Das Geheimnis der Kerze

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Das Geheimnis der Kerze

Traurige Ereignisse zwangen mich, nach jahrzehntelanger Abwesenheit an den Ort meiner Kindheit zurückzukehren. Das Lebenslicht der letzten Anverwandten meiner Familie, Großtante Agatha, war mit 94 Jahren erloschen. Meine Erinnerungen an sie sind nur schemenhaft. Ich kann mich nur noch daran erinnern, dass sie mich von allen Kindern am ehesten in ihr Herz geschlossen hatte. Jedenfalls bildete ich mir das ein. Aber die Erinnerung an die Vergangenheit, lässt dieselbe oft in verklärtem Lichte erscheinen. Im Laufe der Jahre wurde unsere Familie durch tragische Schicksalsschläge stark dezimiert, so dass ich am Ende als einziger übrig blieb.
So hatte es zur Folge, dass ich einen Brief von einem Notar namens Jefferson erhielt. Hierin bat er mich zum Anwesen der Verstorbenen, in der Nähe von Newcastle/England zu kommen, um sich über das weitere Vorgehen im Umgang mit dem Nachlass zu verständigen. Da es im Augenblick nicht viel zu tun gab, entschloss ich mich umgehend, den Weg aufs Land anzutreten.

Am Zielort angekommen, quartierte ich mich zunächst in einer kleinen Pension ein, um wenig später mit einem Taxi am Haus der Tante aufzuschlagen. Am grünlich vergilbten Gartentor begrüßte mich Jefferson, indem er mir sein Beileid aussprach und mich bat, ihm ins Haus zu folgen. Der Garten, den wir betraten, glich dem Dschungel Brasiliens und stellte eine Beleidigung für alle gut situierten konservativen englischen Familien dar, die versuchten, sich gegenseitig in der akkuraten Schnittweise der Pflanzenwelt ihrer Gärten zu übertreffen. Mit dem Ziel, irgendwann mal einen der begehrten Preise zu erheischen, die in diversen Gartenzeitschriften ausgelobt wurden. Wir näherten uns auf einem kleinen Weg mit Kieselsteinen, der größtenteils mit Unkraut überwuchert war, dem alten zweistöckigen Haus, das noch heruntergekommener war als der Garten rings um das Gebäude. Fensterläden hingen lose an den Verankerungen im backsteinroten Mauerwerk. Die vergilbten, von starker Erosion geprägten Steine wurden von stark verzweigten Ranken überwuchert, die das Haus schon seit geraumer Zeit in Besitz genommen hatten. Zumindest an der Frontseite waren alle Fenster ohne erkennbare Schäden.
Für einen Augenblick hielt ich inne. Ein unangenehmes frösteln glitt über meine Haut. Ich glaubte, schemenhaft ein Gesicht hinter einem der schmutzigen Fenster im oberen Stockwerk gesehen zu haben, unterrichtete aber Jefferson nicht von meiner Beobachtung.
Wir traten vor eine riesige Eichentür an der zwei mächtige Türklopfer angebracht waren. Es handelte sich um Löwenköpfe aus Messing, denen jeweils ein großer Ring aus dem Maul herab hing. Mir schien, als hätten sie irgend etwas dämonisches, als würden sie mich im Augenblick eines Wimpernschlages anspringen und mir die Eingeweide herausreißen wollen. Wieder fröstelte ich.
Der Anwalt kramte einen Schlüssel aus seiner Jackentasche. Das Schloss knackte und die Eichentür wurde unter Begleitung eines lauten Knarzens nach innen aufgeschoben. Ein muffiger Geruch nach Tod und Verwesung stieg uns in die Nase und bahnte sich seinen Weg ins Freie. Mir schien, als ob gleichzeitig mit dem Entweichen des moderigen Geruches ein Stöhnen dem Gemäuer drang, welches ebenfalls hinaus in den verwilderten Garten drängte.
Wir standen im Korridor des Erdgeschosses. Vor uns führte eine dunkelbraune Holztreppe in den oberen Wohnbereich. Die Tür neben der Treppe im hinteren Bereich des Erdgeschosses führte nach Auskunft des Anwaltes in die Küche. Schemenhaft, aus den Erinnerungen der Kindheit heraus, rückte mir die räumliche Anordnung des Gebäudes wieder in das Bewusstsein. In einem großen rechteckigen Raum auf der linken Seite der Diele befand sich die ehemalige Bibliothek. Aber alles Mobiliar wurde schon vor längerer Zeit aussortiert. Meine Großtante hatte alles der Wohlfahrt vermacht. Wie mir mein Begleiter mitteilte, war dies auch in den oberen Stockwerken der Fall. Mr. Jefferson bat mich in den Raum rechts vom Eingang, den Wohnraum. Zielgerichtet ging er auf den großen Kamin an der den Fenstern gegenüberliegenden Wand zu. Ich folgte ihm über staubbedeckte Fußbodenbretter.
Auf dem Kamin stand eine weiße, würfelförmige, etwa zwanzig Zentimeter hohe Kerze. Jefferson erklärte mir, dass dies das einzige sei, was ich aus dem Nachlass bekommen würde. Das Gebäude nebst Grundstück war noch zu Lebzeiten der Tante, wegen finanzieller Schwierigkeiten, verkauft worden. Eine Kerze. Das sollte alles sein? Und deswegen habe ich den weiten Weg auf mich genommen? Mr. Jefferson hatte nur ein Schulterzucken übrig. So nahm ich tief enttäuscht die Kerze an mich, verabschiedete mich am Gartentor von Mr. Jefferson und fuhr in die Pension zurück.

