Das Gewächshaus

Seize

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Erschöpft wischte sich Leon nach einem arbeitsreichen Tag den Schweiß von der Stirn und nahm seinen Sohn Theo auf den Arm. Sein Blick schweifte über die zerfallenen Häuser des Dorfes. Als es nach der Klimakatastrophe zu kalt geworden war und der Boden die Bevölkerung nicht mehr ernähren konnte, waren die Menschen nach Süden geflohen. Für Sie war der Ort mit der großen Gärtnerei dagegen zu einem Glücksfall geworden. Das Metallgerüst des Gewächshauses war noch brauchbar und aus den Trümmern der umliegenden Ruinen hatten sie sich eine Existenz aufgebaut.
„Das alles haben wir für dich geschaffen. Während andere Tag für Tag ums Überleben kämpfen, können wir in unserem Gewächshaus fast das ganze Jahr Essen anbauen.“, erklärte er Theo stolz. Viel Zeit, Schweiß und Blut hatten er und seine Frau Amelie investiert, um die Scheiben zu ersetzen und irgendwie am Gerüst festzumachen. Immer wieder waren sie dafür ins verlassene Dorf gegangen und hatten nach brauchbarem Glas, oder zur Not auch Scherben gesucht. Jetzt hingen überall Klebebandfetzen unterschiedlichsten Farben herunter. Die Scheiben passten nicht, standen über und ergaben seltsame Formen. Das Licht der untergehenden Sonne brach sich uneinheitlich an den verschiedenen Glasarten, erzeugte diffuse Lichtspiele auf der Erde und tauchte die Pflanzen in ein unwirkliches Licht. Heute hatten sie wieder eine Ernte einbringen können. Damit war gesichert, dass sie sich auch weiterhin selbst versorgen konnten.
Plötzlich störten dröhnende Geräusche aus der Ferne die sonst übliche Stille. Leon drehte sich überrascht um und beschirmte die Augen vor der Sonne. Er konnte nur eine große Staubwolke erkennen. Genau vor dem Moment hatte er sich die letzten Jahre gefürchtet.
„Amelie! Amelie, wo bist du?!“, rief er seine Frau, die wenige Momente später aus der Tür des Hauses trat. Auch sie hörte den nahenden Lärm und schlug sich entsetzt die Hand vor den Mund.
Er rief ihr zu: „Schnell, nimm Theo und versteckt euch im Haus. Ich warte hier, vielleicht ist es auch ganz harmlos.“, versuchte er sie zu beruhigen.
Schluchzend packte Amelie den kleinen Theo und floh mit ihm ins Innere während Leon gebannt auf die immer größer werdende Wolke blickte. Der undefinierbare Krach wurde zu Motorgeräuschen. Jetzt konnte er auch einen Lastwagen, Buggys und Quads erkennen, die mit hoher Geschwindigkeit auf ihn zurasten. Er erkannte furchteinflößende Gestalten in dunkler Kleidung, die alle rote Halsbänder über Mund und Nase sowie Staubbrillen trugen. Sie bremsten scharf vor ihm, stiegen von Ihren Gefährten, kamen ganz nah auf ihn zu und lachten wie irr. Leon wurde übel vor Angst als auch noch die ersten Waffen gezogen wurden. Ein Angreifer trat vor ihn und schlug ihn mit einem Schlagring nieder.
Als Leon wieder zu sich kam, war er gefesselt und die Sonne untergegangen. Über ihm stand ein Mann im Schein mehrerer Fackeln. Er trug das Tuch locker um den Hals und zeigte ein zahnloses Grinsen. Panisch blickte sich Leon um. Endlich erkannte er wenige Meter von ihm entfernt seine Liebsten, vor Angst zitternd, aber am Leben. Dann erst spürte er den Schmerz und den metallischen Geschmack im Mund. Er spuckte dem Mann Blut und einen abgebrochenen Zahn vor die Füße.
„Weißt du, dass man sich überall von einem Haus des ewigen Sommers erzählt?“, begann dieser zu erzählen.
