Das Gedächtnis

Zodiarche

Mitglied
Der Alkohol brannte in seiner Kehle und zwang ihn dazu das Gesicht etwas angewiedert zu verziehen. Er betrachtete die bernsteinfarbene Flüssigkeit in dem kleinen Glas, ohne sich erinnern zu können was genau er bestellt hatte. „Das Gedächtnis“, dachte er, „es wird schlimmer. Zuviel Alkohol, zuviel Nikotin, zuviele Frauen, da ist es klar, dass der Kopf irgendwann nicht mehr mit macht...“. Er seufzte und nahm noch einen Schluck. Wie war er überhaupt hierhin gekommen? Und überhaupt: Wo war er hier? Er kannte weder den Raum, noch den Barmann, die Gäste, er erinnerte sich nicht an den schweren Zigarettengeruch, die Vorhänge, die Ornamente an den Stühlen oder die schwere Eingangstüre.
Die Standuhr in der Ecke schlug zweimal. Wie lange war er schon hier?
Ihm wurde das Glas aufgefüllt (\'Dasselbe wie immer?\' - \'Dasselbe wie immer.\'). Er ließ das Glas in der rechten Hand hin- und herschwenken, die Linke steuerte fast schon rhythmisch die Kippe zwischen Mund und freiem Fall hin und her. Er musste nicht nach Hause (\'Wo war das noch gleich?\'), es gab keinen der auf ihn wartete. Er war ein Versager. Er war hier um das Versagen zu vergessen, es zu betäuben, zu ertränken, abzutöten. Seine Frau war bei einem reicherem als ihm (\'Wie war ihr Name?\'), seine Kinder... er konnte sich nicht erinnern. „Das Gedächtnis“, wiederholte er für sich selbst.
Die kleine Jukebox in der Ecke des Raums spielte eine glückliche an Folk erinnernde Melodie, die ihm bekannt vorkam. Ist er doch schon einmal hier gewesen (\'Wann... und wie oft?\')? Er zog den Aschenbecher etwas näher an sich heran und stieß das graue Ende der ausgebrannten Zigarette ab.
Jemand setzte sich neben ihn und sprach ihn an. Er drehte den Kopf etwas und erkannte eine Frau, keine Details, sie interessierten ihn nicht. Sie sagte etwas von Feuer (\'Rauchte sie?\'), dass sie öfter hier wäre, wo er herkam, wo er hinging (\'Wo gehe ich hin?\'), steiß mit ihm auf etwas an, was er nicht verstand und kippte ihr Glas mit einer gekonnten Bewegung ihren Rachen hinunter.
Die Standuhr schlug viermal.
Die Frau war verschwunden, doch hinterließ einen kleinen Zettel mit säuberlich draufgemalten Zahlen (\'Hatte er nach ihrer Nummer gefragt?\'). Vor ihm standen mehrere Gläser, unfähig gezählt zu werden (\'Das Gedächtnis...\') und der Aschenbecher war voll mit ausgedrückten Stummeln, deren Asche längst das Gefäß verlassen und sich über die Bar verteilt hatte. Die Jukebox schwieg und die Leute waren gegangen. Er hob den Kopf etwas und erkannte, dass der Barmann mit ihm sprach (\'Wieviel musste er zahlen? Wieviel hatte er getrunken? Das Gedächtnis...\'). Er legte einen Geldschein auf den Tresen (\'Passt schon.\' - \'Danke, der Herr, sehr großzügig.\') schnappte sich seinen schwarzen Leder-Cowboyhut, den Mantel, ließ sich vom Barhocker auf seine Stiefel sinken und ging.
Wie oft war er schon hier gewesen? Ein paar Mal. Was war das für ein Ort? Das Vergessen. Warum trank er soviel? Wegen des betäubenden Effekts. Diese Frau? Eine Chance. Der Barmann? Jemand mit dem er redete, jemand der ihn kannte, jemand den er kannte. Die Standuhr? Die Erinnerung.
Er öffnete die schwere Bartüre und trat hinaus.
Dahin zurück wo er herkam. Der Ort, den er jedesmal ein paar Tage oder Stunden vergaß (\'Das Gedächtnis!\'). Der Ort, den man gemeinhin „Leben“ nannte. Ein neues Leben.
 



 
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