Nach dem Abendessen nahm ich mir vor, auf meinem Zimmer noch ein bisschen zu lesen. Da ich keine Lust hatte, mich dem grellen Licht des Raumes auszusetzen, zündete ich die Kerze an. Nach einigen Stunden fiel mir auf, dass merkwürdige Stäbe, an den Ecken der Kerze, vom Wachs freigegeben wurden. Bei näherer Betrachtung entpuppten sich diese als Metallstäbe. Ich schaltete das Licht ein, löschte die brennende Kerze und befreite jene vier Stäbe mittels eines Messers vom Wachs.
Nun lagen sie vor mir, mattgold ohne erkennbare Zeichen. Nach näherer Untersuchung stellte ich fest, dass diese Stäbe individuell abgewinkelt werden konnten. \'Ein Puzzle also\', durchfuhr es mich. Ich versuchte einzelne Glieder miteinander zu kombinieren. Es schien fast unmöglich. Nach mehreren Stunden, es dämmerte bereits, hatte ich sie soweit zusammengefügt, dass das Ergebnis aus einem größeren Stab mit einem Griff resultierte. \'Was soll das darstellen? Eine Art Spazierstock? Vielleicht für Liliputaner.\' Ich untersuchte noch einmal das dem Griff entgegengesetzte Stück und entdeckte eine Stelle, die sehr kunstvoll, fast unsichtbar eingearbeitet, einem Druckschalter glich. Durch einen sanften Druck glitt ein fast rechtwinkliges mit Löchern durchsetztes Metallstück aus dem Stab. \'Das ist es!\' Ich betrachtete den Stock jetzt im Ganzen. Ja. Es war ein Schlüssel. Plötzlich erinnerte ich mich daran, wie uns als Kindern immer von einem geheimen Zimmer im Kellergeschoß des Hauses erzählt wurde und dass es darin nicht mit rechten Dingen zugehen würde. Doch das waren nur Gerüchte, um uns vom Gespenster spielen im Keller abzuhalten - glaubte ich.
Ohne zu zögern ließ ich ein Taxi bestellen und mich zum Anwesen fahren. Den Taxifahrer schickte ich wieder zurück. Ich würde zurück laufen, auch wenn ich dazu eine geraume Zeit einplanen musste.
Da ich die Tür nicht öffnen konnte warf ich ein Fenster ein, öffnete es und stieg hindurch. Fast automatisch lief ich den Korridor entlang, an der Treppe vorbei zur Kellertür, die ich umgehend öffnete. Ein Geruch feuchten Grabes stieg mir in die Nase. Da mein persönlicher Schlüsselbund eine kleine Taschenlampe beherbergte, schaltete ich sie sofort ein. Das spärliche Licht zeigte mir den Weg nach unten.
Stufe um Stufe näherte ich mich dem Kellerraum. Es dauerte seine Zeit, bis ich mich in der Weite des Raumes zurechtfand. Der riesige rechteckige Raum war von steinernen Stützpfeilern geprägt, auf denen die Last des Hauses ruhte. Bis auf einige leere von Spinnweben behangene Regale mitten im Raum und an den Wänden, war auf den ersten Blick nichts weiter zu sehen. Da entdeckte ich auf der oberen Ablage eines der Regale, eine lange Eisenstange, die ich augenblicklich an mich nahm.
Mich langsam vorwärts tastend näherte ich mich der gegenüberliegenden Wand. Da nur hinter diesen Steinen jenes geheimnisvolle Zimmer sein konnte, ging ich systematisch vor und kippte ein Regal nach dem anderen von der Wand weg auf den staubbedeckten Kellerboden. Das spärliche Licht der Lampe huschte über moosbedecktes Gemäuer. Einige Spinnentierchen und anderes Getier wuselte aufgeschreckt aus dem Lichtkegel, heraus um in der nächsten Mauerfuge Unterschlupf zu finden.
Ich trat näher an die Wand und klopfte mit der Eisenstange gegen die Ziegelsteine. So schritt ich Stück für Stück die Mauer ab und stoppte abrupt, als ein Stein nachgab, der sofort nach hinten herunterfiel. Verwesungsgeruch wie aus tausend Gräbern drang mir durch die Öffnung entgegen. Da mir etwas übel wurde hielt ich mir ein Taschentuch vor die Nase. Aufgewühlt begann ich, das Loch in der Wand zu vergrößern. Ein Großteil der Steine gab nach, worauf die Wand an dieser Stelle in sich zusammen stürzte. Der aufgewirbelte Dreck zwang mich zu einem Hustenanfall und der, fast schon hochkonzentriert zu nennende Leichengeruch, traf mich nun mit voller Wucht.
