Das Fresstierchen

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Harmonika

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Das Freßtierchen


Vor kurzem habe ich mir ein kleines Freßtierchen gekauft. Eigentlich wollte ich einen Hund oder eine Katze oder ein größeres Tier haben, aber als ich das kleine Wesen erst einmal in der Kaufhausabteilung gesehen hatte, wie es so traurig aus seinem Glaskasten guckte, konnte ich es nicht übers Herz bringen es einfach so da sitzen zu lassen. Es war ganz klein und hatte gerade so auf meiner ausgestreckten Hand Platz. Beine hatte es genau sechzehn an der Zahl, es ähnelte also einer kleinen Raupe, nur die Schnauze war wie die eines Krokodils geformt und im Maul saßen vier Reihen winziger, spitzer Zähne. Die langen Ohren erinnerten mich sofort an eine zusammengewickelte Luftschlange, besonders wenn sie sich alle zwei Minuten zu großen Trichtern formten, um Geräusche aufzufangen. Die kleinen Augen schwirrten unruhig hin und her und beäugten alles mißtrauisch, was sich in Sichtweite befand. Zu Hause setzte ich das Freßtierchen vorsichtig auf dem Boden ab. Es schnüffelte etwas herum, drehte sich im Kreis und wanderte nach einigen Sekunden zielsicher auf den Kühlschrank zu.
Ich konnte mir nicht vorstellen, daß dieses kleine Wesen in der Lage wäre, die schwere Kühlschranktür zu öffnen, deshalb tat ich es und holte eine saftige, rote Möhre hervor. Vorsichtig legte ich sie vor dem Freßtierchen auf den Boden, unsicher, ob es wohl Gemüse mochte. Doch mein Zweifel verschwand schnell: Es fraß die Möhre ohne zu zögern ratzekahl auf und machte nicht einmal vor den Blättern halt. Dann sah es zu mir auf und starrte mich neugierig an.
„Willst du etwa noch eine?“ fragte ich. Ich suchte nach einer zweiten Möhre, die es abermals sofort gierig verschlang, wobei ihm fast meine Hand zwischen die Zähne gekommen wäre. Als es auch die dritte Möhre zur Hälfte angeknabbert hatte, machte es eine kurze Pause.
„Satt?“ wollte ich wissen. Das Freßtierchen legte sich auf den Rücken, stieß einen Laut aus, der vielleicht einen Seufzer darstellen konnte, und schlief einfach ein.
Mitten in der Nacht wachte ich auf. Ein seltsames Geräusch hatte mich geweckt. Als ich das Licht anknipste, konnte ich gerade noch sehen, wie ein Blatt Papier im Maul des Freßtierchens verschwand. Es saß auf dem Schreibtisch zwischen meinen letzten Prüfungsarbeiten und war gerade dabei, „Test Nummer drei“ genüßlich zu vertilgen.
„Was machst du denn da?“ schrie ich. „Laß das, den muß ich doch morgen noch in der Schule vorzeigen!“ Ich hob das Freßtierchen ruckartig hoch und trug es ins Bad, wo ich ihm mit der Zahnbürste meines Vaters die letzten Papierreste zwischen den Zähnen herauskratzte. „Mach so was nie wieder!“ drohte ich ihm. „Das nächste Mal weckst du mich, wenn du Hunger hast, kapiert?“ Ich war nicht sicher, ob es mich verstanden hatte, es sah mich nur mit einem Blick an, der Bände sprach. Verärgert trug ich es in die Küche und verfütterte ihm die restlichen Weihnachtsplätzchen. Es hat gar nicht gemerkt, daß sie noch vom letzten Jahr waren, aber vielleicht interessiert sich ein Freßtierchen nicht für Haltbarkeitsdaten. Jedenfalls schlief es den Rest der Nacht tief und fest, wie ich selber an seinem lauten Schnarchen feststellen konnte.
Das Freßtierchen schlief bis in den nächsten Morgen hinein weiter, ohne zwischendurch noch einmal Ärger zu machen. Bevor ich in die Schule ging, stellte ich ihm eine Schale Kekse in seinen Karton, die es als Frühstück verspeisen durfte.
