Das Geheimnis der Wuppermühle

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Vera-Lena

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Das Geheimnis der Wuppermühle

Eines Tages ging der Großvater mit seinem Enkel spazieren. Der Weg schlängelte sich an der Wupper entlang, war aber doch breit genug, dass die beiden nebeneinander her gehen konnten. Als das Wasserrauschen allmählich leiser wurde, bat der Junge: „Großvater, du wolltest mir doch die Geschichte von der Wuppermühle erzählen!“ „Gut, gut“, antwortete der Großvater. „In der Schule hast du sicher gelernt, dass nicht immer Müller die Mühle in Gang gehalten haben, sondern dass eines Tages ein Schleifer mit seiner Frau darin wohnte.“ „Ja“, erwiderte der Junge, „das hatten wir in Heimatkunde.“ „Dieser Schleifer“, fuhr der Großvater fort, „machte die schärfsten Messer und zierlichsten Scheren im ganzen Umkreis. An Markttagen packte seine Frau des Morgens die Schneidwaren in den Korb und brachte sie in die Stadt. Wenn sie am Abend zurückkehrte, hatte sie meist alles verkauft und ihr Korb war nun gefüllt mit Mehl, Zucker, Gewürzen und was man sonst noch brauchte.
Eines Tages aber kam sie schon am Mittag heim, und in ihrem Korb lagen noch alle Messer und Scheren, die sie zum Markt mitgenommen hatte. Der Schleifer trat überrascht aus der Mühle, als er sie kommen sah. ‚Oh, weh’, jammerte sie, ‚du kannst dir nicht vorstellen, wie schrecklich das war, beschimpft hat man mich, verspottet und verhöhnt’, und sie brach in Tränen aus. ‚Deine Messer und Scheren sind alle stumpf. Ein paar alte Kunden wollten mich verteidigen, und darauf wurde es nur schlimmer. Die Leute haben sich gegenseitig angeschrieen und beinahe hätten sie sich sogar geprügelt. Oh, dass Menschen so sein können, ich hätte es nicht geglaubt. Sie haben wirklich ihr wahres Gesicht gezeigt.’ Und die Frau hörte nicht mehr auf, zu schluchzen. ‚Du musst mir die falschen Sachen zum Einpacken gegeben haben’, sagte sie schließlich. ‚Das kann nun gar nicht sein’, erwiderte der Schleifer erstaunt, und er machte sich daran, die Schneidwaren zu überprüfen. Nun sah er, dass seine Frau recht hatte, alle Gegenstände waren stumpf. ‚Das verstehe ich nicht’, murmelte er. Dann nahm er ein Messer und schliff es in der gewohnten Weise. Schließlich bat er seine Frau, sich ein Haar auszuziehen. Sie gab ihm das Haar, und der Schleifer zerschnitt es in der Luft, ohne es einzuspannen.“
„Opa, Opa“, unterbrach der kleine Jörg den Großvater, „gibt es das wirklich, dass ein Messer so scharf sein kann, dann möcht’ ich auch so eines haben!“ Der Großvater lachte. „Ganz sicher gibt es so scharfe Messer. Ein Gärtnermesser zum Beispiel muss so scharf sein. Aber bei dir warten wir noch ein, zwei Jahren bis du noch geschickter mit dem Messer umgehen kannst, dann schenke ich dir auch so ein scharfes Gerät.“ „Na, gut“, antwortete Jörg etwas enttäuscht. „aber jetzt erzähl’ weiter!“ Und der Großvater fuhr fort.
„Der Schleifer versuchte, seine Frau zu beruhigen, obgleich er sich die Sache auch nicht erklären konnte. ‚Warte nur ab bis zum nächsten Markttag, dann wird alles wieder vergessen sein’, sagte er zu ihr. ‚Ich kann das nicht vergessen’, erwiderte die Frau, ‚dass Menschen so hässlich zueinander sein können.’ Aber dann gingen beide wieder an ihre gewohnte Arbeit. Am nächsten Morgen lag das scharfe Messer immer noch auf dem Küchentisch. Der Schleifer nahm es stolz in die Hand. Wie erschrak er aber, als er feststellen musste, dass es stumpf war! ‚Ich muss des Nachts wach bleiben und meine Schneidwaren im Auge behalten’, sagte er sich. Und so geschah es. Der Schleifer bemühte sich, jede Nacht durchzuwachen, aber immer kurz vor Mitternacht nickte er ein wenig ein, und jeden Morgen waren die Messer und Scheren, die er tags zuvor geschliffen hatte, wieder stumpf. Nun wusste er keinen Rat mehr. In der Mühle waren die Vorräte bald erschöpft, und selbst die Mäuse begannen, Hunger zu leiden.
„Als die Not in der Mühle immer größer wurde, begann die Frau des Schleifers, sich vorsichtig umzuhören. Eines Tages sagte sie zu ihrem Mann. ‚Es gibt da ein Frau in Waldbröl, die versteht sich auf verhexte Häuser.’ ‚Natürlich’, stöhnte der Schleifer, ‚dahin musste es ja kommen, dass jetzt auch noch allerhand Zauberer in unsere schöne Mühle kommen, und am Ende wissen sie auch nicht, was zu tun ist.’ ‚Aber lass es uns doch wenigstens versuchen’, bat seine Frau, ‚ich habe gehört, dass es eine ganz verständige Frau sein soll.’ Der Schleifer sträubte sich noch eine Weile, dann aber gab er seine Zustimmung.“
