieden geben müssen. (Passiert ist es dann natürlich ganz anders, aber das hat mit dem, was ich erzählen will, nichts zu tun.)

Meine Mutter hatte nicht nur eine Menge Geschichten über meinen Vater, mit denen sie mir zeigen konnte, was für ein wundervoller Mensch er gewesen war – und das belegten alle Geschichte, wenn auch keine so dramatisch war wie die Geschichte des Kennenlernens meiner Eltern –, es gab auch ein Foto von ihm, das meine Vorstellung von ihm vervollständigte. Das Bild stand auf dem Nachttisch meiner Mutter, und ich saß oft auf ihrem Bett und sah es mir gedankenversunken an. Stellte mir vor, wie es wohl wäre, wenn er noch bei uns wäre. Oder wenn er wenigstens nicht vor, sondern erst einige Zeit nach meiner Geburt gestorben wäre, so dass ich zumindest eine eigene Erinnerung an ihn hätte, statt nur der Erzählungen meiner Mutter.

Das war auch die einzige Sache über meinen Vater, zu der meiner Mutter nicht einmal mir gegenüber etwas sagte: Seinen Tod. Ein einziges Mal hatte ich es gewagt, sie danach zu fragen. Sie hatte mich angeschaut mit einem Blick, der mir deutlich machte, dass es nicht ratsam wäre, diese Frage noch ein weiteres Mal zu stellen, und nur einen einzigen Satz gesagt: „Er ist verblichen, und das ist alles, was du wissen musst.“ Überhaupt kann ich mich nicht erinnern, dass sie, auch anderen Leuten gegenüber, den Tod meines Vaters jemals mit anderen Worten ausgedrückt hätte. Immer nur: „Sein Vater ist vor seiner Geburt verblichen.“ Oder: „Der Junge hat keinen Vater; er ist schon vor langer Zeit verblichen.“ Und so sehr es mich auch ärgerte, dass nichts näheres über die Umstände zu erfahren war, unter denen mein Vater zu Tode gekommen war, finde ich doch bis heute, dass diese Beschreibung die allerbeste ist, die es gibt, wenn jemand gestorben ist. Denn ist es nicht ein Wort, das genau auszudrücken vermag, was passiert, wenn jemand stirbt: verblichen? Am Anfang sind die Erinnerungen daran, wie der Verstorbene war, wie er aussah, noch frisch und lebendig. Wie ein gerade entwickeltes Foto, das nur so glänzt und schillert vor lauter Farben. Doch wenn die Zeit vergeht, verblassen die Erinnerungen langsam und tauchen immer seltener in den Gedanken auf. Sie verbleichen, genau wie das Foto, wenn es älter wird und man es nur noch selten hervorkramt, um es zu betrachten. Irgendwann weiß mann vielleicht nicht einmal mehr genau, wer all die Leute auf dem Foto sind. Und man ist sich auch mit seiner Erinnerung an den Verblichenen nicht mehr sicher. Wie war das noch, als diese und jenes passierte? Und welche Augenfarbe hatte er noch mal? Sie verschwindet nicht ganz, die Erinnerung, doch sie wird immer blasser und blasser.

Unvermeidlich kam dann schließlich der Moment, in dem die traute Zweisamkeit, in der meine Mutter und ich lebten, zerstört wurde. Ich musste zur Schule, und wurde damit zum ersten Mal in meinem Leben von ihr getrennt. Es fiel mir anfänglich sehr schwer, die schier endlosen Stunden ohne sie durchzustehen. Mit der Zeit gewöhnte ich mich jedoch daran, fand ein paar Freunde in der Schule, ging schließlich, wenn auch nie gerne, so doch zumindest gleichmütig hin.

Und einer dieser Freunde sollte es schließlich sein, der mir zu Erkenntnissen über meinen Vater verhalf, wie es meine Mutter mit all ihren Geschichten über ihn nie getan hatte. Er fand es nicht nur ungemein faszinierend, dass ich keinen Vater mehr hatte – das war, wie gesagt, nicht unbedingt ungewöhnlich zu der Zeit und traf auf einige andere Jungen auch zu –, sondern viel mehr noch faszinierte ihn die Tatsache, dass ich auch noch nie einen Vater gehabt hatte. Gebannt lauschte er den Geschichten über meinen Vater, die ich mich bemühte, auf dieselbe Art und Weise weiterzuerzählen, wie ich sie unzählige Male von meiner Mutter gehört hatte. Und eines Tages reichten ihm die Geschichten nicht mehr. „Hast du nicht ein Foto von deinem Vater?“, fragte er. Als ich nickte, bedrängte er mich, das Foto doch einmal mitzubringen, damit er es sich ansehen konnte. Er bestürmte mich so lange, bis ich schließlich nachgab und versprach, zu versuchen, das Foto von meiner Mutter unbemerkt mit in die Schule und danach wieder zurück auf den Nachttisch zu schmuggeln.