„Ein Ort, an dem der Winter besiegt wurde. Wo dem kargen Boden genug abgerungen werden kann, um das ganze Jahr über nicht hungern zu müssen. Ich habe nicht daran geglaubt. Dachte es ist eine dieser Legenden, die verzweifelte Menschen erzählen. Die wenigen Farmer die geblieben sind, fressen ihre Ernte noch bevor sie richtig reif ist. Halb verhungert sitzen sie vor den abgeernteten Feldern. Wenn wir vorbeikommen haben sie nichts übriggelassen. Meine Männer wurden immer drängender und hungriger, also suchten wir diese Oase. Uns war klar, wenn wir dieses Schlaraffenland finden, dann erwartet uns Essen im Überfluss. Aber mit dir und diesem Flittchen hatte ich hier nicht gerechnet. Wie geht es dir, Leon? Wie ich sehe hast du mit meiner Frau schon einen kleinen Balg. Wie fürsorglich von dir, dass er genügend zum Essen bekommt, während wir anderen hungern. Das sieht dir ähnlich, du hast dich noch nie darum geschert, wie es uns anderen geht! Dir ging es schon immer nur im dich!“
Der Angreifer trat Leon in die Rippen. Leon stöhnte unter Schmerzen auf und spuckte wieder Blut. Fieberhaft überlegte er, was er tun könnte. Er musste Zeit gewinnen.
„Hallo Ramon, hätte nicht geglaubt dich wiederzusehen. Ich hatte gehofft, dass dich irgendwer umbringt, um sich selbst zum Chef aufzuschwingen. Es geht uns ziemlich gut, aber wem sage ich das. Wenn ich euch so anschaue, dann ging es euch auch schon schlechter. Was kann ich tun, damit ihr weiterzieht und uns in Frieden lasst? Wir teilen mit euch, ihr bekommt so viel Essen wie ihr tragen könnt und wir kommen mit dem Rest zurecht.“
„Was meint ihr, meine Freunde?“, rief Ramon in die Menge.
„Sollen wir den lieben Leon und seine Brut in dieser Bruchbude wohnen lassen, bis ihnen die Decke auf den Kopf fällt?“
Die Menge brüllte, klatschte und klopfte mit den Fäusten auf das Blech ihrer Fahrzeuge. Leon sah drohende Gesten, während sein Blick über die Menge zum Gewächshaus schweifte. Schließlich hielt er am Wohnhaus inne. Die Wurzeln nahestehender Bäume hatten das Fundament geschwächt und das Mauerwerk hatte Risse bekommen. Der Putz war abgefallen und der Dachstuhl war an mehreren Stellen eingebrochen. Die Fensterscheiben hatten sie ausgebaut und die Löcher zugemauert, teilweise auch nur mit Planen verhängt. Wichtiger war das Gewächshaus gewesen, erst danach hatten sie sich um das Haus kümmern wollen. Dann blickte er wieder zu Ramon.
„Ich denke, dass seine Untreue zu schwer wiegt. Er ist desertiert, hat uns im Stich gelassen und ist mit meiner Frau durchgebrannt. Er hat nur an sich gedacht, nie an uns und er hat meiner Frau einen Bastard untergejubelt.“
Voller Abscheu schaute Ramon zu Amelie und Theo.
„Nein Leon, ich denke nicht, dass wir damit einverstanden sein können, wenn wir das Essen mit dir teilen müssen.“
Zur Bande brüllte er mit erhobener Faust: „Ladet alles Essbare auf!“
Die Bande lief johlend und schreiend in alle Richtungen davon und lud alle Vorräte in die Wagen, bis diese bis oben voll waren. Grauenerfüllt sah Leon zu, rührte sich aber nicht. Er kannte Ramon und wusste, dass er die Farmer in Ruhe ließ, wenn sie ihm keine Scherereien machten. Denn wenn er die Farmer am Leben ließ, konnte er wiederkommen und neue Beute erwarten. Von toten Farmern war dagegen nichts mehr zu holen. Darauf musste er hoffen. Das war die einzige Chance. Sie hatten die frostige Erde schon einmal bezwungen und würden es erneut tun, wenn sie nur den heutigen Tag überlebten.
