Das Geheimnis der Töne

Cirias

Mitglied
Wer das Geheimnis der Töne kennt,
kennt das Mysterium des ganzen Weltalls

Hazrat Inayat Kahn



Das Geheimnis der Töne



Ein Kind schrie. Unter dem Rauchglas des Himmels sanken die Töne ins Unhörbare zurück. Sie blieb im Schatten des Flügels sitzen, bis die Dunkelheit den Raum schluckte. In ihren Ohren zersprangen die flachen Bögen der Musik, in die sich manchmal die feine Melodie einer Spieluhr schlich. Schattenrisse standen auf dem Parkett, blasse Lichtbahnen, die sie hören konnte, wenn sie die Augen schloss. Das Kind schrie.

Sie erinnerte sich an einen blassen Frühlingstag vor über zwanzig Jahren. Es war ein Sonntag. Ihre kleine Schwester war seit dem Morgengrauen verschwunden. Zusammen mit den Nachbarn suchten ihre Eltern schon den ganzen Vormittag nach ihr. Sie durfte das Haus nicht verlassen. Tiefe Fahrspuren, auf deren Grund Pfützen den Himmel spiegelten, verschwanden in den Uferwiesen. Sie hüpfte von einem Bein auf das andere, dann hielt sie es nicht mehr länger aus. Sie rannte über den Fahrweg in die Flussniederung und weiter durch das hohe Gras auf den schmalen Streifen des Flussstrandes. Der Schatten der Sonne wanderte über den Fluss. Unter den Stahlstreben der Eisenbahnbrücke quollen Wasserwirbel aus der Tiefe. Sie hockte sich auf die rostzerfressenen Gleise, zupfte Gras aus dem Schotterbett und begann leise zu summen. Sie hielt einen einzigen Ton. Wenn sie zu hoch oder tief summte, dann spürte sie die Schwebung des Tons. Die Schwingung floss durch ihren Körper, bis ihr ganzer Brustkorb zu vibrieren begann. Sie konnte das minutenlang, bis sich alles um sie herum auflöste. Als sie noch viel kleiner war, kehrten die Töne aus dem Raum zu ihr zurück und berührten sie. Die Musik machte einen kleinen Schnitt aus Zeit in ihren Körper. Sie führte direkt in die Tiefe dessen was sie noch nicht war, aber einmal werden wollte.
Es schien, als trage das alte Stahlskelett der Brücke das Gewicht der Stille. Sie stand auf und lehnte ihren Kopf an das Geländer. Sie lachte. Die Vibration, die von der Strömung des Flusses herrühren mochte, erzeugte Musik. Es drang durch ihre Haut, eine Pyramide von Quarten, eine Melodie, die durch ihren Körper fuhr und sie vibrieren ließ wie die Musik der Atome, der Sterne und der Tiere. Fast hatte sie ihre kleine Schwester vergessen.

Dann hörte sie den Schrei. Lauras Stimme zerriss in einer unmenschlichen Anstrengung, wurde brüchig und verschwand. Sie presste die Hände an ihren Kopf. Über die Gleise stürzend erreichte sie das andere Ufer. Aus welcher Richtung war der Schrei gekommen? Gab es überhaupt eine Richtung? Sie drehte sich im Kreis, bis ihr schwindlig wurde. Sie lief durch hohes Gestrüpp und über die Deichkrone wieder in die Flussniederungen. Sie sah in das trübe Wasser der Tümpel, auf dem die kalkweißen Schatten der Wolken schwammen. In ihren Ohren begann es zu pochen. Die Sonne stand schon tief über dem Fluss und ihre Schuhe versanken immer wieder tief im lehmigen Boden, als sie flussabwärts die riesigen Pfeiler der Autobahnbrücke erreichte. Sie sah auf den fahlen Glanz der Wolken.Schwer atmend lief sie über den Dienstaufgang nach oben. Ihr Schatten strich wie glasiger Sand über den rauen Asphalt. Ein schmaler vergitterter Korridor führte längs der Fahrspuren auf die andere Seite des Flusses. Sie lief nach Hause.

Das Schweigen, als sie durch die Gartentür in das Wohnzimmer getreten war, schien ihr in der Erinnerung undurchdringlich. Sie hatte Angst. Ihr Vater stand am Fenster. Sie hörte das Schluchzen ihrer Mutter. Ein fremder Mann in einem schwarzen Anzug und hohem weißem Kragen trat auf sie zu. Er legte seine Arme um sie.
"Du musst jetzt tapfer sein", flüsterte er in ihr Ohr. "Hörst du diese Musik? Kannst du sie hören?"
Er begann leise zu summen, eine unaufhörlich steigende und fallende Melodie, die wie Flugsand in ihre Ohren wehte, düstere, klagende Tonleiterpassagen, eine Pyramide von Quarten, die sich wie eine Glasur über die seltsame Schönheit der Melodie legte. Was ist das? wollte sie fragen, aber als sie plötzlich dem verzweifelten Blick ihrer Mutter begegnete und die Stimme des Mannes ihr sagte, dass Laura nie mehr zurückkommen würde, verstand sie. Er strich ihr sanft über das Haar und sie erschauderte unter der Berührung seiner großen Hände.
" Herr Eton ist Pfarrer", sagte ihr Vater. "Er hat ...Laura...gefunden."
"Organist", entgegnete Herr Eton. "Mit Verlaub, nur Organist."