Und eines Morgens gelang es mir tatsächlich, es mitzunehmen. An diesem Tag wollte meine Mutter, während ich in der Schule war, einige Dinge in der Innenstadt erledigen. Sie hatte einzukaufen, musste zum Arzt – es würde den ganzen Vormittag dauern. Daher verließen wir gemeinsam das Haus und sie versprach mir, mich später von der Schule abzuholen, damit wir zusammen wieder nach Hause gehen konnten. Als wir schon vor der Tür standen, sagte ich meiner Mutter, ich hätte ein Buch vergessen. „Dann lauf schnell und hol es. Ich warte hier auf dich“, sagte sie, genau, wie ich es erwartet hatte. In Wirklichkeit hatte ich natürlich all meine Bücher bei mir. Ich flitzte rasch in das Schlafzimmer meiner Mutter, nahm dort das Foto vom Nachttisch und legte es vorsichtig in meine Schultasche.

In der großen Pause in der Schule schaute ich das Bild lange an, bevor ich es an meinen Freund weiterreichte. Es zeigte einen wirklich außergewöhnlich schönen jungen Mann, der in die Kamera lächelte, dass seine Zähne nur so blitzten – das konnte man sogar auf der Schwarz-Weiß-Fotografie erkennen.
Nachdem ich meinem Freund das Foto gegeben hatte, warf der nur einen flüchtigen Blick darauf, bevor er meinte: „Anton, das ist nicht dein Vater.“ Ungläubig starrte ich ihn an. „Wie meinst du das?“, presste ich hervor. „Siehst du dir nie Filme im Kino an?“ Stumm schüttelte ich den Kopf. Meine Mutter sagte immer wieder, dass die Filme im Kino die Menschen nur dumm und träge machten und dass sie mir deshalb nicht erlaubte, mir welche anzusehen; ich vermutete allerdings, dass uns auch das Geld dazu fehlte. Mein Freund erklärte mir, dass der Mann auf dem Foto ein berühmter Schauspieler sei, von dem ich bis dahin allerdings noch nichts gehört hatte. Und dieser Schauspieler war keineswegs tot, und ganz sicher war er nie in dem kleinen Dorf meiner Mutter gewesen und hatte ihr dort das Leben gerettet. Er war Amerikaner, und er war, wie mein Freund zu berichten hatte, auch immer nur in Amerika gewesen.

Bevor meine Mutter mich an diesem Mittag von der Schule abholte, warf ich das Foto in eine der Mülltonnen an der Schule. Befriedigt sah ich, wie das Glas splitterte. Ich wusste nun, dass meine Mutter mich angelogen hatte, was meinen Vater betraf, und war tief enttäuscht.

Ich habe nie mit meiner Mutter darüber gesprochen, was an diesem Tag geschehen war. Allerdings bin ich sicher, dass sie es wusste. Das Foto war weg, und ich bat sie nie wieder, eine Geschichte über meinen Vater zu erzählen. Sie hat keine dieser beiden Tatsachen je auch nur mit einem Wort erwähnt. Ich weiß nicht, ob sie darauf gewartet hat, dass ich sie fragte, wer denn nun wirklich mein Vater gewesen war. Ob er vielleicht noch lebte. Warum sie mir nicht die Wahrheit erzählt hatte. Keine dieser Fragen habe ich ihr je gestellt.

Inzwischen frage ich mich all diese Dinge auch selbst nicht mehr. Meine Mutter ist schon seit Jahren tot, ich habe selbst eine Familie. Es ist nicht mehr wichtig, wer mein Vater war. Wenn mich jemand nach meinen Eltern fragt, sage ich, dass sie beide tot sind. Und vor dem Tod meiner Mutter erwähnte ich nur, dass mein Vater vor meiner Geburt gestorben war. Das reicht den Leuten vollkommen, sie fragen nicht weiter nach. Nicht einmal meine Frau hat weiter nachgefragt; bestimmt hat sie meinen Unwillen gespürt, mehr zu erzählen.

Manchmal jedoch, wenn ich in der Nacht im Bett liege und nicht schlafen kann, denke ich darüber nach, ob meine Mutter wirklich geglaubt hat, was sie mir über meinen Vater erzählt hat. Ich werde es nie erfahren, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass sie tatsächlich daran glaubte.
 
N

nobody

Gast
Hallo kleines k,
wenn Du so weiter schreibst, wird wohl bald ein größeres K aus Dir werden. Gut fand ich den ersten Satz, weil er mich neugierig machte; gut fand ich auch die gewisse Distanz, mit der der Ich-Erzähler die Sache rüber bringt, und gut finde ich auch, wie anschaulich (und ohne Larmoyanz) die Situation der ledigen Mütter und unehelichen Kinder in der damaligen Zeit geschildert wurde.
Manche Passagen erschienen mir ein wenig sehr ausführlich, zum Beispiel diese Reflexionen zur Frage "Einzelkind oder mehrere Kinder?" und die "Wolfsgeschichte". Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie schwer das Kürzen und Streichen liebgewordener Formulierungen sein kann - aber meistens lohnt es sich.
Gruß und Willkommen in der Leselupe
Franz
 

Das kleine k

Mitglied
Vielen Dank! Ich werde mir deine Kürzungsvorschläge auf jeden Fall zu Herzen nehmen und mal schauen, wovon ich mich so trennen kann... ;-))
 



 
Oben Unten