„Großvater“, rief Jörg, „wie hat die Frau aus Waldbröl denn ausgesehen?“ „Ja, so genau weiß ich das auch nicht“, antwortete der Großvater. „Hat sie so ausgesehen, wie Mama“, fragte Jörg weiter. „Na, wie deine Mutter wird sie wohl nicht ausgesehen haben, denn die hat Dauerwellen, und so etwas gab es damals noch nicht, allerdings, wenn sie Naturlocken hatte, kann sie schon so ausgesehen haben. Wie soll sie schon ausgesehen haben, vielleicht wie jemand, der etwas mehr weiß, als andere Leute wissen, aber das sieht man den Menschen ja nicht immer an der Nasenspitze an.“ Um seinem Enkel aber doch einen Gefallen zu tun, sagte er noch, „geheimnisvoll wird sie wohl ausgesehen haben.“ Und Jörg überlegte sich, was man darunter wohl verstehen könne.
„Junge, willst du wissen, wie es weiterging?“ fragte der Großvater. „Ja, ja, Opa, bitte erzähl’ weiter!“ Der Großvater begann also von neuem. „Nachdem die Frau aus Waldbröl, die man Spinkerin nannte, eine Nacht in der Wassermühle gewacht hatte, saßen der Schleifer und seine Frau mit ihr zusammen in der Wohnstube. ‚Es sind Kobolde in eurer Wassermühle’, begann die Spinkerin mit ihrem Bericht. ‚Sie machen über Nacht eure Messer und Scheren stumpf.’ ‚Und wie machen sie das?’ fragte der Schleifer. ‚Mit Gesten und Worten’, antwortete die Spinkerin. ‚Was für Gesten und Worten denn?’ fragte der Schleifer weiter. ‚Das ist im Einzelnen nicht so wichtig’, meinte die Spinkerin. Der Schleifer seufzte und bei sich dachte er: ‚Die gute Frau wird wohl genauso wie ich über Nacht eingeschlafen sein, nur scheint sie etwas lebhaftere Träume zu haben als ich.’ ‚Ich möchte aber ganz genau wissen, wie die Kobolde das machen’, beharrte der Schleifer. ‚Nun, ja’, antwortete die Spinkerin, ‚ihr wisst ja, Kobolde sind so kleine Männchen, cirka 20 Zentimeter groß...’ ‚Nein, das wissen wir nicht’, unterbrach sie der Schleifer. ‚Einerlei’, sagte die Spinkerin, ‚also, es gibt davon wohl so 15 Kerlchen in der Wassermühle. Sie kommen zusammen und spucken auf eure Scheren und Messer.’ Der Schleifer sprang auf. ‚Sie spucken auf meine Messer?’ schrie er, und der Zorn ließ seine Stirnadern anschwellen. ‚Ja’, antworte die Spinkerin, ‚ihr wolltet es doch genau wissen, und danach sagen sie einen Spruch, den ich nicht ganz behalten habe, jedenfalls endet er mit dem Satz >Werdet stumpf!<’ Der Schleifer stapfte in der Stube hin und her. Jemand spuckte auf seine Schneidwaren - und wenn es noch so ein kleines Kerlchen war, es blieb unerträglich! ‚Und was kann man nun dagegen tun?’ fragte er. ‚Zuerst einmal dürft ihr den Kobolden nicht böse sein,’ antwortete die Spinkerin. ‚Nicht böse sein?’ rief der Schleifer aus, ‚sie haben uns fast um unsere ganze Lebensgrundlage gebracht, und wir dürfen ihnen nicht böse sein?’ ‚Nein,’ sagte die Spinkerin, ‚das solltet ihr nicht, denn die Kobolde haben das alles nicht getan, um euch zu schaden. Sie wissen überhaupt nicht, was sie angerichtet haben. Man muss ihnen eine Aufgabe geben, denn sie wollen immer etwas tun. Wenn sie aber keine Aufgabe haben, dann denken sie sich irgendetwas aus, und das ist dann nicht immer sinnvoll.’ ‚Nicht sinnvoll... eine Schande ist es’, rief der Schleifer, der sich immer noch nicht beruhigt hatte. ‚Ich denke, du, Frau, wirst das in die Hand nehmen’, sagte er zu seiner Frau. Dann verabschiedete er sich höflich von der Spinkerin und verließ das Zimmer. ‚Aber was für eine Aufgabe sollen wir ihnen denn geben’, fragte die Frau des Schleifers. ‚Das könnt ihr euch ja in Ruhe überlegen’, antwortete die Spinkerin, ‚es wird euch schon etwas einfallen.’ ‚Kann ich ihnen die Aufgabe auch am Tage geben?’ fragte die Schleifersfrau. ‚Gewiss doch, die Kobolde hören euch jederzeit, auch wenn ihr sie nicht sehen könnt.’ Die Schleifersfrau bedankte sich bei der Spinkerin und entlohnte sie so gut sie konnte. Als sie wieder allein war, überlegte sie, was sie den Kobolden auftragen wollte. Immer wieder dachte sie daran, wie die Menschen auf dem Markt sie verhöhnt hatten, und wie sie sich sogar gegenseitig beschimpft hatten. Und dann fiel es ihr plötzlich ein. ‚Ihr Kobolde’, rief sie, ‚stiftet die Menschen, die in die Stadt kommen, dazu an, dass sie freundlich und geduldig und verständnisvoll miteinander umgehen!’
„Der Schleifer sprach an diesem Tag nicht mehr mit seiner Frau über diese Sache. Er wollte endlich einmal ein paar Stunden von alledem seine Ruhe haben. Wie erstaunt war er, als am nächsten Tag alle seine geschliffenen Messer wieder ganz scharf waren. Da erst ließ er sich von seiner Frau erzählen, was für eine Aufgabe sie den Kobolden gegeben hatte.“
„Großvater“, fragte Jörg, „wie haben die Kobolde denn das gemacht, dass sie die Menschen angestiftet haben?“ „Ja, Junge,“ antwortete der Großvater, „das würde ich gar zu gerne auch wissen.“ „Und haben die Kobolde dann nichts mehr angestellt?“ fragte Jörg weiter. „In der Wassermühle wohl nicht“, antwortete der Großvater, „aber andere Kobolde haben ihr Unwesen in der Burg hinter den Wupperbergen getrieben.“ „Opa, bitte erzähl mir auch noch diese Geschichte!“ „Ja, morgen“, sagte der Großvater, „jetzt müssen wir uns sputen, nach Hause zu kommen, du weißt doch, deine Mutter mag es nicht, wenn wir zu spät zum Essen kommen.“
 