Als ich spät am Nachmittag wieder nach Hause kam, empfing mich meine verzweifelte Mutter mit der Nachricht, das Freßtierchen habe nicht nur die Kekse als Frühstück angesehen, sondern auch seinen Karton und meinen Teppich. Sie schimpfte, sie würde dieses Biest aus dem Haus werfen, wenn ich mich nicht besser darum kümmern würde. Kleinlaut zog ich mich mit meinem Mittagessen in mein Zimmer zurück. Es gab Pizza mit Thunfisch, was ich noch nie besonders leiden konnte. Das Freßtierchen allerdings aß den ganzen Teller leer ohne auch nur einmal Luft zu holen und hätte beinahe auch noch in das teure Porzellan gebissen, wenn ich es nicht noch rechtzeitig davon abgehalten hätte.
Während ich meine Hausaufgaben machte, dachte ich darüber nach, wie ich das Problem mit dem Freßtierchen regeln könnte. Dabei reichte ich dem kleinen Wesen hin und wieder Abfälle wie einige Späne aus meinem Spitzer oder die Radierfussel zu, die es heißhungrig von meiner Hand ableckte. Seine Zunge fühlte sich rauh und warm an. Als Abfalleimer war das kleine Tier wirklich gut geeignet.
Irgendwann zwischen dem Thales-Satz und dem Imparfait kam mir dann die Idee, das Freßtierchen ganz einfach mit in die Schule zu nehmen. Fieberhaft überdachte ich meinen Plan noch einmal und kam zu dem Schluß, daß eigentlich nichts Gefährliches an der Sache sein konnte, solange ich genügend Vorrat auf Lager hatte. Außer Fressen tat dieses Tier ja sowieso nichts anderes.
Am nächsten Morgen war ich fest dazu entschlossen meinen Plan durchzuführen. Ich fischte das Freßtierchen aus meiner Müslischüssel, packte es in die Kekstüte und steckte es zu den Büchern in meinen Schulranzen.
In der Schule versammelten sich alle meinen Klassenkameraden um mich, als das laute Schmatzen des Wesens hörten. Das Freßtierchen musterte sie mit argwöhnischem Blick, während es an einem Lolli herumlutschte. Es erntete großes Gelächter, als es sogar den Stiel auffraß. Einige meiner Mitschüler versuchten auch seine glatte, grüne Haut zu streicheln, mit dem Ergebnis, daß die Hälfte der Klasse beim Diktat nicht mitschreiben konnte.
Der Deutschlehrer war darüber nicht besonders erfreut. „Wir schreiben doch bald eine Arbeit mit Grammatikteil! Was denkt ihr denn, was auf diese Art und Weise dabei herauskommt? Wir haben noch kein einziges Mal geübt...- und ihr seid ja auch wirklich keine großen Leuchten.“ Er seufzte laut. Dann verkündete er: „Seite 158 oben, lest euch den Text durch. Danach suchen wir die Verben heraus. Los jetzt!“
Wir machten uns daran, die Geschichte durchzulesen. Als ich wieder aufsah, merkte ich, daß unser Deutschlehrer verschwunden war. Seltsamerweise kam mir mein Freßtierchen auch etwas dicker als vorher vor.
Für diesen Vormittag fiel der Unterricht aus, da es keinen einzigen Lehrer gab, der bereit war die Vertretungsstunde zu halten. Meine Mutter wunderte sich nicht einmal, daß ich früher nach Hause kam, aber wahrscheinlich war ihr das nur recht so, weil sie mir dann noch etwas mehr Hausarbeit aufbrummen konnte. Ich verdrückte mich sicherheitshalber in mein Zimmer und probierte mit meinem Freßtierchen verschiedene Spiele aus, aber es wollte einfach nur auf dem Boden liegen und faulenzen. Irgendwann kam ich dann auf die Idee, diese ganze Ge chichte mit dem Freßti rchen einma aufzuschre b n und ich hä te es auc getan, wen nic t pl tzlich der Schreibti ch fort gewese wäre und das Papi r und ich uch.. .... . ... . .


© Harmonika
 
A

Arno1808

Gast
Liebe Harmonika,

Dein Tierchen erinnert mich durchaus an den einen oder anderen Vertreter des menschlichen Geschlechts! :D

Eine lustige Geschichte und wahrscheinlich der Traum mancher Schüler ...

Lieben Gruß

Arno
 

anemone

Mitglied
hallo Harmonika!

Nach der Verdauung dieses seltsamen Tierchens wollen wir besser nicht weiter fragen,
eine sehr interessante, witzige Geschichte.

lG
anemone
 



 
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