Niemandem hatte sie je von dem Schrei erzählt. Man hatte Lauras zerschundenen Körper flussabwärts, nicht weit von der alten Eisenbahnbrücke entfernt, in einem Bachbett gefunden.

Das Schreien des Kindes in der Nachbarwohnung war verstummt. Der Schatten auf dem Boden glich einen Moment lang den großen lehmverkrusteten Schuhen des Mannes, auf die sie damals sekundenlang gestarrt hatte.
Einmal noch war sie ihm später auf der Straße begegnet. Er hatte sie in die Kirche gebeten, wo er ihr etwas vorspielen wollte, aber sie hatte nur den Kopf geschüttelt und war fortgerannt. Sie stand auf und ging unruhig im Zimmer auf und ab. Vor dem Bild ihres Onkels blieb sie stehen. Er war damals der einzige, der zu ihr gehalten hatte, als sie unbedingt Musik studieren wollte. "Eine Welt ohne Musik ist eine Welt ohne Erinnerung", hatte er ihrem Vater entgegengehalten, der sich weigerte, das Studium zu bezahlen. Ihr Onkel, der Cello in einem großen Orchester spielte, verschaffte ihr ein Stipendium. In Berlin begann sie ein Studium, das sie nach drei Jahren wieder abbrach, weil es nichts zu tun hatte mit der Versunkenheit und dem Geheimnis der Musik. Später fand sie in ihrer Heimatstadt eine Stelle in einer Presseagentur.
Sie konnte sich nicht erinnern, einen Tag ohne Musik gelebt zu haben. Auf dem Flügel lagen ungeordnete Notenblätter. Sie wusste nicht, wie lange sie schon an dieser Partitur arbeitete. Es erschien ihr wie ihr ganzes Leben. Sie arbeitete nur nachts daran, wenn sie nicht schlafen konnte. An ihrem Anfang stand die Melodie, die der fremde Mann damals in ihr Ohr geflüstert hatte. Das was danach kam, war eine Ansammlung nicht fassbarer Klangstrukturen. Es schien, als hätte sie das Reich der Verständigung mit der Welt verlassen, so wie sie auch von den Bewohnern des Hauses nichts wusste. Sie versuchte nur noch, die Töne zu abstrahieren, eine Musik zu denken, die völlig von jeder Tonalität losgelöst war. In ihrem Kopf konnte sie diese Musik hören. Wie damals, als sie Lauras Schrei gehört hatte, gab es niemandem, dem sie es hätte erzählen können. Wie hätte sie es auch erklären sollen? Waren nicht alle den Menschen bekannten Formen in der Musik immer im Sinne eines tonalen Mittelpunktes mit den bekannten Verbindungen ausgedrückt worden? Man konnte zwei einzelne Töne, auch wenn sie ohne jeglichen Text waren, nicht hören, ohne ihnen sofort eine tonale Bedeutung zu geben. In ihrer Partitur hatte sie sich so weit von den Tönen entfernt, dass die Schemen ihrer Musik nur noch an die endlose Finsternis einer Polarnacht erinnerten. aber je mehr sie ihrer Musik zuhörte, erkannte sie in ihr doch das geheime Bedürfnis, Töne zu finden, die die Stille eines Fußabdrucks im Schnee hörbar werden ließen.

Aus einer der Wohnungen hörte sie die Melodie einer Spieluhr. Es war, als spielte jemand den Anfang ihrer Partitur nach. Manchmal, wenn sie spielte, hörte sie ein leises Klopfen unter dem Fußboden.
Nach solchen Nächten fiel es ihr schwer, ihrer Arbeit im Büro nachzugehen. Alles was sie hörte, verwandelte sich in Noten. Sie wiederholte sie, versah sie mit Dissonanzen und veränderte ihre Reihenfolge. Nichts brauchte gleich zu klingen. Die maximale Anzahl melodischer Kombinationen aus der Zwölf-Noten-Skala ergab eine astronomische Ziffer, ohne dass je eine Note in irgendeinem Motiv wiederholt wurde. Nur das was sie sah und fühlte, hörte irgendwann auf. Wenn sie sich das vorzustellen versuchte, begann sie die Unendlichkeit zu spüren. Sie saß immer öfter am Flügel, bis die Musik den Fluss vor ihrem Elternhaus wie im Nebel hielt und über die schwarzen Schatten der Bäume im Wasser strich. In der Musik, die sie schrieb, trat Laura aus der Finsternis, die sie in all den Jahren nach ihrem Tod nicht freigegeben hatte.