Ich erblickte eine hölzerne Tür, aus deren großen Türschloss jener bestialische Gestank quoll. Schnell ließ ich die Eisenstange fallen und nahm den Schlüssel der Kerze, den ich an meinem Gürtel angebracht hatte, in meine Hand und steckte ihn mit zitternden Fingern in das Schloss. Es knackte. Ich betätigte die Türklinke. Die Tür schien zu klemmen. Deshalb lehnte ich mich mit aller Gewalt dagegen und schob sie unter einem schrillen Knarren auf.
Ich schritt, etwas ängstlich, durch die geöffnete Tür und begann damit, den Raum abzuleuchten. Der Raum war nur etwa vier Meter breit, schien sich aber um einiges in die Länge zu ziehen. Soweit ich es sehen konnte, war dieser Ort leer. Als plötzlich ein furchtbares Stöhnen den Eindruck der Leere zerstörte. Es kam aus dem hinteren Bereich, auf welchen ich umgehend den Strahl meiner Lampe ausrichtete. Langsam tastete sich der Lichtkegel durch die Dunkelheit.
Da, schlagartig, im äußersten Sichtfeld meines rechten Auges, blitzten zwei kleine rote Lichter auf. Ich ließ die Lampe sinken. \'Augen\', durchfuhr es mich. \'Ja, das waren Augen.\' Mit zittrigen Fingern hielt ich den dünnen Lichtstrahl direkt in jene Richtung. Was ich sah, ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Die Augen gehörten einem alten, mit grauer Haut bespanntem Körper. Die Haut schien nicht ausreichend für diesen Körper, ragten doch überall Knochen sichtbar hervor. Dieser Leib gehörte einem Mann mit grauen Haarsträhnen, einem eingefallenen Totenkopf ähnlichen Gesicht nebst zahnlosem Mund und eben jenen roten Augen, die tief in ihren Höhlen lagen. Der Alte saß auf einem Holzstuhl und blickte mir gierig und voller Hass entgegen. Langsam hob er seinen linken Arm, streckte ihn dabei aus und deutete mit seinem knöchernen Zeigefinger auf mich.
„Du-Du! Furchtbares Weib. Bist du also zurückgekommen, um das Werk deiner schändlichen Tat zu betrachten? Dachtest du, dein Mann sei tot? Vom Teufel geholt?“ Ein dämonisches Lachen entfuhr dem Alten.
Offenbar verwechselte er mich mit Großtante Agatha.
„Jahre“, fuhr er fort, „hab ich hier gesessen und mich von Ratten und deren Blut ernährt, mit der Angst, hier eines Tages elend zu krepieren. Jahre habe ich auf diesen Augenblick gewartet. Mit unmenschlicher teuflischer Kraft habe ich diesen Moment herbeigesehnt. Und nun, Alte – stirb!“
Mit diesen Worten sprang er behände wie eine Katze von seinem Stuhl auf und direkt auf mich zu. Ich schlug ihm die Eisenstange vor den Kopf. Aber dieser Schlag war wirkungslos. Er entwand mir die Stange baute sich mit seinem mickrigen Körper, der mir nun riesig vorkam, vor mir auf, nahm die Stange zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand und zerbrach sie wie ein Streichholz. Mein entsetzter Gesichtsausdruck musste ihn doch in verzücken versetzt haben, da plötzlich ein tiefes hallendes Lachen seiner Kehle entwich.
Flugs drehte ich mich um, lief durch die Tür, seinen Atem im Nacken, rannte die Kellertreppe hinauf, stolperte, fühlte den eisernen Griff seiner knöchernen Finger, die mein rechtes Fußgelenk umschlossen, riß mich mit einem Tritt los und hastete den Korridor entlang, durch den Garten auf die Straße. Als ich mich umdrehte, war nichts zu sehen von dem Alten. Offenbar scheute er das Tageslicht. Dessen nicht ganz sicher rannte ich weiter die Straße entlang, bis ein Wagen vorbeifuhr, der mich zurück in die Pension brachte.

Dass Agatha vor Jahren ihren eigenen Mann lebendigen Leibes eingemauert hatte, auf diese Idee ist damals niemand vom Rest der Familie gekommen. Da er als Kaufmann, viel in der Welt unterwegs war, ging das Gerücht, das Schiff auf dem er unterwegs war, sei während der Überfahrt nach Brasilien mit Mann und Maus gesunken. Dass dies nicht so war, habe ich auf schreckliche Weise erfahren. Aber ich habe einen Fehler begangen. Ich ließ das Tor zur Welt für den Alten offen. Weiß der Teufel, wo er sich im Augenblick aufhält.
Selbst jetzt, Monate nach diesem Ereignis, lausche ich gespannt jedem Geräusch, das vom Treppenhaus an meine Ohren dringt, und erwarte voller Grauen, dass eines Tages ein Klopfen an meiner Tür erklingt. Ein monotones, langsames Klopfen.

ENDE
 



 
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