„Da siehst du was dir deine Untreue eingebracht hat. Wie willst du jetzt deine kleine Familie ernähren? Wieso baust du auch so etwas spektakuläres? Die ganze Region spricht darüber. Es war doch klar, dass wir so einer Geschichte nachgehen würden und wie wir dich dann für deinen Verrat bestrafen.“
Ramon grinste böse, dann zerrte er Theo von Amelies Arm und schleuderte ihn weg. Er schleifte Amelie zu seinem Wagen. Über die Schulter rief er: „Aber ich entlaste dich und nehme zurück was mir gehört, dann hast du schon ein Maul weniger zu stopfen.“
Er warf Amelie auf den Rücksitz zwischen Getreidesäcke und lose Rüben.
„Brennt alles was wir nicht brauchen nieder! Und reißt dieses Glashaus ein, ich kann es nicht mehr sehen!“
Darauf hatte die Bande gewartet. Sie packten die Gewehre, zogen Pistolen aus den Holstern und feuerten aus allen Rohren. Kleine Scherben schwirrten durch die Luft und glitzerten im Fackelschein. Größere Scherben flogen wie Geschosse umher und Fackeln wurden auf die Vorräte geschleudert. Leon geriet in Panik. Er musste Amelie befreien und Theo beschützen und die Bande daran hindern alles zu zerstören was sie sich mühsam aufgebaut hatten. Er quälte sich auf die Beine und versuchte trotz der Fesseln zu den Wagen zu gelangen. Bereits der erste Angreifer trat ihm die Füße weg und wieder erhielt er Tritte und Schläge. Benommen blieb er liegen und nahm wie durch einen Schleier wahr, dass Ramon zum Aufbruch rief. Weinend wollte Theo zu seiner Mutter laufen. Ramon packte ihn am Genick, hielt die Pistole an seinen Kopf und rief: „Tut mir leid Kleiner, für Bastarde von Verrätern haben wir keinen Platz!“
Dann drückte er ab und beendete das junge Leben. Für Leon war das ein furchtbarer Schock. Er fühlte sich wie betäubt und spürte die Tränen nicht, die ihm die Sicht auf die abziehenden Plünderer nahmen. Ramon schrie ihm noch entgehen: „Sei doch froh! Jetzt kannst du wieder ungestört nur an dich denken, bis du in dieser kalten Hölle elendig verhungerst!“ Irgendwann wurde es still und nur die letzten Flammen vom heruntergebrannten Gewächshaus knisterten und spendeten Licht. Er robbte zu seinem Sohn, wollte ihn in den Arm nehmen, aber die Fesseln hinderten ihn daran. Hektisch sah er sich um. Dann sah er endlich eine große, rote Scherbe am Boden liegen. Sie hatte einmal zu einem Buntglasfenster in der Dorfkirche gehört und war eine der letzten Scheiben die er ins Gewächshaus eingesetzt hatte. Er durchtrennte seine Fesseln an den scharfen Kanten und wiegte seinen toten Sohn liebevoll, während ihn die Trauer übermannte.

Nachdem er Theo im Garten neben dem Gewächshaus begraben hatte, bastelte Leon aus der roten Scherbe, Klebeband, Metall und seinem Fesselstrick einen improvisierten Dolch. Er schwor seinem Sohn erst wieder zur Ruhe zu kommen, wenn er seinem Mörder diesen Glasdolch durchs Herz getrieben und seine Mutter befreit hatte. Danach ging er ins Nachbargebäude, dort hatte er sein früheres Leben deponiert. Er holte seine schwarze Lederjacke, den Helm und die Staubschutzbrille. Das rote Halsband verbrannte er. Dann startete er sein Motorrad und fuhr zu dem ihm bekannten Unterschlupf der Bande.
 



 
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