Das Klopfen aus der Nachbarwohnung schien verstummt. An einem warmem Frühlingstag fand sie die Wohnungstür in der Etage unter ihr offen vor. Auf der Treppe blieb sie zögernd stehen. Sie hatte noch nie jemanden aus der Wohnung kommen sehen. Sie ging zur Tür. Die Wohnung war leer. Abfallreste, Notenblätter und die Gehäuse von Spieluhren lagen im Flur.
"Was tun sie hier?"
Erschrocken drehte sie sich um. Ein Mann stand plötzlich in der Tür und sah sie misstrauisch an.
"Nichts", stammelte sie. "Ich wohne hier im Haus und...wollte vielleicht eine Etage tiefer ziehen. Die Tür stand auf, da dachte ich-"
"Ach so. Kein Problem. Die Wohnung ist nur erst gestern geräumt worden. Also, schauen Sie ruhig."
"Geräumt?" Sie zwang sich zu einem Lächeln.
"Der Mieter ist vor zwei Wochen verstorben. Nicht hier", sagte er schnell, als er die plötzliche Blässe in ihrem Gesicht bemerkte. "In Rom, während einer Tournee."
"Tournee?"
"Wussten Sie das nicht? Er war Musiker. Hat Spieluhren gebaut und für Orchester gespielt. Haben Sie ihn nie üben gehört? Sie entschuldigen mich- ich bin nebenan, wenn sie mich brauchen."

Sie drehte sich abrupt um und wollte gehen. Ihr Fuß stieß an etwas Hartes. Im Flur hörte sie die Musik. Eine unaufhörlich steigende und fallende Melodie, eine Pyramide von Quarten, die sich wie eine Glasur über die seltsame Schönheit der Melodie legte. Es war der Anfang ihrer Partitur. Aber es war nur eine Spieluhr, auf die sie getreten war. Sie rannte aus der Wohnung, durch das Treppenhaus, aber die Melodie war schon da. Sie zersprang in einem unhörbaren Bogen, als sie die Tür hinter sich zugeworfen hatte.
Sie war allein. Mit zitternden Händen setzte sie sich an den Flügel. An langen unsichtbaren Schnüren rieb das leise Summen, das wie ein Schatten aus ihrem Körper fiel, an den Schemen der Luft, an den Schemen der Töne. Das, das war der Atem des Flusses. Und das, das war die Stimme ihrer toten Schwester. In ihren Ohren begann es zu pochen. Was ist das, wollte sie fragen. Aber der Organist war tot. Die Töne vibrierten auf ihrer Haut, als ihr das Summen den Atem aus dem Brustkorb presste. Ihr Körper war nur noch ein einzelner Ton. Er wand sich in den Schatten seiner großen Hände.
 

Roni

Mitglied
hallo cirias,

nach langer zeit schaffe ich endlich, mal wieder in dieses forum zu schauen und finde gleich deine geschichte, die mich direkt fesselte. eine schoene, malerische sprache, die den leser mitzieht und ein oder zwei ungenauigkeiten oder verstaendnisprobleme erst einmal ueberlesen laesst.
gratuliere, hat mir gut gefallen. ich verstehe sehr wenig von musik, aber dass musik, harmonien, toene sowie zahlen und universelle ‚erkenntnisse’ (verzeih, wenn ich mich da sehr laienhaft ausdruecke) zusammenhaengen, habe ich nun schon oefters gehoert und finde es absolut faszinierend. die unreflektierten wahrnehmungen des kindes zu beginn fand ich klasse.

ich mach dir dennoch gerade ein paar anmerkungen, die z.t. vielleicht auch dieser laienhaftigkeit entspringen, dir aber vielleicht ein paar anregungen geben.

es mag pingelig sein, aber beim ersten lesen hatte ich zunaechst probleme mit dem lokalisieren. erst beim zweiten lesen wurde mir klar, wie du es meinst.
sie ist auf der einen seite des flusses – am flussstrand – und gelangt von dort auf die bruecke.
dann laeuft sie ueber die bruecke. aber auf der anderen seite scheint der zugang zum fluss anders zu sein? einmal vor und einmal hinter dem deich? eher nicht, oder?
dann laeuft sie wieder am flussufer entlang – bis zur naechsten bruecke – autobahn diesmal.
eben erreicht sie die pfeiler ... im naechsten moment ist der asphalt zu sehen und sie ist obenauf.
wie gesagt, mag kleinlich sein und beim erneuten lesen wirds klar – beim ersten lesen finde ich gedanken wie ‚hm, wo ist sie denn nu?’ einfach stoerend im lesefluss. so flott kommt man da nicht von unten nach oben.