Vera-Lena

Mitglied
freue mich

Liebe Stephanie,

es freut mich, dass Du Spaß daran hattest. Danke fürs Lesen und für Deine Antwort!:)

Liebe Grüße Vera-Lena
 
K

Klopfstock

Gast
Eine Lebensaufgabe, mit wenig Aussicht auf Erfolg ;) -
die Menschen anstiften, daß sie freundlicher, geduldiger
und verständnisvoller miteinander umgehen......wie aussichtslos für die kleinen Wichte - kein Wunder, daß
keiner mehr Zeit hatte auf die Messer zu spucken ;)

DANKE, liebe Vera-Lena für diese zauberhafte Geschichte
die mir viel Spaß beim Lesen gemacht hat.

Dir einen schönen Abend
und mögen Dir Deine Kobolde
wohlgesonnen sein

Liebe Grüße
von Irene :)
 

Vera-Lena

Mitglied
Lebensaufgabe

Liebe Irene,

wenn alle Menschen damit beschäftigt wären, sähe es in der Welt auch anders aus.;)
Ja, die kleinen Kerle sind mir irgendwie wohlgesonnen, das kann ich nicht anders sagen, sonst hätten sie mir doch nicht dieses Thema präsentiert.
Es freut mich, dass es Dir gefallen hat.:) Danke fürs Lesen und für Deine liebe Antwort!

Mögen alle guten Geister auch um Dich sein.
Liebe Grüße von Vera-Lena
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
klasse!

ein echtes märchen, sehr gut erzählt, alles zum anfassen nah. wo bleibt die geschichte von dem schloss? diese hier hat sich jedenfalls einen platz in meiner sammlung Lupengold erobert.
ganz lieb grüßt
 

Vera-Lena

Mitglied
Märchen

Liebe Flammarion,

das freut mich, dass Dir diese Geschichte so gut gefällt. Die Frage nach dem Schloßmärchen ist natürlich berechtigt. Ich empfinde es leider als quälend, längere Sachen zu schreiben, weil ich nicht abschalten kann. Wenn ich dann das Essen koche, formuliert sich in meinem Kopf alles weiter. Wenn wir dann gegessen haben, ist alles noch wörtlich da, so dass ich es nur eintippen muss, aber ich war dann auch die ganze Zeit damit "besetzt". Deshalb wollte ich eigentlich nur noch Gedichte schreiben, weil die immer so schnell fertig sind und ich dann innerlich wieder frei bin. Aber wer weiß, man bleibt seinen Vorsätzen ja nicht immer treu.

Es gibt von mir noch ein Märchen in der LL das heißt :"Das Äolische Lied" und steht im Forum "Erzählungen". Man findet es sicher über die Suchfunktion. Vielleicht hast Du ja auch Freude daran.

Ich danke Dir herzlich für deine Antwort und wünsche Dir gute Fortschritte bei Deinen Memoiren.

Liebe Grüße Vera-Lena
 



 
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