die geschichte dreht sich um toene. um musik, eine recht eigenwillige – tiefgreifende. alles ist ton und in diesem ton, oder diesen toenen, essentiell. spannend. aber vielleicht ist es zuweilen einen zacken zu viel?
z.b. hier:
Waren nicht alle den Menschen bekannten Formen in der Musik immer im Sinne eines tonalen Mittelpunktes mit tonalen Verbindungen ausgedrückt worden?
deine protagonisten hoert, spuert, erspuert – fasst in toene statt in worte. stellt sie sich wirklich diese analytische frage? oder spricht hier der autor, der noch etwas loswerden will?
und dann wirds wieder schwierig. sich von der harmonie loesen – ja. das gibts ja z.b. in der orientalischen musik. (sicher auch laienhaft ausgedrueckt jetzt.)
aber atonar werden? es wird schwierig fuer mich, wenn es eben noch heisst, sie will sich von jeder tonalitaet loesen und gleich darauf von dem beduerfnis gesprochen wird, toene zu finden.

als geschichte klasse. ich persoenlich brauche nicht mehr.
aus verstaerkter krimisicht stellt sich vielleicht dennoch die eine oder andere frage.
schon als kind hat sich dem organisten gegenueber, wenn schon kein verdacht, so doch ein misstrauen und eine diffuse angst eingestellt. dieser mag nie nachgegangen werden. ein trauma, eine verdraengung – was auch immer. aber dann ausgerechnet eine stelle in einer presseagentur? wo klarer kopf, genaue recherche und detailtreue gefragt sind? sicher alles moeglich, aber vielleicht ein bisschen viel fuer eine kurze geschichte, in der die protagonistin bisher anders rueberkam?
und aus krimisicht noch eine nachfrage, um sicher zu gehen: die kinderschreie sind immer nur erinnerung, haengen mit der wiedererkannten ‚melodie’ zusammen?

noch zwei fluechigkeiten:
Anzahlmelodischer
chatten der Bäume

hier fehlt einmal ein leerzeichen, einmal ein s


so, ich hoffe, die vielen anmerkungen werden von dir nicht als widerspruch zu meinen eingangs geschriebenen zeilen verstanden. ich hab es mit freude gelesen.

gruss
roni
 

Cirias

Mitglied
Hallo roni,
ganz herzlichen Dank für deine ausführliche Kritik und sensible Wahrnehmung. Was die Rechtschreibfehler angeht- danke für dein Adlerauge! Recht geben muss ich dir in Beziehung auf die Wortwiederholung von "tonal"- auch das werde ich entfernen. Es ist richtig, dass in diesen Passagen zuweilen der Eindruck entstehen könnte, dass der Autor spricht, wobei ich allerdings zu bedenken gebe, dass die Protagonistin ja vom Fach ist, dennoch ist dieser Eindruck nicht zwingend- auch da werde ich noch einmal rüberschauen. Als keinen Widerspruch empfinde ich die assage, in der von der Sehsucht die Rede ist, die Tonalität aufzulösen und Töne zu finden. Tonalität bezieht sich ja auf etwas strukturiertes, möglicherweise schematisches, während der Ton sich auf eine sinnliche Ebene bezieht- nicht umsonst spiele ich ständig mit dieser Ebene, gerade um Tonalität ad absurdum zu führen, indem ich auf das sinnliche Erleben verweise, dass was sich an innerem Erleben tonal bildet; das ist etwas anderes, das Rauschen des Flusses, die Stimme eines Vogels, die Laute, die ich mit meinen Händen aus den Gegenständen male- das meine ich mit "den Ton finden".
Deine Beobachtung mit der Presseagentur ist gleichfalls sehr treffend- war aber hier als ein Festhalten an der Wirklichkeit gemeint, ein Gegensatz zur künstlerischen Arbeit, ich habe aber dein Unbehagen daran aufmerksam registriert und werde darüber nachdenken.
Die Kinderschreie sind Erinnerungsbilder, können aber durch reale Entsprechungen ausgelöst worden sein, das ist mir nicht so wichtig, weil die Kurzgeschichte dem Leser möglichst viel Freiraum lassen sollte.
Den Weg der Protagonistin werde ich noch mal gehen, möglicherweise ist der zu rasche Weg durch einen Absatz, sprich Zeitsprung, besser nachvollziehbar. Du hast übrigens völlig recht- in einem Krimi muss so etwas einfach stimmen. Deine Textarbeit ist bemerkenswert- solche Leser wünscht man sich öfter, dein Lob freut mich um so mehr.
Herzliche Grüße, Cirias
 



 
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